Meja Mwangi ist für manche Menschen am Rande Nairobis, der überbordenden Hauptstadt Kenias, ein Zeichen der Hoffnung. Er kehrt stets zu den Strolchen, Kumpels, Huren und Zuhältern zurück. Er schaut nicht auf sie herunter. Er hat sie nicht vergessen, auch wenn er sich längst mit den »Besseren« herumschlagen könnte. Hier trinkt er. Hier liebt er. Hier lächelt er. Hier hört er zu. Meja, der Mystiker auf dem Mist. Meja Mwangi ist ein faszinierender Mensch und vermag alle in Bann zu ziehen – nicht mit Worten und Geschichten, sondern durch seine Fähigkeit, zuzuhören, und seinem Lächeln hinter dem Bierglas. Kein Zyniker, sondern ein Liebender und Genießender. Einer, der noch lächeln kann. So haben ihn auch die Berliner, Erlanger, Basler oder Rothenburger auf Besuchen erlebt. Worte bringt man aus ihm kaum heraus, dafür dieses rar gewordene Lächeln, das heilt und verklärt.
Meja Mwangi sitzt mit dabei und hört zu. Auch wenn wenig Worte aus seinem Munde kommen, strahlt er Vielsagendes aus. Immer wieder »lächelt« er, aber er »redet« nicht. Höchstens einen kurzen Satz, einen Wunsch oder eine Bestellung. Vielleicht ein Ja oder Nein. Er ist mit dabei, schaut zu, schaut sich um, beobachtet. Er liebt das Gewöhnliche und den Alltag, Kleinigkeiten und das Kleine.
Meja Mwangi geht nicht von Theorien, sondern von Kleinigkeiten des Alltags aus. Für ihn ist der Theoretiker meistens derjenige, der Angst vor der Wirklichkeit hat und die vielen Bäume im Wald nicht sehen will. Theorien führen seiner Meinung nach zu Ideologiegezänk und Glaubenskriegen. Sie heilen nicht, sondern reißen stets neue Wunden auf; sie schlagen keine Brücken, sondern vertiefen die Schlucht. Theorien machen blind: Das hat er mit Lächeln in seinem großartigen Werk The Cockroach Dance (1979) gezeigt, wo der Psychoanalytiker bei der Hauptgestalt Dusman nach Oedipuskomplexen und tiefgründigen Träumen forscht, derweil sich Dusman bloß eine sinnvollere Arbeit und ein klein bisschen mehr Platz in seiner Toilettenwohnung wünschte. Aber von dieser Wirklichkeit weiß der »Weißscheißer« nichts, und daher deutet er quixotehaft Windmühlen als Ritterheere oder Parkuhren (die Dusman ablesen muss) als Sexualfantasmagorien.
Meja Mwangi steht im Gegensatz zu seinem Landsmann Ngugi wa Thiong’o, der eine Meisterschaft im Weben von großen Zusammenhängen besitzt. Ngugi ist der Bauer; er sorgt sich um das Land. Ngugi ist der Revolutionär; ihm geht es um ein neues Kenia und eine neue Weltordnung. Meja ist der Städter; ihm geht es im Tiefsten um die Suche nach Arbeit, einer Wohnung und dem Sinn des Lebens, selbst in der Gosse. Meja lächelt, wenn er all die Gestrandeten vor Augen hat und jemand von einer Revolution spricht. »Das interessiert diese Desillusionierten längst nicht mehr«, sagte er mir. »Zuerst wollen diese Menschen endlich wieder ein paar Schilling in der Tasche, um sich etwas von der vorgegaukelten Entwicklung leisten zu können.«
Meja Mwangi ist ohne akademische Sozialtheorie der erste große afrikanische Autor, der sich realistisch und bescheiden der sozialen Frage der Stadt annimmt. Vom Kleinen her kommend, interessiert es ihn nicht, die Stadt zum Bösen an sich zu stempeln. Ob sie ein Moloch oder ein apokalyptischer Reiter ist, das sollen die Theoretiker unter sich ausmachen. Er sucht nach den verlorenen oder verborgenen Menschlichkeiten auf dem Abfall. »So wie die Wüste lebt, lebt auch der Slum«, sagt Meja. Er findet in der vordergründigen Trostlosigkeit Menschen voller Hoffnung und menschlichere Menschen als die Großmäuler in der Politik und im Geschäft. Er geht Schicksalen nach. Das kann er jedoch nur, indem er zuhört, mitgeht, eine Runde zahlt, Verständnis zeigt, lächelt und die Menschen von selbst zum Reden und Erzählen bringt. So sind seine drei großen Stadtromane, Kill me quick (1973), Going Down River Road (der vorliegende