Seit 1979 steht auf Seite 2 der Verlagsvorschau das »Editorial«. Das ist ein Ritual. Schon früh kommen die Wünsche der Verlagsabteilungen an den Verleger, was er darin herausposaunen soll. Aber der stellt sich taub gegen alle merkantilen Einflüsterungen. Bis 24 Stunden vor der allerletzten Deadline weiß niemand, was darin stehen wird, auch nicht der Schreiber. Etwa drei Stunden vor Torschluss liegt es dann auf allen Pulten. Umgehend wird es zerzaust, verändert, geschliffen, verfreundlicht, und ab geht die Printdatei an den schon verzweifelnden Drucker. Manchmal kräht danach kein Hahn, hin und wieder schlägt es Wellen. Es habe aber treue Leser, sagt man.
»Jedes Mal, wenn wir unser neues Programm vorstellen, hoffen wir, dass zum Leser durchschlägt, was uns beim Büchermachen von Saison zu Saison in Trab hält. Dazu gehört der Reiz, eingeführte Themen zu vertiefen, die Entdeckerlust, auch neue Bereiche zu erschließen, und dann das Vergnügen, hin und wieder mit Überraschungen aufzuwarten.«
»Weil ja bekanntlich in unserer Branche zurzeit eher die Hoffnungslosigkeit vorherrscht, wollen wir uns für einmal antizyklisch verhalten und Ihnen einige erfreuliche Nachrichten aus unserem Verlagsleben mitteilen.«
»Wie zufällig finden sich in diesem Herbstprogramm mehrere Titel, die ihren kleinen Beitrag an die Erkenntnis unserer globalen Überlebensprobleme leisten wollen. Es wäre zu schade, wenn die Ideen nur im Gänsemarsch vorankämen!«
»Während Ihnen von Weihnachtsverkauf und Inventur noch der Kopf brummen dürfte, grübeln wir über der trefflichen Präsentation unserer Frühjahrstitel. Wir sitzen an unseren Schreibmaschinen, entwerfen und verwerfen Klappentexte, schreiben sie wieder neu, kauen an Streichhölzern, Zahnstochern und Zigaretten, und langsam bekommt auch unser Frühjahrsprospekt Konturen. Gleichzeitig verbreiten die eingehenden Rezensionen und Vertriebslisten des letzten Herbstes stilles Glück.«
»Diesmal sind vier Titel von einem gemeinsamen Leitmotiv getragen: Leben im Hexenkessel, Überleben in den Trümmern von ›Normalität‹. Sie werden hier Autoren aus allen Kontinenten finden, bekannte und (hierzulande) noch nicht bekannte, hochstehendes Lesefutter gegen den Lesehunger. Bitte geben Sie auch den weniger eingeführten Autoren eine gute Startchance. Wir garantieren im Gegenzug, dass wir jeden Titel auf die Waagschale legen.«
»Stellen wir uns vor: Ein Ägypter hat das Dynamit erfunden, und das Nobelpreiskomitee sitzt in Kairo. Im Laufe der Jahrzehnte hat es zahlreiche Autoren von Weltrang ausgezeichnet: Chinua Achebe, Mulk Raj Anand, Nadine Gordimer, Yaşar Kemal, Pramoedya Ananta Toer, Ngugi wa Thiong’o, Adonis, Tahar Ben Jelloun, Ba Jin ... Als Dürrenmatt 1971 seinen Preis bekam, jubilierten die Feuilletonisten von Rabat bis Rangoon, denn er wird in ihren Theatern gespielt. Nicht einmal bei Graham Greene (1968) gab es Misstöne, denn in Europa geschätzte Autoren werden in der Dritten Welt geachtet.
Der Traum platzt. Den weltumspannenden Olymp der Weltliteratur gibt es nicht. Aber seien wir dankbar – den unberechenbaren Herren der Stockholmer Akademie wie auch den Opponenten und Mäklern ihres Entscheides. Denn durch die Nobelpreisverleihung dieses Jahres kam endlich eine lange unterdrückte, unterschwellige aber unaufschiebbare Konfrontation an den Tag. Die Debatte ›Was ist Weltliteratur?‹ hat die Spitzen des Feuilletons eingeholt. Hoffen wir, dass sie lange und intensiv weitergeführt wird.
