Liebe Leserin
Lieber Leser
Hin und wieder fragt jemand freundlich: »Wie entsteht eigentlich ein solches Verlagsprogramm?« Da verstummt jeweils für einige bange Sekunden der Programmmacher, ratlos, panisch gar, und fühlt sich ertappt in einer ganz und gar unprofessionellen Dunkelzone der Konzeptlosigkeit. Zum Glück las er eines Tages, der alte Ledig-Rowohlt habe auf diese Frage geantwortet: Er schlage sich das Manuskript an den Kopf — und wenn es gut klingt, wird es gemacht. Was auch nur heißt: Begreife das, wer will.
Auf jedes Buch, das wir machen, kommen einige Hundert, auf die wir verzichten. Natürlich gibt es Indikatoren, die das seltene, selig machende große »Ja« auslösen: Der Adrenalinstoß, wenn wir auf eine ganz und gar einzigartige Geschichte stoßen (in diesem Programm z. B.: Francine Marie Davids Lebensbericht aus dem Tal der Könige). Die Unwiderstehlichkeit eines ersten Satzes, der einem keine Wahl lässt, außer weiterzulesen (in diesem Programm z. B.: Sabatinis Schwarzer Schwan). Ein Thema, das einen nicht loslässt, ganz anders zu erleben (Raja Shehadehs Wanderungen in Palästina). Der guten Gründe für ein gutes Buch sind viele.
Und was seit je das ganze Programm im Innersten zusammenhält — wenn in fünfzig Jahren ein kluger Mensch die Programmliste durchsieht, soll er nicken können: Erstaunlich, wie viel davon überlebt hat ... Möglichst wenig Eintagsfliegen, über die Nachgeborene den Kopf schütteln werden. Großes Ziel, großes Problem. Der Lagerumschlag muss stimmen, die Novitäten sollen abfließen, die Medien hasten von Saison zu Saison, und über Nacht wird die Backlist zur Blacklist. Die Kraft zum Überleben ist ein selten Gut bei Büchern. Wer zum Beispiel hätte erwartet, dass ein Nobelpreisträger für Literatur vor über hundert Jahren ein Buch über die Wunder des Bienenstocks geschrieben hat, das bis heute verzaubert und beeindruckt? Maurice Maeterlincks Das Leben der Bienen hat dieses Geheimnis ewiger Lesefrische.
Und so wie Leonardo Padura in seinem neuen Roman das vergangene Jahrhundert erzählt, wird er noch lange Stoff zum Mitfiebern und Nachdenken bieten. Die alten Kämpen erkennen, wie auch sie herumgetappt sind auf der Suche nach Utopien. Sie fragen sich, ob sie oft genug die Kraft zum »Nein« gegen die großen Lügen aufgebracht haben. Die Jüngeren, die sich in diesem Jahrhundert ihre Sporen verdienen müssen, verfolgen mit Beklemmung, was es bedeutet, zu leichtfertig »Ja« zu sagen aus Angst und Anpassungsbereitschaft.
Dergestalt also wünscht Ihnen eine haltbare Lektüre mit dem Unionsverlag
Lucien Leitess