Roman, 1976 im Original veröffentlicht) und Cockroach Dance (1979), Zeugnisse des Zuhörens, Dokumente eines tief menschlichen Analytikers und Deuters. Wie in ganz Afrika, so wachsen auch Kenias Städte, besonders die Hauptstadt Nairobi und die den Touristen bekannte Küstenstadt Mombasa. Alles will in die Stadt. Die Stadt ist für diese Menschen das, was im Mittelalter für die Abendländer der Gral gewesen sein muss: Symbol der Hoffnung, ein Zeichen der Entwicklung, der Ort der Chancen. Aber wie im vorliegenden Roman wird das Development House, das Entwicklungshaus, vielstöckig in die Wolken gebaut. Die Menschen, die es bauen, und die, die es dereinst bewohnen werden, verstehen einander nicht. Sie haben kein Zusammengehörigkeitsgefühl, wie etwa zu Beginn des ersten Kapitels von den zwei Straßenreinigern gesagt wird, dass sie mit den zwei Besen und der Straße zusammengehörten, also eine Art Einheit bildeten, ein Aufeinanderangewiesensein, ohne einander zu missbrauchen oder auszubeuten. Ganz im Gegensatz dazu die Bauarbeiter, die überhaupt nicht verstehen, um was es geht und warum sie ihre Arbeit tun. Jeder ist allein und fühlt sich missbraucht. Jeder ist fremdbestimmt. Jeder arbeitet lustlos. Die Kunst des Minimalismus und die anschließende Pintenkehr mit dem Sichabfüllen scheinen noch die letzten Blätter am Baum des Lebens zu sein.
Meja Mwangi vermag mit einem erlösenden Einfühlungsvermögen diese Tragödie zu offenbaren. Menschen, die äußerlich alle in eine andere Richtung ziehen – Ben, Wini, Yussuf, Ocholla oder Onesmus; Afrikaner und Asiaten; Mann und Frau; Erwachsener und Kind (Baby) –, vermag er miteinander zu vereinen. Fäden werden langsam und geduldig gesponnen, ein soziales Netz, ein wenig Zusammengehörigkeitsgefühl, ein Aufeinanderangewiesensein, Gefühle von Sympathie, Mitleid und Erbarmen entstehen. Das scheint der Anfang zu einem neuen sozialen Gerüst der Stadt zu sein. Spürten Sie, wie Meja Mwangi Sie mit hineinnahm? Wie es ihm gelingt, uns eigentlich für jede seiner Figuren etwas Sympathie abzugewinnen, und so von der eingleisigen und daher einem Raketengeschoss gleichenden Schwarz-Weiß-Malerei oder dem dogmatischen Moralismus von Gut und Bös abkommt? Hier ist ein Weber eines sozialen Teppichs am Werk.
Meja Mwangi ist nicht in der Stadt geboren. Er zog in die Stadt und lernte sie lieben. Er ist, wie der Vater des modernen Kenia, Jomo Kenyatta, und sein Schriftstellerkollege Ngugi, ein Kikuyu. Von dem Kikuyu-Volk wird gesagt, dass es Bodenständigkeit und Liebe zum Land besitzt. Dieser Geist beflügelte in den Fünfzigerjahren die Mau-Mau-Bewegung, die den britischen Landsiedlern das Land wieder für sich abzutrotzen vermochte. Dennoch konnte es auch nach der Befreiung nicht für jedermann genug Land geben, und so suchten viele in der Stadt Zuflucht. Meja ist der Überzeugung, dass viele Menschen den Schock des Übergangs nicht überstanden haben. Alle sind Bauern geblieben in einer Umgebung, wo Bauernmentalität keinen Sinn mehr ergibt. Nach Meja muss ein neues Bewusstsein für die Stadt entwickelt werden – mit neuen Werten und Verpflichtungen. Vorher lebten die Menschen weit verstreut über das Land; nun aber leben sie übereinander in Blocks, in zwei, drei, fünfzehn und zwanzig Stockwerken. Allein schon diese Umstellung ist eine Revolution, aber niemand scheint sie bemerkt zu haben. Vorher waren alle irgendwie gleich; nun aber kann der eine auf den anderen herabschauen. Bewusst oder unbewusst hat diese Bauweise soziale Veränderungen zur Folge. Selbst beim Bau des Entwicklungshauses ist die Arbeit im Parterre nicht mehr gefragt. Auch wenn das Hinaufsteigen zur Arbeit ein Kampf zu sein scheint, jeder will Arbeit »weiter oben« zugeteilt erhalten – und solange der Radau und Radiolärm von nebenan kommt, erträgt man es, denn der Nachbar liegt und lebt und liebt im selben Dreck.
