Seit Auguste Dupin funktioniert er weltweit, in Frankreich, in den USA, in Brasilien, in Thailand und Chile, in England, in Deutschland oder in Israel. Und in der Türkei. Er ist allerlei Geschlechts. Er tritt uns als strahlender Siegertyp entgegen und als verbeulter Loser. Er ist Zyniker, Snob, Melancholiker oder von eher heiterem Gemüt. Man hat ihn demontiert, ihm Gliedmaßen abgenommen, ihn mit Drogen und Alkohol vollgepumpt oder mit mittelständischen Werten ausgestattet. Er kann ein analytisches Genie sein oder ein Paranoiker mit den richtigen Instinkten. Er kommt als Gewalttäter daher oder als rechtes Weichei. Zwischen Humphrey Bogarts Schmächtigkeit und der Leibesfülle von Nero Wolfe erscheint er in jedwedem Körperformat, wenn männlich. Wenn weiblich, ist zwischen der drahtigen, trainierten, nicht rauchenden nicht trinkenden und vegetarischen »Neuen Frau« und der eher barocken, fluchenden, (Männer-)Fleisch verzehrenden Casey Jones jede Variante denkbar.
Das alles kann er nur sein, weil er ein Topos ist, vergleichbar mit dem »reinen Tor« des Schelmenromans. Im weitläufigen Genre der Kriminalliteratur ist der Privatdetektiv die künstlichste, die literarischste Figur von allen. Und der Privatdetektivroman ist noch immer der Zweig der Kriminalliteratur, dessen Strukturen sich seit Sherlock Holmes kaum verändert haben. Das Muster von Klient-Detektiv-Fall-Auflösung ist im Großen und Ganzen gleich geblieben von Monsieur Dupin über Sherlock Holmes, Hercule Poirot, Sam Spade, Philip Marlowe, V.I. Warshawski, Sharon McCone und – eben – Remzi Ünal.
Natürlich liegen Welten zwischen beispielsweise Marlowe und den ausgeklinkten Einzelkämpfern von Robert W. Campbell oder J. W. Rider – aber kaum erzählerische Quantensprünge. Und erst recht zwischen den artifiziellen Denksportaufgaben, mit denen sich die Herren Dupin und Holmes beschäftigen, und den Realitäten, mit denen zum Beispiel unser Remzi Ünal in Istanbul heute zu tun hat.
Die Stilisierungen der literarischen Gestalt des Privatdetektivs haben sich dem jeweiligen Kontext angepasst. Als literarische Figur trägt er wie vor hundert Jahren völlig plausibel eine Geschichte. Die Hartnäckigkeit der Form trägt sogar nicht nur die diversen Demontagen der Figur, die in Wellen immer mal wieder über den armen Detektiv hereingebrochen sind. Sie trägt vielmehr auch ihre Globalisierung.
Privatdetektivromane waren schon immer ein weltweit beliebter Lesestoff – anscheinend ist ihre Formel überall verständlich und liest sich immer mit Genuss. Aber das heißt noch nicht, dass ihre Konstruktion in jeder Gesellschaft funktionieren würde. Bei reinen Märchen wie denen von Agatha Christie ist dies noch unerheblich, und auch die abstrakten Deduktionen von Edgar Allan Poe brauchen keinen Boden in außerliterarischen Realitäten. Aber mit der realistischen Wende aller Kriminalliteratur, also seit Dashiell Hammett, stellt sich immer die Frage, »ob so was auch wirklich geht«. In den USA dürfen die Herrschaften einfach mehr unternehmen, wofür sie zum Beispiel in Deutschland schon nach der dritten Seite in den Knast wandern würden. Deswegen kommen aus den USA interessantere Romane, während Deutschland bis auf zwei oder drei Ausnahmen keine erwähnenswerten Privatdetektivromane zu bieten hat.
In der Türkei, so erzählt Celil Oker, hat das Lesevergnügen an Privatdetektivabenteuern eine lange und schöne Tradition – es handelte sich meistens um Übernahmen aus den USA und landeseigene Produkte im amerikanischen Stil und mit Handlungsort USA. Vor Okers Remzi Ünal gab es denn auch nur einen autochthonen türkischen Romanhelden aus diesem Genre: Murat Davman aus der Feder von Ümit Deniz. Remzi Ünal aber ist zweifellos der zeitgenössische Privatdetektiv in einem Staatswesen, das hart am Polizeistaat entlangschrammt und das für einen Ermittler auf eigene Faust und auf eigene Rechnung wenig Verwendung hat. Aus dieser Situation heraus ist Remzi Ünal entworfen: Mit dem Staat und dessen Sicherheitsorganen möchte er lieber nichts zu tun haben. Bislang gelingt ihm das auch. Oker blendet dieses Stück Realität einfach aus – und kommt damit durch. Seine Ünal-Romane sind dennoch Romane aus der heutigen Türkei, erkennbar und im Detail.
Womit wir wieder beim Privatdetektivroman an und für sich wären. Aus dem rein literarischen Konzept, so wie es in Poes The Murders in the Rue Morgue ausgefaltet wurde, ist eine Erzählweise geworden, die mit Realitäten künstlerisch umgehen kann, ohne in den Verdacht des Platt-Realistischen zu geraten, weil sie durch die Verwendung einer artifiziellen Figur an ihrem Literaturcharakter keine Abstriche machen muss. Remzi Ünal aus Istanbul ist eine Kunstfigur, die uns mit Geschichten aus der türkischen Wirklichkeit unterhält. Und weil sie eine Kunstfigur ist, können wir die Geschichten ohne Problem in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich, in England, in den USA oder in Spanien genießen. Ünal ist universell.