Liebe Kollegin
Lieber Kollege
Diese Zeiten sind voll der Zeichen und Wunder. Letzthin kam ich an der Kaffeebar am Rande einer Tagung mit einem Evangelisten des E-Book ins Plaudern, der zuvor mit leuchtenden Augen sein Gerät vorgestellt hatte. Mich beschäftigte vor allem die Frage, warum dieses interessante Gerät immer noch DM 675.- koste, praktisch nur über zwei Quellen erhältlich sei und grade mal tausend Benutzer habe, nach all dem Medienrummel. Durch den Konferenztrubel wohl etwas enthemmt, gestand er, dass seine Firma an jedem verkauften Gerät an die zweihundert Mark Verlust mache, weshalb denn auch alle Anfragen von weiteren Vertreibern abgelehnt worden seien. Bleibt eigentlich nur die Frage offen, wie denn eine Firma, die mit jedem verkauften Produkt nur Verlust macht, es schafft, einen Börsenwert von Milliarden Dollar zu erreichen und sich um ein Haar die größte Buchhandelskette der USA einverleibt hätte.
Mit Interesse vernehmen wir auch die Meinungen eines Kollegen, der einer dieser Verlagsballungen mit vielen Bindestrichen vorsteht (Oder sind das Fusionsnarben? Gar Minuszeichen?). In einem Interview weihte er alle Verlage unter 30 Millionen Umsatz dem Untergang, im nächsten legte er die »Rentabilitätsgrenze bei 1 Million Umsatz pro Mitarbeiter« fest. Oh je, gibt das ein Massensterben in der Branche.
Über dem Pult hängt ein Ausriss aus dem »Börsenblatt des Deutschen Buchhandels«, wo ein Chef einer ebenso führenden wie leidenden Verlagsgruppe seine Genesungsstrategie umreißt: »Entscheidend ist immer, dass wir etwas machen, von dem wir hoffen, dass es potentiell so ziemlich alle interessieren könnte.« Da haben wir es leichter. Hin und wieder geben wir uns damit zufrieden, dass unsere Bücher läppische zehntausend Leser interessieren. Die Hoffnungen der Giganten haben da ganz andere Dimensionen. Inzwischen haben ja auch einzelne Buchhandlungen am Datenhighway die magische Hürde von 50 % Verlust vom Umsatz genommen und blicken zuversichtlich in die Zukunft und auf die Ertragslage der Buchhandlung um die Ecke.
Wen wundert es noch, wenn ein Kollege erzählt, seine Hausbank sei nicht bereit, seinen beachtlichen Rechtefundus in die Firmenbewertung einzubeziehen, und darum die Kreditzinsen erhöht habe. Dabei war jene Bank immateriellen Werten keineswegs abgeneigt, lancierte sie doch das Going Public (deutsch: Gassi gehen) für eine Softwarefirma, deren Börsenwert hundert mal den Umsatz überstieg (der lag bei der Hälfte des Unionsverlags). Inzwischen ist dieses globale Seifenbläschen, in dem die Sonne nicht untergehen sollte, geplatzt.
Nur rettungslos rückständige Buchklitschen streben heute noch nach öden einstelligen Umsatzrenditen, im Mittel mehrerer Jahre wohlgemerkt. Wenn schon keine dreistelligen Millionenverluste, dann bitte gleich fünfzehn Prozent. Wer weiß, was der nächste Trend ist? Vielleicht jene Gleichung, wonach ein Verlag dann am wertvollsten ist, wenn innerer (literarischer) und äußerer (Bilanz-)Wert übereinstimmen?
Bis dahin sollten wir nicht den Kopf einziehen, sondern ihn gebrauchen und hochhalten.
Mit vielen Grüßen aus Zürich
Lucien Leitess