Auch zu Machfus herrschte jahrelang selten gebrochenes Schweigen, bis nach jenem Donnerstag das große Interesse samt Pro und Contra ausbrach. Gratulation also jenen Buchhändlern, die seit 1985 ihr angestaubtes Lagerexemplar nicht zurückgeschickt hatten. Dank vor allem jenen Leserinnen und Lesern, die zur Midaq-Gasse gleich nach Erscheinen das Wort ergriffen auf den Leserkärtchen, die jedem Exemplar des Romans beilagen. Diese Stimmen sind Signale dafür, dass es an den Lesern nicht liegen kann, wenn nur das Buch durch die Nadelöhre von Vertrieb und Feuilleton den Weg zu ihnen gefunden hat. Leser sind von Natur aus neugierig. Zu Recht, denn jenseits der Grenzen eingesessener, einheimischer Autoren und Bücher wartet ein Lustgarten der Literatur darauf, entdeckt zu werden.«
»Die Kids entdecken den Cashmere-Pullover, die engagierten Leser das schöne Buch, und die Drittweltverlage das Hardcover – sowie die Überlebensregel, dass ein Buch auch über dreißig Mark kosten kann, oft muss. Wenn wir die ersten Bände von ›Dialog Dritte Welt‹ aus dem Archivgestell holen, schämen wir uns hin und wieder, Reichtümer so armselig verpackt zu haben. Die Emanzipation findet statt. Für uns bedeutet sie diesen Herbst, Abschied von ›Dialog Dritte Welt‹ zu nehmen, einem Kind, das flügge geworden ist. Das Laufgitter ist einengend geworden. Die Neuerscheinungen, die Sie bisher dort suchten, werden sich künftig frei und ohne Etikett in unserem allgemeinen Programm tummeln.«
»Wir wagen einen Schritt, über den wir seit Jahren nachgedacht haben. Wir präsentieren keine neuen Bücher. Sie wissen, in welchem Tempo unsere Branche von Saison zu Saison hastet. Die Frühjahrsbücher sind noch nicht erschienen, da eilt es schon mit den Manuskripten für den Herbst, und die Planung für den nächsten Frühling ist längst überfällig. Zu oft erlebten wir unsere und vieler Kollegen Arbeit als permanente Atemlosigkeit, immer unter der Drohung ohnehin bereits überschrittener Termine. Dieses Teufelsrad wollten wir für einige Augenblicke anhalten. Mit einer Atempause. Dieses Frühjahr bleibt blank, wir wollen in Ruhe vorausarbeiten. Auch das ist kein Zuckerschlecken. Aber wir widmen uns mit größerer Gelassenheit den Plänen für den Herbst und die weitere Zukunft.«
»Wir sind überrascht und glücklich über all die Unterstützung, die die Pause gefunden hat. Über all die Briefe und Grüße, die Schaufensterfotos, die solidarischen Stoßseufzer und über die lebensspendende Form der Zustimmung: Ihre vielen Bestellungen auf die Backlist. Die ökonomische Katastrophe blieb aus, das große Vergessen des kleinen Verlages fand nicht statt. Pause ist machbar, gute Bücher haben langes Leben. Was zu beweisen war. So legen wir Ihnen denn mit der gewohnten erwartungsvollen Unruhe die neue Taschenbuchreihe vor.
»Auf eine Riesenpauke möchte man hauen, dass es ganz still wird in der Branche. Mit einem Zauberspray für einen Augenblick alle anderen 80’000 Neuerscheinungen unsichtbar machen. Mit einem geheimen literarischen Lockton alle Kritiker aufhorchen lassen: ›Alle Aufmerksamkeit, bitte, für eine Entdeckung!‹ Es geht um Juri Rytchëu und um einen literarischen Kosmos, der geografisch fern und gleichzeitig traumhaft nahe ist. Um ein Buch, das kein Verkaufsargument mehr braucht, wenn man es gelesen hat.«
»Seit 1. April hausen Limmat Verlag und Unionsverlag in den gleichen Räumen und üben frohen Mutes die Bürogemeinschaft von der Kaffee- bis zur Frankiermaschine. Dieser Zusammenschluss ist keine der üblichen Reißbrett-Fusionen in unserer Epoche des Aufkaufs und Ausverkaufs im Verlagswesen. Unser Konzept ist geprägt von der Reife des mittleren Lebensabschnitts (der Verlage wie ihrer Veteranen): Man weiß um den Wert individueller Prägungen. Ein gutes Verlagsprogramm ist wie ein klassisches Parfüm. Es lebt von seinem unverwechselbaren Duft. Wer käme auf die Idee, Chanel 5 und Chanel 19 zu mischen? So behalten beide Programme ihr Gesicht.
