Verbrechen wird gemeinhin verstanden als schwerwiegender Verstoß gegen die Rechtsordnung einer Gesellschaft oder die Grundregeln menschlichen Zusammenlebens. Es handelt sich also, allgemein gesprochen, um eine von der Gemeinschaft als Unrecht angesehene und als ihre vom Gesetzgeber als kriminell qualifizierte und mit Strafe bedrohte Verletzung eines Rechtsguts durch einen verbrecherischen Akt.
Diese Definition geht optimistisch davon aus, dass es stets eine Instanz in einer Gesellschaft gibt (national unterschiedlich ausgerichtet), die für die Einhaltung dieses Rechts sorgt, vor dem – theoretisch – alle gleich sind. In Argemís Roman Und der Engel spielt dein Lied geht es unter anderem um die vollständige Aushebelung einer solchen Instanz, die einen Teil der Bevölkerung eines Landes zu Freiwild macht und dem Individuum somit jeden Schutz auf dieses Recht entzieht. Die Rede ist von der Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 in Argentinien – doch der Autor geht weit darüber hinaus, da er sich nicht nur mit den Verbrechen einer Staatsführung beschäftigt, sondern vor allem mit deren Verquickung mit den Machenschaften gemeiner Verbrecher, die sich auf einmal dazu gezwungen sehen, mit einem korrupten Polizeiapparat und äußerst brutal agierenden Militärs gemeinsame Sache zu machen, um zumindest einen Teil ihres »Geschäftsfeldes« zu retten und so in hohe Politik verstrickt werden, obwohl sie diese im Grunde überhaupt nicht interessiert.
Auch wenn dieses Thema allein genug Zündstoff und Material für einen spannenden Kriminalroman bietet, verhandelt der Autor Raúl Argemí noch weitere Dimensionen von Verbrechen in seinem Text. Eine davon ist vollkommen losgelöst vom gesellschafspolitischen Kontext und als Kulminationspunkt des Romans angelegt: Dabei handelt es sich um ein einzelnes Verbrechen – ein sogenanntes Kapitalverbrechen, da es sich um Mord handelt –, das durch eine unglückliche Verkettung von Umständen den Täter zu einer tragischen, vom Schicksal gebeutelten Figur werden lässt und ihn somit der banalen Rolle eines im Grunde Kleinkriminellen enthebt. Jedoch rettet ihn das nicht vor seiner Strafe, die wiederum ein aus Rache verübter Akt von Selbstjustiz ist, also ebenfalls außerhalb jeder Rechtsprechung stattfindet.
Des Weiteren gibt es eine historische Dimension, die sowohl eine schicksalhafte als auch verbrecherische Komponente besitzt und über die Landesgrenzen Argentiniens hinaus zurück nach Europa führt, genauer gesagt nach Osteuropa. Die Rede ist von Zwi Migdal, später in Varsovia umbenannt, einer Zuhälterorganisation, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts systematisch osteuropäische Jüdinnen nach Südamerika lockte, um sie dort als Prostituierte, sogenannte »curves« (der Begriff stammt aus dem Jiddischen), arbeiten zu lassen – ein Thema, das in der Aufarbeitung der europäischen Auswanderungsgeschichte bisher kaum Beachtung fand. Dieser historische Hintergrund wird personalisiert in der Figur des Kriminellen »Polaco«, dessen Mutter unter genau diesen Umständen nach Argentinien kommt und nur durch eine glückliche Fügung dem elenden Schicksal eines Prostituiertendaseins entgeht.
Erzählt wird der Roman aus der Perspektive eines Kriminellen, was spezifisch für den Autor Raúl Argemí ist, denn ein sogenannter Gesetzeshüter als zentrale Romanfigur kommt für ihn nicht infrage. Zum einen hat dies mit der großen Aversion des Autors gegen jede Form staatlicher Autorität zu tun, und zum anderen fußt es auf seiner Überzeugung, dass Gerechtigkeit eine Illusion, wie Argemí in einem Interview sagt: »Philip Marlowe ist eine Figur, die an Gerechtigkeit glaubt; er glaubt, dass Gerechtigkeit möglich ist, und er ärgert sich darüber, dass die Richter sie nicht durchsetzen. Auf der anderen Seite weißt du in Lateinamerika, dass sie sie nicht durchsetzen werden, da das hier gegen die Natur wäre.«
Durch die Erzählperspektive gelingt es Argemí, den Leser tief in die Lebenswelt des argentinischen Verbrechermilieus eindringen zu lassen, und in der Retrospektive wird außerdem von Schlüsselereignissen aus dem Leben des Protagonisten El Negro berichtet, die sein Scheitern und seinen Niedergang bereits vorwegnehmen. Der hohe Grad an Authentizität, sowohl in der Darstellung einer kriminellen Unterwelt als auch der Befindlichkeit des Protagonisten, wird außerdem durch die sprachliche Ebene erreicht, genauer gesagt den Jargon, in dem sich die Hauptfiguren unterhalten; es herrscht ein rauer Ton, und Botschaften werden in knappen Dialogen, durchsetzt mit Codewörtern übermittelt(»Vögelchen« ist z. B. die Bezeichnung für illegale politische Gefangene, die von den Militärs an geheimen Orten festgehalten werden).
Diese spezifische Verortung verleiht dem Roman mit seinen vielschichtigen Zeit- und Handlungsebenen eine der entscheidenden Qualitäten eines Kriminalromans. Es wird kenntnisreich und mit klugen literarischen Verfahren ein Stück düstere, argentinische Lebenswirklichkeit vermittelt. Poetik, die Realität von Verbrechen in seinen verschiedenen Ausformungen und schicksalhafte Fügung werden somit aufs Vortrefflichste verknüpft.