Liebe unbekannte Leserin
Lieber unbekannter Leser
Warum diese ungewohnte Anrede? Weil kürzlich die Software eine Auswertung ausgespuckt hat: Der Unionsverlag hat zwischen Januar 1985 und Oktober 2011 sieben Millionen zweiundvierzigtausend zweihundertzehn Bücher verkauft. Ist das viel? Eins für jeden Bewohner der Schweiz. Mehr als zwei für jeden Berliner. Eins für jede/n Zweite/n in Bayern ... Macht man sich vor den Großverlagen lächerlich mit einer solchen Zahl? Vor allem aber: Wer steht hinter diesen leblosen Ziffern, die täglich neu am Schwarzen Brett in unserer Küche hängen? Wer sind all diese Millionen, die wir im Lauf der Jahrzehnte umschlungen haben, ohne dass sie sich viel Gedanken gemacht hätten, warum gerade dieses Buch in gerade diesem Verlag erschienen ist, dessen Namen sie vielleicht gar nicht wahrnehmen, weil ihnen ja der Autor oder das Thema am Herzen liegt?
Aber es gibt Augenblicke, da werden solche Zahlen zu Leben. Wenn im Flugzeug von Berlin nach Zürich der Nachbar Rytchëus Traum im Polarnebel auspackt und darin versinkt. Auf dem Nebensitz kämpfe ich bis zum Landeanflug mit der Gewissensfrage, ob ich mich outen soll, und sage zuletzt: Ja, dieses Buch kenne ich auch, wie er es denn finde? Oder wenn im Zug von Zürich nach Bern ein Mädchen vis-à-vis Dshamilja liest und ganz offensichtlich feuchte Augen bekommt. Oder wenn in einem Hotel in Myanmar unbekannte Reisende drei unserer Bücher aus der Tauschbibliothek der Lobby aufs Zimmer mitnehmen.
Während der letzten Buchmesse ging eine Frau sorgfältig all unsere Regale ab und nahm ein Buch nach dem anderen zur Hand. Nach einer Viertelstunde brachte ich meinen professionellen Gesprächstermin zu einem etwas verfrühten Ende und fragte sie zaghaft, ob ich helfen könne ... »Nicht nötig. Ich lese praktisch alles aus dem Unionsverlag.« Mein Adrenalinspiegel stieg. Wie das denn komme? »Wenn ich ein Buch aufmache, habe ich schon nach den ersten Seiten das Gefühl, ich sei ganz und gar mittendrin angekommen, egal wo es spielt ...«
Ja, mit genau solchen Fragen sichten wir die Papier- und Bücherstapel, die an den Rändern unserer Büros emporwachsen wie wuchernde Schlingpflanzen. Die Nachwelt flicht den Verlagen keine Kränze. Aber jeder gute Verlag lebt für und mit Menschen wie Ihnen, die wahrnehmen, was ihn um- und antreibt. Weil schon der nächste Termin wartete, habe ich versäumt, nach Ihrem Namen zu fragen. Pardon und danke, liebe Leserin!
Mit vielen Grüßen
Lucien Leitess