Derweil lernen wir, wie man stürmisch abgehende Taschenbücher lieferbar hält. Klein, fein und verkäuflich – wir disponieren, kein Jahr nach dem Start, die dritten und vierten Auflagen. Denken Sie ans regelmäßige Nachbestellen? Über die Vertreter, via Fax oder Datacap ... Ihre Jahreskondition ist bei BDK fest gespeichert.«
»Eine Frage lastet zurzeit auf Gewissen und Gemütern. Wohin mit den alten Büchern? In den Gewölben zu Affoltern am Albis lagern einige Tausend schöne, gute Bücher besten Inhalts, aber es sind hoffnungslos zu viele, wir müssen reduzieren. Die modernen Antiquare wollen sie nicht. Den Autoren und Erben haben wir schon geschenkt, so viel sie wollten. Man wirft kein Brot weg, man verbrennt keine Bücher. Sie brennen übrigens gar nicht, wegen der Plastifizierung kostet die Entsorgung 200 Franken pro Tonne.
Ist das wirklich nur unser Problem? Wenn man Kollegen fragt: meist nur Achselzucken. Offensichtlich gehört das zu den Dingen, über die man nicht spricht. Wir bringen es nicht übers Herz, das Abfuhrwesen zu rufen. Wir starten die ›Aktion Mauerblümchen‹. Wer hat eine rettende Idee?«
»Im Leben jedes Lesers gibt es eine Handvoll Bücher, denen er ganz besonders dankbar ist. Erstens sind das jene, die uns mitten aus der stillen Lektüre laut herauslachen lassen, zum Beispiel Die Zivilisation, Mutter. Zweitens sind das jene, die einen weinen machen. Da sei zum Beispiel weiterempfohlen Yaşar Kemals Lied der Tausend Stiere.
Aber drittens, man muss Büchern auch dankbar sein, wenn man sie kaum ertragen kann. Die schmale Erzählung Susana handelt vom realen Horror, wie er in allen Kontinenten, auch in unserem, geschieht. Dieses Buch macht jeden Leser immer wieder zum Opfer, solange es irgendwo auf dieser Welt Folter gibt. Es löst in uns einen (nur ganz kleinen) Teil jenes Schreckens aus, gegen den es anschreibt – als letztes Mittel dagegen.
Ein Tipp: Wir knausern nicht mit Leseexemplaren. Schreiben Sie uns ungeniert, welches Buch Sie zum Lachen, Weinen, Vergessen, Erinnern oder schlicht zum Lesen brauchen.«
»Kollege A hat seinen langjährigen Mäzen verloren. Verlag B ist mit seinen Taschenbüchern bei einem Konzern untergeschlüpft. Verlag C hängt am seidenen Faden einer ungewissen Bankgarantie. Dem Kollegen D haben die Manager den Verlag unterm Stuhl wegverkauft. Menetekel! Verlage unserer Art leben auf dem Nagelbrett.