Aber stellen Sie sich vor, Max würde im neuen Development House über Ben wohnen und seinen Scheiß auf Ben herunterlassen? Meja, bei einem Bier in einer Bar in der Nähe der River Road: »Kannst du dir eine vielstöckige Bar vorstellen? Mal dir aus, wer im fünften und wer im dritten oder wer im ersten Stock trinken würde … und die Schlägerei am Ende, wenn alle auf die gleiche Ebene, auf die Straße hinaus kommen?« Mehrere Male schon habe ich es erlebt, wie Meja zum Philosophen der Stadt wurde.
Mit etwas, das den kleinlichen Familien- und Clangeist überwindet, muss man in der Stadt leben lernen. Hier kann ich nicht mehr »meinen Stamm« oder »meine Sprache« oder gar »meinen Glauben« über alles erheben, ohne den Nachbarn zu beleidigen. In der Stadt mischen sich viele Völker, Sprachen, Farben, Religionen, Traditionen und Vorstellungen. Zunächst nimmt jeder an, nur ihm gehe es beschissen, bloß er sei der Benachteiligte, der Ausgebeutete, Verlorene. Aber solange jeder dem Anderen oder dem Fremden gegenüber misstrauisch ist, kann keine lebendige Stadt entstehen, denn in der Stadt sitzt jeder im selben Boot. Vielleicht hat der andere durch die Geschichte eine andere Rolle zugeteilt bekommen, aber dennoch ist jeder auf den anderen angewiesen. »Jeder braucht jemanden. Wir alle brauchen jemanden. Manchmal bloß, um jemanden zu hassen«, schreibt Meja Mwangi. Alle müssen sich bewusst werden, dass niemand mehr seiner Sache ganz sicher ist. Niemand weiß, wohin es geht.
Meja Mwangi zeigt in diesem Roman das bizarre Nebeneinander. Da sind die »Inder«, die zwar indischen oder pakistanischen Ursprungs sind, die aber ebenfalls in Kenia geboren wurden. Ihre Vorfahren betrieben schon vor dem britischen Kolonialismus Kleinhandel. Um 1860 gab es etwa 6000 Inder im heutigen Kenia. Sie besaßen schon damals das Monopol des Einzelhandels. Als die Engländer die Eisenbahn von Mombasa nach dem ugandischen Kampala bauten und die Schwarzen Kenias sich für diese Arbeit nicht anwerben ließen oder passiven Widerstand leisteten, holten die Kolonialherren Arbeiter aus einer ihrer anderen Kolonien im indischen Subkontinent. Diese blieben nachher im Land. Der Kolonialherr überließ ihnen den Kleinhandel. Mit großem Fleiß und viel Familiengeist bauten sie im ganzen Land Läden, duka genannt, auf. Diese »Inder«, wie sie undifferenziert genannt werden, waren immer zwischen den Fronten – zwischen Schwarzen und Weißen. Sie stützten sich daher auf die eigene Familie und die Solidarität untereinander. Nach der Unabhängigkeit Kenias am 12. Dezember 1963 standen die inzwischen auf über 300 000 angewachsenen »Asiaten« im Niemandsland. Bis heute ist in Ostafrika das »Inder-Problem« nicht gelöst.
