In meinen Romanen gibt es drei zentrale Elemente, die eng miteinander verknüpft sind: die Landschaft, die Figuren und das historische Gedächtnis. Die Ermittlungen von Bacci Pagano sind keine lupenreinen Krimis. Zwar fügen sie sich in die Tradition des Genres ein, aber sie orientieren sich an den großen Autoren des »Mittelmeerkrimis«, vor allem an Vázquez Montalbán und Jean-Claude Izzo.
Der übliche Schauplatz für Krimis, seien sie nun europäisch oder amerikanisch, ist die Großstadt. Denn die Stadt repräsentiert den Ort, an dem die kleinen, schmutzigen Ereignisse, in denen der Tod lauert, auf die großen Fragen unserer Zeit treffen: Dort gibt es soziale Ausgrenzung, Immigration, die Kluft zwischen Arm und Reich und die uneingeschränkte Vormacht der Wirtschaft. Die großen Hafenstädte am Mittelmeer haben aufgrund ihrer Orientierung nach Übersee in dieser Hinsicht besonders viel zu erzählen.
Genua ist eigentlich eine kleine Stadt, aber sie hat eine große historische Vergangenheit, die noch immer in den Gassen und Palazzi der Altstadt spürbar ist. Außerdem hat sie auch eine große jüngere Vergangenheit mit den aufgelassenen Industriearealen im Westen der Stadt und im Val Polcevera. Genuas einstige Pracht und Größe, die Vormachtstellung in Handel und Industrie, ist inzwischen verdrängt vom Gewerbe mit sicherer Rendite, von auf geheimen Konten deponierten Reichtümern und vom Immobilienhandel.
In Genua auf Spurensuche zu gehen, heißt, diesen komplexen Wandel zu beleuchten, der für unsere Identität von solch großer Bedeutung ist, bedeutender, als die Wirtschaft und die großen politischen Entwürfe. Die Altstadt von Genua mit ihren Kontrasten von Licht und Schatten, Flaute und Wind, Pracht und Zerfall unterscheidet sich nicht grundlegend von den historischen Zentren in Neapel, Cagliari und Palermo oder in all den anderen mediterranen Großstädten in Frankreich, Spanien oder Griechenland. Die Altstadt ist eine ewige Baustelle, in der sich die Wege von Menschen aller Ethnien kreuzen, ein Ort der Konflikte und der unerfüllten Hoffnungen, ein Ort, an dem man nach mehr Platz und Licht hungert. Die Gerüche und die Atmosphäre in den Carruggi illustrieren auf beispielhafte Weise eine Mentalität und eine bestimmte Kultur: In Genua muss man die Pracht mit dem Blick nach oben suchen, in unvermuteten Ausgängen, in den engen Fluchten der Gassen. Hinter den alten und notdürftig instand gehaltenen Portalen der baufälligen Palazzi verbergen sich atemberaubende Marmortreppen, und entlang dieser Treppen finden sich illegalen Einwanderern überlassene Löcher, aber auch traumhafte Wohnungen mit Sicht auf die Dachterrassen, die das Zentrum von Genua prägen. Diese Schönheit und dieser Reichtum im Verborgenen, dieses Spiel zwischen Gegensätzen ist typisch für ein Stadtpanorama, das ein komplexes gesellschaftliches und menschliches Panorama widerspiegelt. In der Altstadt von Genua leben Arm und Reich, alteingesessene Genueser und neu angekommene Einwanderer, Intellektuelle und Prostituierte Tür an Tür. Man muss der Politik das Verdienst zusprechen, dass sie, anders als in vielen italienischen und europäischen Städten, die Randständigen nicht an die Peripherie verbannt hat.
Was die Zukunft bringen wird, ist ungewiss. Falls ihnen nicht die Politik zu Hilfe kommt, werden die Armen möglicherweise von gierigen Immobilienhaien vertrieben. Wenn dies geschieht, werden sich Körper und Seele der Altstadt grundlegend verändern – und sie wird weniger interessant sein, auch für die Literatur.
Ein weiteres typisches Merkmal dieses Ortes: In den letzten zwanzig Jahren gab es Ereignisse (von den Kolumbus-Feiern bis hin zur europäischen Kulturhauptstadt), die Genua dazu benutzt hat, große Teile des Stadtgebiets radikal zu verändern, ohne sie jedoch zu entstellen. All dies hat die Altstadt und die Gassen wieder mit jungem Leben und mit wirtschaftlichen Aktivitäten erfüllt. In den letzten Jahren sind in den Carruggi eine Menge Lokale eröffnet worden, in denen ein bislang unbekanntes Nachtleben entstanden ist. Auch die Entscheidung, bestimmte Abschnitte zu Fußgängerzonen zu erklären, hat sich als glücklich erwiesen und positive Auswirkungen auf den Tourismus und die Wirtschaft gezeigt.
Aber nicht alles ist so idyllisch. Vor allem weil ich den Eindruck habe, dass Genua, wie viele andere Städte im Mittelmeerraum, auf der Suche nach seinem Platz in einer postindustriellen Zukunft ist. Es ist ungewiss, ob der Tourismus die darniederliegende Industrie ersetzen kann. Der Hafen bietet nicht genügend Arbeitsplätze, um einer Stadt, die allmählich alt und unterstützungsbedürftig wird, den Wohlstand zu garantieren.
Genua ist für mich demnach zunächst ein Ort der Erinnerung und der Identität. Er birgt in sich die Wunden und den Stolz der Seele, weil er eifersüchtig die Spuren seiner Geschichte bewahrt. Diese Geschichte zu durchqueren, hat nicht nur meiner Biografie ihren Sinn gegeben, sondern auch der meiner Romanfigur. Bacci Pagano ist ein Detektiv mit 68er-Vergangenheit, pessimistisch, humorvoll, nostalgisch und zweifelnd. Moralisches Urteilen gehört nicht zu den Privilegien seines schmutzigen Metiers. Er muss einfach genügend verdienen, um anständig zu überleben. Auch im Krimi reicht es nicht, die eigene Haut zu retten, wenn man dabei die Seele verliert. Und tatsächlich ist es für Bacci wichtiger, seine Seele zu bewahren, als den Schuldigen eines Verbrechens zu finden. Dies treibt ihn an, in der Geschichte und im Leben von Opfern und Tätern immer tiefer zu graben, auf der Suche nach einem Sinn, der für gewöhnlich kein anderes Ziel hat als das Fortleben der Seele im Lauf der Geschichte zu beweisen.