Dieser Verlag begann 1987 mit 2000 Franken Startkapital. 1987 steckten wir lebensgefährlich in den roten Zahlen. Seither wechseln die besseren Jahre mit den schwierigen. Wenn wir existieren, dann durch eine schmerzliche Erfahrung. Es braucht nicht nur die Großen L’s: Lust, Liebe, Leidenschaft und Lotterie. Es braucht auch die Kleinen K’s: Konzentration des Programms, Kontrolle der Kosten, Keinen Mäzen, Kühlen Kopf, Kalkulation. Keiner gibt uns Taschengeld. Auf diese Weise leben wir ohne Komfort und Konzern, frei und gefährlich. Nun aber rein in die nächste Saison: Mit beiden Füßen fest auf dem fliegenden Teppich, auf und davon mit einem Packen schönster Literatur, so weit die Luft trägt.«
»Yaşar Kemal feiert dieses Jahr seinen 70. Geburtstag. Glück beim Schaufensterwettbewerb vorausgesetzt, wird er Sie durch Istanbul führen. Mit seinen Augen gesehen, werden Sie die Stadt nicht wiedererkennen und nicht mehr vergessen.«
»Ohne sie wären wir einsam. Hochachtung vor diesem Beruf! Cowboy und Literat zugleich muss man sein, feinsinnig und robust, um als Vertreter durchzuhalten. Mit schweren Mappen bei Wind und Wetter durch die Fußgängerzonen und über die Landstraßen, Termine erkämpfend und einhaltend, die guten Argumente stets zur Hand und die schöne Literatur im Kopf. Und im Hinterkopf den Vorjahresumsatz, die Remissionsquote, die Rabattgruppe und die literarischen Vorlieben der Einkäuferin und ihres Stammpublikums. Und den Namen ihres Hundes.«
Zum vollständigen Editorial mit dem Lob aller Vertreter
»Zweimal im Jahr brüten Tausende von Lektoren über Zehntausenden von Klappentexten, Klappertexten, Plappertexten, Schlabbertexten ... Das sind die Wochen, in denen es muffelt in der Verlagslandschaft. Die Zubereitung von Klappentexten ist allenfalls zu vergleichen mit der Zubereitung von Würsten. Aus unedlen Ingredienzen entsteht mittels geheimer Techniken, unappetitlich anzuschauen, hin und wieder ein würziges Produkt. Man sollte dabei Türen und Fenster schließen, aber wir wollen sie ein Spältlein öffnen. Beim Klappentexten gelten in unserem kleinen Hause folgende Regeln ...«
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»Vor allem natürlich an jenem schwarzen Freitag, als das Attentat auf Nagib Machfus geschah. Aber auch, als Yaşar Kemal an der Spitze eines Protestmarschs nach Ankara zog, Seite an Seite mit Aziz Nesin, dem erst vor Kurzem der Staatsanwalt mit der Todesstrafe drohte. Mahmud Doulatabadi wurde in den letzten Wochen mehrfach einvernommen. Scharnusch Parsipur war mehrfach in Haft. Assia Djebar und Rachid Boudjedra können nur unter Lebensgefahr algerischen Boden betreten. Pramoedya Ananta Toer steht in Indonesien seit Jahrzehnten unter Hausarrest. Giuseppe Fava wurde in Sizilien vor seinem Theater von der Mafia erschossen. Dies ist nur die kurze Liste unseres kleinen Verlages.
Viele der Autorinnen und Autoren, denen wir und Sie die großen Romane verdanken, schreiben und leben unter Einsatz nicht nur ihrer Freiheit, sondern auch ihres Lebens. Man vergisst es so beschämend leicht mitten in den kleinen Sorgen des Betriebsalltags. Und hinter jedem Autor, jeder Autorin, von deren Gefährdung wir erfahren, stehen zu Tausenden die Leserinnen und Leser, die Zeitungen, die Kritiker, die Verlage, die Buchhandlungen und alle anderen, deren Namen nicht zu uns dringen.«
»Wenn Sie zu jenen gehören, die unsere Bücher ›schön‹ finden, dürfen Sie auch wissen, dass hinter der Schönheit harte Arbeit steckt. Nach der Lektüre der Manuskripte stehen auf Heinz Unternährers Zettelchen Bild-Stichworte wie ›weiße Taube‹, ›blondes Haar‹, ›Maulbeerbaum‹, ›Kaffeetasse‹. Stapel von Fotozeitschriften, Bild- und Kunstkataloge hat er im Archiv und in seinem Bildgedächtnis. Er kontaktiert Künstler und Fotografen, sucht weltweit Bildbände aus dem Iran, trägt wochenlang einen Walrosszahn im Plastiksack zwischen Verlag, Fotograf und Lithograf hin und her.
Aber die Buchkunst ist ein dienendes Gewerbe. Natürlich will jeder im Hause das Beste für jedes Buch. Bei so vielen Dienern gibt es natürlich auch Streit in der Küche. Oft hätte um ein Haar das Buch, das Sie sich hoffentlich gar nicht anders vorstellen können, ganz anders ausgesehen. Diese Saison dürfen Sie in die Pfanne gucken.«
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»Kleinbuchhandlung Meier hat von Roy Lewis’ Edward in den ersten acht Monaten über 300 Stück verkauft. Hochgerechnet auf die Branche ergäbe das eine gute Million, wenn ... Buchhändler Müller zurzeit sein Heil nicht darin sähe, nur das einzukaufen, was er mit unumstößlicher Sicherheit mindestens zwanzigmal verkaufen kann. Dafür empfängt Buchhändlerin Schmidt nun wieder den Vertreter, nachdem sie aus Zeitnot vor einem Jahr abgesagt hat, aber aus Informationsmangel viermal mit ihm telefonierte. Und Buchhandlung Schwarz hat neuerdings die Taschenbuchreihe infolge wiederholter Kundennachfrage wieder im Sortiment, nachdem ihr Warenwirtschaftssystem vor sechs Monaten wegen Nichterreichens der Sockelumsatzzielvorgabe die Nachbestellung verweigert hat.
