Liebe Leserin
Lieber Leser
Frankfurt, 11. Oktober 2012. Fünf vor eins wird die Luft dick. Wie zufällig finden sich Fremde und Freunde, Journalisten und Kameras vor dem Stand ein. Das Fachgespräch mit dem Kollegen des normalen Messetermins wird leicht fahrig. Erinnerungsflash: Eine solche Traube wuchs zu dieser Stunde an diesem Stand schon einmal 2004, als Nobelpreiskandidatin Assia Djebar am gleichen Tisch saß. Ein Blick in die Standecke: Ja, die verschnürte »Notfallkiste« mit den Büchern und Porträts unserer sechs Kandidatinnen und Kandidaten steht bereit. Ruhig bleiben. Kollegin B. sucht über das Messe-WLAN – wie wohl hundert andere – Verbindung zu www.nobel.se für die Live-Übertragung. Vergeblich, das Netz ist überlastet.
12:59 – Die Sekunden dehnen sich endlos. Man weiß: An Dutzenden Ständen wird der Atem angehalten. Alle Autoren auf dieser Messe, die Hoffnungen haben, sind bei ihren Verlagen in Stellung gegangen. Mit kühler Miene und heißem Herzen wird gewartet, gewartet. Kollegin T., dicht neben mir, hängt am Handy mit Zürich, wo im Büro Kollegin W. die Live-Verbindung nach Stockholm hält. 13:00: Noch immer nichts. Dann fragt sie ins Handy: »Wer?!« Und nochmals die Frage nach Zürich: »Wie?!« Nun kühl, weil eine Falschmeldung unsäglich wäre, die Anweisung: »Bitte buchstabieren!« Die Knie werden weich, sie muss sich setzen.
Ja, es ist Mo Yan. Für einen Moment wankt und vibriert die Welt. Rundum Rufe, Umarmungen, Tränen. Kollege G. reißt mit zittrigen Händen die Notfallkiste auf. An der Wand weichen Bambi und die Schenkbücher dem lächelnden Preisträger und seinen Büchern. Blitzlichter, Kameras, Mikrofone, Jubel, Trubel, Wirbel. Der Verleger umarmt den Journalisten W. so heftig, dass eine Rippe gequetscht wird.
Agentin B., die mit Mo Yan die Verträge für uns eingefädelt hat, steht da. Agentin K., die unseren ersten Nobelpreisträger Nagib Machfus vermittelt hat, natürlich auch. Die guten Seelen vom Buchhändler- und Verlegerverband bringen Flaschen und Gläser herüber. Kollegin S. organisiert ohne Verzug auf meisterhaft verschlungenen Kanälen das farbige Poster des Preisträgers. Der Buchdrucker aus Leck, just in time wie immer, gratuliert und nimmt Herstellerin H. gleich mit – an seinem Stand aktualisiert sie telefonisch die Autorenbiografie um die taufrische Auszeichnung. Am Montag werden alle vier Romane wieder lieferbar sein.
Für einen kleinen Verlag sind dies Minuten, die seine kleine Welt erschüttern. Die schönste Freude schenkten uns jene, die sich mit uns freuten. Nach zwei Nobelpreisen und zwei Friedenspreisen wissen wir aber auch: Fünf nach eins ist fünf vor eins. Die Arbeit geht weiter, und wir präsentieren in dieser Vorschau erneut ausgesucht Zukunftsträchtiges. Wir danken allen, die – Preise hin oder her – unsere Bücher entdecken mögen und dem Verlag gewogen sind.
Mit den allerbesten Grüßen aus Zürich
Lucien Leitess
Ein virtuoser Ritt durch Höhen und Tiefen der chinesischen Geschichte – vom Nobelpreisträger für Literatur 2012