Zwei Mädchen wachsen in einem färöischen Dorf auf. Es sind die 1950er Jahre, die Nachkriegsarmut auf den Inseln ist groß, der Alltag kräftezehrend und erschöpfend, die Familienstrukturen und die Hierarchien sind noch fest und auch die Rollenmuster und Erwartungen. Für alle. Dennoch ist das Leben der beiden schwer zu vergleichen: Die Ich-Figur ist integriert in einer verlässlich solidarischen Familie, im Kameradenkreis und der gelegentlich durchaus auch wohlwollenden Nachbarschaft, wogegen die Gleichaltrige, die alle nur »das Mädchen« nennen oder gar »das Gitter-Mädchen«, allein und ganz isoliert aufwächst. Ihr arbeitsloser Vater, ein rücksichtsloser gesellschaftlicher Außenseiter, sperrt sie tagsüber immer im Schuppen ein, wo er auch alles lagert, was er heimlich sammelt und stiehlt, und nachts muss sie hinauf ins Giebelzimmer, wo sie sich auf den Fenstersims stellt und vor den Kameraden auf der Straße entblößt; fast nie darf sie mit den anderen Kindern spielen, sie wird drangsaliert, geschlagen und womöglich auch missbraucht.
Zwischen den beiden Mädchen entwickelt sich eine vorsichtige Nähe und Faszination. Beide finden und akzeptieren in der anderen ihr Gegenstück. Um sie herum gibt es die Dorfgemeinschaft: die anderen Kinder; die Arbeiterväter, die zäh um ein wenig höhere (Hunger-)Löhne kämpfen; die abgearbeitete Mutter, die An der schönen blauen Donau murmelt und trotz der knotigen Füße auf der Wiese tanzt; Fía, die Schneiderin, die ihre Zigarren raucht; der Kaufmann, der die Schulden der Kunden aufschreibt, aber gelegentlich auch Gnade walten lässt, oder Fías Mann, dem es Lust bereitet, die gerade erst geborenen Kätzchen zu töten. Kompakte, kurze Bilder stellen sie uns vor Augen. Die Figuren sind scharf gezeichnet, doch ihre Taten werden nicht hinterfragt und von der Ich-Erzählerin moralisch auch nicht gewertet; das Eigensinnige, Harte und Skurrile wird ihnen belassen – es ist, ahnen wir, ihre Art, mit der außerordentlich barschen Realität überhaupt zurechtzukommen und mit ihren Sehnsüchten, Abgründen und Nöten.
Der erste Teil des Buches erzählt aus der Zeit der Kindheit der beiden Mädchen. Zuletzt, im dritten Teil, treffen sie in einer Stadt im Ausland wieder aufeinander. Die Ich-Figur ist inzwischen Studentin und sucht sich einen Weg ins Leben hinein, das »Gitter-Mädchen« dagegen scheint ihn schon gefunden zu haben. Sie ist auffallend attraktiv und spielt zwischen depressiven Abstürzen und heftigen Selbstzerstörungsattacken so souverän wie möglich mit Lebensentwürfen, Macht und Männern. Von der Vergangenheit will sie nichts mehr wissen, jede Erinnerung lähmt sie. Bei der letzten Begegnung aber ist sie sehr dünn, fahrig und hat blaue Flecken am Arm – welcher Gewalt ist sie ausgesetzt? Oder nimmt sie Drogen? Bringt sie sich schliesslich um?
Der Text lässt manches offen. Erzählt wird in Fragmenten, in dichten, sinnlichen Bildern, die die Wirklichkeit zum Traum- und Wahnhaften hin öffnen, ohne je magisch oder surrealistisch sein zu wollen. Der Text lebt von starken Gegensatzpaaren: das Lebhafte, Selbstgewisse und Zuversichtliche steht gegen das Dunkle, den Schmerz und die Gewalt; das macht eine psychologische Lesart möglich, drängt sie gelegentlich beinahe auf: die Möglichkeit, die Ich-Figur und das »Gitter-Mädchen« als zwei Seiten ein und derselben Figur zu verstehen, eines Kindes, später einer jungen Frau, die traumatisiert ist von ihren Erlebnissen, der häuslichen Gewalt und sexuellen Übergriffen. Die Reinszenierungen des Kindheitstraumas enden dabei zwangsläufig in Untergang und schwärzester Depression, gegen die ihr nur die »Glückspillen« und ein todesähnlicher Schlaf in der Wohnungsgruft, über den »Elisabeth«, der »Totenkopf« und Todesengel, wacht, helfen. Vorübergehend.
Die erzählte Welt besteht nicht nur aus den zwei Hauptfiguren. Zwischen den beiden Rahmenteilen, die von den Freundinnen erzählen, gibt es ein Mittelstück. Es enthält zehn Miniaturen von gesellschaftlichen Außenseitern, die paarweise zusammengehören und dabei jeweils von der Außenperspektive in die Innenperspektive wechseln. Wir lesen vom Jungen mit dem kranken Herzen, der ganz allein übers Meer nach Dänemark geschickt wird, in ein Krankenhaus, um gesund zu werden; von Marjus, dem Verrückten, der eine Himmelsleiter baut, um seine Liebste zu entführen, sie in ihrem Bett überfällt und erwürgt; vom Schuhfetischisten und von Samuel, der unentwegt Bilder malt, um nicht noch verrückter zu werden, und von der alten Mutter, die ihre Tochter über den Tod hinaus nicht loslässt. Diese Miniaturen ergänzen die zentrale Erzählung und weiten sie ernüchternd zu einem drastischen Zeit- und Gesellschaftsbild; sichtbar wird eine enge, rückschrittliche, klamme und karge Welt. Das anfänglich punktuelle Erzählen wird also zunehmend breiter und vielschichtiger, gräbt sich tiefer in die Ereignisse und die Figuren hinein und lässt einen Sog entstehen, dem man sich schwer entziehen kann.
Der Roman Tanz auf den Klippen besticht durch die klare, bildhafte Sprache und einen überraschend eigenständigen Zugriff. Stilistisch lässt sich innerhalb der färöischen Gegenwartsliteratur am ehesten noch eine Linie zurück zu den magisch-psychologischen Erzählungen von Lydia Didriksen ziehen, ansonsten gibt es nichts Vergleichbares.
Originalausgabe: Tema við slankum (Thema mit Abweichungen). Färöisch, erschienen bei Mentunargrunnur Studentafelagsins, Tórshavn 2007. Dänische Übersetzung: At danse med virkeligheden (Mit der Wirklichkeit tanzen), übersetzt von Kirsten Brix, erschienen bei Torgard 2009. Eine englische Ausgabe Dancing with Reality (übersetzt von Michael Paul Reveal) ist in Vorbereitung.