Mitten im Schlachtenlärm von Pro und Kontra, Prozenten, Konzepten und Konkursen stellen wir überrascht fest, dass wir das millionste Taschenbuch verkauft haben. Ohne Displayboxen, Drehtürme, Sägezähne und ähnliche Marketinglisten.«
»Unsere Branche ist in Gefahr. Um den Zerfall geistiger und materieller Werte im Verlagswesen aufzuhalten, braucht es neue Kreativität. Wie in der Softwarebranche findet auch im Verlagswesen schöpferische Leistung und höchste Wertschöpfung in den Bereichen statt, wo sie zunächst keiner erwartet. Wir schlagen deshalb vor, eine jährliche Auszeichnung zu verleihen für die überraschendsten Leistungen in der Buchbranche: den Blindband in Gold, Silber und Bronze. Wir schlagen der Jury auch gleich die ersten Preisträger vor.«
Zum vollständigen Editoral mit der Bekanntgabe der Preisträger
»Wer hätte gedacht, dass nun auch der hohe Norden als literarischer Kontinent entdeckt und erfolgreich würde? Ein Autor wie Juri Rytchëu hat inzwischen eine Auflage von über 140’000 Exemplaren erreicht. Aber diesmal würde das Reden nur über Literatur ein Schweigen über so manchen Schrecken des Vertriebsalltags einschließen. Bei allen Buchhändlerinnen und Buchhändlern, die im letzten Jahr beim Bestellen unserer Bücher viel Unbill erlitten haben, möchten wir uns entschuldigen.«
»In diesen Maitagen fährt das Verlagsleben mit uns eine heitere Achterbahn. Worüber schreiben? Über den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Yaşar Kemal - den Autor, der uns seit den ersten Tagen begleitet? Über die neue junge Reihe ›Sansibar‹, die in Kooperation mit dem Sauerländer Verlag einen alten Traum erfüllt? Über das runde Hundert unserer Taschenbuchreihe und die feinen wohlfeilen Sonderausgaben in limitierter Auflage? Über das so unzeitgemäße Ansinnen an Sie, liebe Buchhändlerin, lieber Buchhändler, Ihren Einkaufsetat für unser Programm in diesem heißen Herbst zu verdoppeln?«
»Unter den Menschen, mit denen wir täglich zusammenarbeiten, gibt es eine besonders leidenschaftliche und leidgeprüfte Spezies. Nach festem Plan schaffen sie Tag für Tag ihr Soll an Seiten. Sie rennen in die Bibliothek, um einen türkischen Seemannsfluch, eine arabische Hirsesorte, ein kirgisisches Steppengras nachzuschlagen. Sie recherchieren im Internet, ob im Norden Kanadas die Hütten nun mit Bretterwegen oder Knüppelpfaden verbunden sind. Um das rechte Wort für das Zerschellen eines Glases zu finden, werfen sie eines an die Wand. Die Leserschaft, die Rezensenten aber sehen oft durch sie hindurch und über sie hinweg. Sie sind Künstler, und der Unionsverlag zum Beispiel wäre ohne sie ein Nichts.«
Zum vollständigen Editorial über die Übersetzer
»Den weiten Himmel suchen wir in diesem Herbst im Pazifik. Die neueste der neuen Literaturen ist zu entdecken: jung, erfrischend frech, auf reichen Traditionen gegründet. Wieder warten wir auf Ihre Reaktionen. Ob sie so unterschiedlich ausfallen wie im Frühjahrsprogramm? Begeisterung, Entsetzen, Schimpfen, Loben, Toben - jede Stimme ist uns lieber als dröhnendes Schweigen rund um ein Buch, das niemandes Emotionen weckt. Über Bücher gestritten ist immer gut gestritten!«
»Ohne die Lust am Verschenken gibt es bei Büchern kein Glück beim Verkaufen. Drum verschicken auch wir Jahr für Jahr Tausende von Leseexemplaren, Rezensionsexemplaren und sonstigen Lock-Exemplaren. Offensichtlich gehört es zu den Regeln, dass ein neues Buch lanciert wird wie eine neue Zigarettenmarke: durch exzessive Streuung von Gratismustern.«
»Die guten Bücher liegen buchstäblich auf den Straßen dieser Welt. Vorausgesetzt, man bewegt sich abseits der Trampelpfade. UT metro – das heißt vor allem: weltumspannende Spannung. Nur eine Regel gilt: Niveau und das, was die Angelsachsen wohltuend unbekümmert einen ›good read‹ nennen.« So Thomas Wörtche zum Start der von ihm herausgegebenen Reihe.
