Liebe Leserin
Lieber Leser
Als es darum ging, wie auf dem Umschlag von Shahriar Mandanipurs Roman das Wirken der Zensur zu visualisieren sei, holte ich aus dem Büchergestell den Fichenordner des Unionsverlags.
Fichen? Was ist das?, fragten einige im Verlagsteam. Soll man solche Geschichten aus der Aktivkampfzeit herausposaunen? Genau zwanzig Jahre ist das nun her, wir dürfen das Jubiläum des kleinen schweizerischen Mauerfalls feiern. Drum leisten wir hier ein Stückchen Erinnerungsarbeit:
1989 kam ans Licht, dass die Polizeibehörden von Bund, Kantonen und Gemeinden über 700 000 Personen und Organisationen, mehr als zehn Prozent der Bevölkerung, überwacht hatten, um das Land vor Subversion und Umsturz zu bewahren. Eine kleine Armee von Bürolisten observierte, tippte, klebte, archivierte und produzierte Millionen von Karteikärtchen, Rapporten und Telefonabhörprotokollen. Aus dem Wust von Akten über den Unionsverlag (5 cm Blockstärke) geht unter anderem hervor, dass der zuvor unbescholtene Verleger ein Probeabo des kommunistischen Vorwärts bestellte und an einer Mieterdemonstration mittels Megafon versucht hatte, »eifrig die Aufmerksamkeit der Passanten auf die Kundgebung zu lenken, was aber absolut nicht gelang«. 1976 wurde die »vermutliche Konkubine« identifiziert. Der in die Palästina-Solidaritätsgruppe eingeschleuste Spitzel wusste am 28.8.76 zu berichten, dass die Straßensammlung Fr. 1500.- ergeben hatte.
Ein besonderer Fahndungserfolg ist 1988 zu vermelden: Der Unionsverlag bezahlt im Hotel des Balances in Luzern die Rechnung für den sowjetischen Staatsbürger Tschingis Aitmatow. Der zutiefst umstürzlerische Charakter dieser Tatsache entgeht allerdings den Fahndern: Dem Luzerner Polizeikommando war die Person »bis heute unbekannt«.
Lachhaft wäre das alles, wenn solche Fichen nicht unzähligen Menschen ihre Stelle oder Berufsperspektive gekostet hätten. Inzwischen sind wieder 118 000 Menschen in den Computern des schweizerischen Staatsschutzes fichiert. Angesichts dessen, was die Protagonisten in Mandanipurs Roman erleben, sind das Kinkerlitzchen. Aber auch bei uns hat es beim Telefonieren in der Leitung geknackt, als man die Überwachung noch hörte.
Der Gerechtigkeit halber sei auch daran erinnert. Zu Selbstgerechtigkeit gibt es keinen Grund.
Mit aktenkundigen Grüßen aus dem Unionsverlag
Lucien Leitess