Kenia hat nicht wie Idi Amin in Uganda die Inder ausgewiesen oder wie im Nachbarland Tansania ihre Kleinhandelstätigkeit stark eingeschränkt, aber niemand weiß, wie lange sie geduldet werden. Da sie keinen Bezug zum Land haben, ist ihre Sicherheit das Geld, das sie vor allem in den Städten in Immobilien angelegt haben. Sie beherrschen daher auch das Bauwesen. Das alles steht im Hintergrund von Mejas Roman, der ein wahres Soziogramm ist. Diese Menschen asiatischen Ursprungs sprechen keine afrikanische Sprachen, und selbst ihr Englisch ist – wie das aus dem Roman hervorgeht – armselig. Beide Gruppen, sowohl Afrikaner als Asiaten, verstehen einander nicht. So fragt Ben, die Hauptperson im Roman, warum die Inder, nachdem sie schon so viel Geld haben und Häuser und Mercedes besitzen, immerfort weiterschuften. Aber auch sie sind in einem Sachzwang gefangen. Ganz subtil trägt Meja zur gegenseitigen Verständigung bei – und diese ist möglich, auch wenn die Sprache nur gebrochen ist. Ein kenianischer »Inder«, Dheram P. Ghui, schreibt in einem Gruppenporträt seines »Stammes«: »Wir müssen uns zuerst selbst finden, den Kastengeist aufgeben und eine neue Sprache lernen.« Dasselbe gilt für alle. Es geht um eine neue Denk- und Sehweise, wenn man zusammen leben und überleben will. Um das zu ermöglichen, braucht es Verständnis und Sympathie. Meja Mwangis Roman ist ein Beitrag hierfür.
Doch noch jemand ist vor allem in den Städten zwischen die Fronten geraten: die Frau. Oftmals scheint sie in der heutigen Stadt Afrikas bloß noch als Hure ihren Platz zu haben. Andere Schriftsteller Ostafrikas haben dieses Problem aufgegriffen: Ngugi wa Thiong’o, Okot p’Bitek, Okello Oculi in beinahe schon klassischer Form und David G. Maillu auf fast schockierende Weise. Okello Oculi hat ein eigenes Epos oder Lied auf die Prostituierte (Prostitute, 1968) geschrieben; Meja hingegen macht es viel stiller und indirekter, aber gerade deshalb mit besonderer Tiefenwirkung. Wie der Held des Romans, so wird auch der Leser Wini nicht mehr vergessen. Sie ist »anders als die anderen Huren«, heißt es im Roman. Aber vielleicht gilt es nur, einen Ben zu finden, um bei anderen Winis das »Andere« auch zu entdecken und zu fördern. Wir brauchen alle einander, heißt es ebenfalls im Roman, aber aus einer psychischen Verkrüppelung heraus missbrauchen wir einander. Das Wissen jedoch vom Angewiesensein aufeinander lässt uns ausbrechen und auf die Suche gehen. Nur so kann Wini vielleicht wieder gefunden werden. Im Augenblick wird die Frau in der Stadt als Ausbeutungsobjekt sowohl im Büro als auch im Schlafzimmer benutzt. Sie wird genommen und weggeworfen wie eine Coca-Cola-Flasche.
Die großen Leidtragenden sind die Kinder. Auch hier ist Mejas Roman ein schon beinahe zeichenhafter Hinweis: Ben sagt Ja zu Baby, der doch kein Sohn aus seinem Blut (oder seinem Stamm) ist. Menschen müssen sich in der Stadt neu verbinden und verbünden. Wir brauchen nicht nur alle einander, wir müssen auch füreinander Sorge tragen, einander respektieren, um miteinander zu leben. Leben lassen nicht bloß in einem passiven, sondern wohlwollenden Sinn. Was dem uneingeweihten Leser am Anfang als ganz gewöhnlicher Schicksalsroman erscheint, öffnet als ein großer Sozialroman eine stille, bescheidene Vision von einer neuen Stadt. Zudem erschließt er mehr als jede billig gebuchte Tourismusreise nach Kenia die Hinterhöfe und Unterwelt Nairobis und zeigt, dass dort zwar sehr viel Shit ist, aber auch sehr viel Menschlichkeit und Hoffnung. Auf dem Mist wächst trotz allem eine neue Stadt und eine andere Welt.