»Nie aufs Schreiben verzichten, wenn man eine Frau ist und aus dem Süden. Die Kontinente hören, das unendliche Schweigen seit Generationen. So wird für uns das Schweigen eines Romans zu einem Neubeginn.« Assia Djebar
»Ein Verlagsjahr, wie es 2000 war, editorial zu würdigen, ist nicht leicht. Eigentlich kann man sich nur rundum verneigen und dankbar einen Knicks machen. Hin und wieder ließ ein gutes Geschick über Autorinnen und Autoren, die wir schätzen und pflegen, Blitze von Ruhm und Ehre aufleuchten. Dieser Segen begleitete unser kleines Haus durch seine heiteren wie seine härteren Jahre. Ein ganz besonderes Hallo deshalb an all jene, die das Verborgene schon suchen, bevor die Scheinwerfer angeknipst werden, und auch dann noch hinschauen, wenn sie wieder abgeschaltet sind.«
»Nur rettungslos rückständige Buchklitschen streben heute noch nach öden einstelligen Umsatzrenditen, im Mittel mehrerer Jahre wohlgemerkt. Wenn schon keine dreistelligen Millionenverluste, dann bitte gleich fünfzehn Prozent. Wer weiß, was der nächste Trend ist? Vielleicht jene Gleichung, wonach ein Verlag dann am wertvollsten ist, wenn innerer (literarischer) und äußerer (Bilanz-)Wert übereinstimmen?«
Zum vollständigen Editorial mit allen Hypes
»Wie kann es so weit kommen, dass wir an der letzten Vertreterkonferenz allen Ernstes überlegt haben, ob wir Ihnen in diesem Herbst acht statt wie bisher sechs Hardcover zumuten können, ohne dass Sie bedauernd weiterblättern, weil Sie Ihr Einkaufsbudget bereits überschritten haben? Gar viele Stapeltitel dieser Saison sind die Ramschtitel des nächsten Jahres. Und hinter dem, was als ›Weglasstitel‹ (Unwort der Epoche!) belächelt wird, steckt immer wieder ein Kultbuch der Zukunft. Dieser Glaube versetzt Berge. Bücherberge.«
»Was wir schon lange sagen wollten: Wenn wir in unserer Vorschau Zahlen nennen, dann sind sie wahr. Wir werden nicht ›Startauflage 50’000‹ brüllen, weil Sie sowieso wissen, dass solche Zahlen in Vorschauen getürkt sind.«
»Der große Realist unter den Vertretern grübelt: Was soll ich jetzt dem Buchhändler sagen, was er weglassen kann aus dem Programm? Ich sag ihm einfach, dass wir diesmal die Streich- und Weglasstitel selbst weggelassen haben. Schreib das so ins Editorial! Das wird gelesen.«
Zum ganzen Rapport aus der Vertreterkonferenz
»Sicher kennen Sie diese Anekdote: Was ist ein Verleger? – 30 % Literat, 30 % Buchhalter, 30 % Advokat, 30 % Werbetexter, 30 % Krankenschwester usw. Und wer es nicht über 100 % bringt, soll erst gar nicht anfangen. Die 30 % Webmaster, die in diesem kleinen Hause noch dazukommen, sind auch nicht zu verachten.«
Zum vollständigen Editorial mit allen Sorgen des Webmasters und einem Lob des Buches
»Natürlich ist für einen Verlag, der seit 1982 arabische Literatur verlegt, der Buchmesseschwerpunkt dieses Jahres ein Vergnügen. Nutzen wir alle in Frankfurt die Chancen, ohne uns zu blamieren. Überholte Konzepte aus der Mottenkiste der europäischen Geistesgeschichte könnten zu allerlei Fauxpas von uns Gastgebern führen.«
Zum vollständigen Editorial mit dem »Arabische-Buchmesse-Knigge 2004«
»Dreißig ist ein dummes Alter. Erst über hundert ist man ehrwürdig, und nur bis zehn ein Springinsfeld. Und den Außenstehenden (sogar den Nahestehenden) ist manchmal schwer zu erklären, was es bedeutet, mit / von / für / trotz einem Verlag zu leben. Dies ist die faszinierendste Branche der Welt, denn sie ist so unberechenbar wie der Leser, der mit seinem Herzen und seinen Instinkten über Wohl und Wehe jedes Buchs entscheidet.«
»In aller Bescheidenheit: In diesem Frühling haben hier drei der eindrücklichsten Inselromane der Weltliteratur zusammengefunden. Unter allen Gefahren und Prüfungen ist die Einsamkeit die schwerste Heimsuchung.«
»Manchmal kommt alles, wie es muss. Leonardo Paduras Weg in die Herzen der Leser ist unaufhaltsam. Manchmal ist es zum Heulen. Ein herausragender Autor der Spitzenklasse, ein fesselndes Buch, beste Rezensionen. Und der Verkauf will und will nicht in Gang kommen. Glück, Leid und Zorn, Höhenflüge der Fantasie und Bauchlandung sind die Ingredienzen der Literatur. Warum sollte es im Verlagsleben anders sein?«
»Wie alle schönen Dinge des Lebens haben auch Vorschauen ihre pikanten Geheimnisse. Eine Vorschau ist ja nicht nur ein Prospekt - sie ist ein strategisches Dokument. Der Schlachtplan für das nächste Halbjahr. Das Schaufenster, in dem Sie unsere Pläne erkennen sollen. Die Himmelsleiter zur erfolgreichen Saison.«
Zum vollständigen Editorial mit allen Pikanterien
»Der Trend zum Zweitbuch im Reisegepäck wächst. Neben dem traditonellen Reiseführer dürfen Sie Ihren Kundinnen und Kunden mit bestem Gewissen ein Buch aus dem Unionsverlag zu seiner Traumdestination empfehlen. Sie werden es Ihnen ewig danken. Denn ein guter Roman, eine Sammlung von Erzählungen oder einführenden Texten ist ein Schlüssel zur Seele eines Landes und seiner Menschen.«
»Es ist wie beim Zirkus: Damit der Trapezkünstler im Rampenlicht das Publikum bezaubern kann, braucht es auch die Zeltarbeiter, die vorher und nachher im Verborgenen ihre Arbeit tun.«
Zum vollständigen Editorial mit den Geheimnissen von Lesereisen
»Es gibt ein Leben vor und nach der Sitzung, aber kein Leben ohne Sitzungen. Wer hätte gedacht, dass Laurent Quintreaus Buch so bestürzend aktuell wird? Weltweit sind die Meetings noch dramatischer geworden. Auch diese Vorschau ist ein Prospekt für Futures. Zu gigantischen Seifenblasen sind wir aber selten fähig. Dafür bleibe uns auch der Crash über Nacht erspart.«
»Unter all den Abgründen, welche die Menschheit in zwei Gruppen teilen (Mann und Frau, Arm und Reich, Raucher und Nichtraucher etc.), sind wir in diesen Monaten auf einen gestoßen, der bislang zu wenig Aufmerksamkeit erfahren hat: dem zwischen Schenkathleten und Schenkmuffeln. Auf solche Grundfragen stößt man, wenn man Bücher vorbereitet wie diese.«
Zum vollständigen Editorial der Schenkathleten und Schenkmuffel
»Ein besonderer Fahndungserfolg war 1988 zu vermelden: Der Unionsverlag bezahlt im Hotel des Balances in Luzern die Rechnung für den sowjetischen Staatsbürger Tschingis Aitmatow. Der zutiefst umstürzlerische Charakter dieser Tatsache entgeht allerdings den Fahndern: Dem Luzerner Polizeikommando war die Person ›bis heute unbekannt‹.«
Zum vollständigen Editorial mit der ganzen Fiche
»Mit spielerischem Übermut haben wir zwei illustre Piratenromane ins Programm genommen. Und siehe da: Die Schmöker gehörten zu den am besten vorbestellten Taschenbüchern. Es gibt also eine geheime Leuchtspur von Leseerlebnissen, die, fernab vom verbürgten Bildungskanon, zur Menschwerdung jedes Einzelnen von uns beigetragen haben. Heldinnen und Helden aller Breitengrade. Große und kleine Ausreißer aus dem engen Leben. Strahlende Schönheiten und pockennarbige Scheusale. In Wind, Wetter und Gefahr gegerbte Abenteurer in heimischen und fernen Landen ... Ihnen ist künftig die letzte Doppelseite der Vorschau gewidmet.«
»Hin und wieder fragt jemand freundlich: ›Wie entsteht eigentlich ein solches Verlagsprogramm?‹ Da verstummt jeweils für einige bange Sekunden der Programmmacher, ratlos, panisch gar ... Auf jedes Buch, das wir machen, kommen einige Hundert, auf die wir verzichten. Natürlich gibt es Indikatoren, die das seltene, selig machende große JA auslösen: der Adrenalinstoß, wenn wir auf eine ganz und gar einzigartige Geschichte stoßen, die Unwiderstehlichkeit eines ersten Satzes, ein Thema, das einen nicht loslässt. Der guten Gründe für ein gutes Buch sind viele.«
Zum vollständigen Editorial mit den Geheimnissen des Programmmachens
»Was unsere Mütter und Väter zu Tränen gerührt und in Träume entführt hat, kann ja auch ein Evergreen sein. Nun wünschen wir Suzie Wong, Amber St. Clare und der Kaiserin Tsu Hsi ein neues, langes Leben!«
»Wer sind all diese Leser, die wir im Lauf der Jahrzehnte umschlungen haben, ohne dass sie sich viel Gedanken gemacht hätten, warum gerade dieses Buch in gerade diesem Verlag erschienen ist, dessen Namen sie vielleicht gar nicht wahrnehmen, weil ihnen ja der Autor oder das Thema am Herzen liegt?«
Zum vollständigen Editorial der Begegnungen mit unbekannten LeserInnen
»Im 20. Jahrhundert war vieles einfacher. Verkaufszahlen, die man nannte, durften den Wahrheitsgehalt einer Werbebotschaft haben. Heute loggt sich, wer es sich leisten kann, auf der Media-Control-Website ein und sieht schwarz auf weiß, was Sache ist.
Die Filmbranche veröffentlicht Woche für Woche die Zahl der Kinoeintritte zusammen mit ihren Charts. Jeder kann sie im Internet nachlesen. Warum enthalten eigentlich unsere Bestsellerlisten keine präzisen Verkaufszahlen? Hat das Showbusiness dem Bookbusiness vielleicht die Erkenntnis voraus, dass die Fantasie im Content spielen soll und nicht im Zahlenwerk?«
»Ja, es ist Mo Yan. Für einen Moment wankt und vibriert die Welt. Rundum Rufe, Umarmungen, Tränen. Blitzlichter, Kameras, Mikrofone, Jubel, Trubel, Wirbel. Der Verleger umarmt den Journalisten W.. So heftig, dass eine Rippe gequetscht ist. Für einen kleinen Verlag sind dies Minuten, die seine kleine Welt erschüttern.«
Zum vollständigen Editorial mit dem Minutenprotokoll von der Frankfurter Buchmesse
»Zum Welttag des Buches gibt es diesmal kein Editorial, sondern eine beklemmende Karte. Sie zeichnet die Länder nicht entsprechend ihrer Fläche, sondern nach der Größe ihres Buchmarktes. Wo ist Afrika, die arabische Welt? Lateinamerika ist ein Zwerg. Hunger ist ein Skandal, Bücherhunger auch.«
»Was ist das Geheimnis von Mia Coutos magnetischer Erzählweise? Ist Mosambik ein anderer Kontinent? Beim Lesen gibt es keine Distanzen außer den Zentimetern, die das Buch in unserer Hand vom Universum in unserem Kopf trennen.«
»Hoppla, das ging aber schnell. Wir dürfen sagen: Es macht Spaß. Nicht in jeder Minute, nicht bei jeder Nachricht, aber doch jeden Tag.«
Zum vollständigen Jubiläumseditorial