Alle glaubten an einen Unfall. Der Arzt bestätigte, dass sie gestürzt sei und sich dabei schwer am Kopf verletzt habe. Eineinhalb Monate nach der Beerdigung hob man das Grab erneut aus, holte María Marta García Belsunce aus dem Sarg und untersuchte ihre Leiche erneut: Fünf Einschusslöcher hatte sie im Schädel. Die Löcher hatte jemand mit Leim zugeklebt. Der Mord erschütterte Argentinien. Denn García Belsunce wurde nicht im Zentrum der Millionenmetropole Buenos Aires oder in einem Armenviertel erschossen, sondern in einer bewachten Wohnanlage vor den Toren der Stadt. Bis dahin galten diese Rückzugsgebiete für die Reichen und die obere Mittelschicht als absolut sicher.
Eine dagegen hatte schon vorher befürchtet, dass so etwas geschehen könnte: Als die argentinische Krimiautorin Claudia Piñeiro von dem Mord erfuhr, steckte sie mitten in der Arbeit zu ihrem Roman Die Donnerstagswitwen: einem Krimi, der vom Tod dreier Männer in einer bewachten Wohnanlage erzählt. »Erst wollte ich mit dem Schreiben aufhören. Ich befürchtete, alle würden behaupten, ich wäre wegen dieses Falles auf die Idee gekommen. Aber dann dachte ich mir: Wenn mein Buch erscheint, wird man vielleicht immer noch nicht wissen, wer der Mörder gewesen ist«, sagt Piñeiro.
Und so kam es auch: Nach der Veröffentlichung galt sie als Prophetin. Auch, weil einige Zeit nach dem ersten Mord wieder eine Frau in einer Wohnanlage erschossen wurde, dann eine andere erdrosselt. Und Claudia Piñeiro erhielt den Premios Clarin, einen der wichtigsten Literaturpreise des Landes.
»Diese Morde haben uns der Illusion beraubt, dass uns hier nichts passieren kann«, sagt Piñeiro. Sie wohnt selbst in einer Gated Community bei Buenos Aires, in Highland Park. Dieses völlig abgeschlossene Dorf, sagt sie, sei doch ein klassisches Krimi-Sujet. Keiner komme hier raus, fast wie im Orientexpress: Der Mörder ist noch unter uns. Wie aber gelingt es einem Verbrecher, in eine Gated Community einzudringen? Die Siedlungen sind von einem Stacheldrahtzaun und einer Mauer umgeben, überall sind Wachleute mit Funkgerät und Pumpgun. Arbeiter und Gärtner sind registriert, Besucher müssen angemeldet sein. »Wenn der Mann durchs Tor will, der meinen Computer repariert, ist das jedes Mal ein Riesentheater. Er hat ein altes Auto, es wird genau durchsucht«, erzählt Piñeiro. Sie findet das übertrieben: »Ich bin vor 15 Jahren nach Highland Park gezogen. Ich hatte keine Angst in der Stadt, sondern wollte ein Leben in Ruhe, im Grünen.«
Den meisten Menschen, die hier leben, geht es anders: Sie haben Angst vor allen, die von draußen kommen. Jeder Fremde könnte ein Dieb, Mörder oder Vergewaltiger sein. Schon wer zu Fuß unterwegs ist, macht sich verdächtig. Pinero erzählt, wie sie einmal Besuch von einem Fotografen hatte. »Die Nachbarn sahen, dass er Fotos von meinem Haus machte und informierten den Sicherheitsdienst.« So ist es auch heute: Nach zwei, drei Fotos kommt der Wachmann angerannt und fragt, was los sei. Claudia Piñeiro glaubt, dass auch die Wachleute Angst haben .
Wenn es ein Verbrecher einmal über die Mauer schafft, hat er leichtes Spiel: Drinnen gibt es keine Gitter an den Fenstern, bis vor wenigen Jahren waren nicht einmal Gartenzäune erlaubt. Die Sicherheit ist nur etwas wert, wenn man sie nicht spürt, wenn nichts daran erinnert, dass draußen Gefahr lauert. Es gehört zum guten Ton, sein Haus nicht abzuschließen. Tief verwurzelt ist der Glaube an die Sicherheit innerhalb der Community. Selbst wenn der Dieb schon in der Küche steht: »Ich dachte, es wären Freunde meiner Kinder«, sagte eine Frau der Zeitung Clarin, nachdem sie zwei vermummte Einbrecher mit einer Schrotflinte bedroht hatten. Sie glaubte, es sei ein Witz. Es war keiner: Die Diebe sperrten die Familie in ein Zimmer ein und verschwanden mit Geld und Schmuck.
»Natürlich kann so etwas passieren«, sagt Claudia Piñeiro. »Hier gibt es schließlich etwas zu holen.« Aber dass die Sicherheitsbestimmungen weiter verschärft werden, dass die Wachleute am liebsten von jedem Besucher ein Foto hätten, dass der Zaun um die Siedlungen durch eine Betonmauer ausgetauscht wurde, das findet sie lächerlich. Einen Satz brauche man seinen Kindern nicht beizubringen, sagt Piñeiro: »Mit Fremden spricht man nicht.« In der Gated Community gibt es keine Fremden: Sobald jemand hier ein Haus hat, gehört er dazu. »Andere Eltern lassen ihre Kinder hier nachts ohne Sorge allein rumlaufen. Ich mache das nicht«, sagt sie.
Lange wusste man nicht, wer Maria Marta García Belsunce getötet hat. Erst dieses Jahr wurde der Witwer wegen Mordes an seiner Frau verurteilt. Verfahren laufen auch gegen andere Familienmitglieder und einen Nachbarn. Sie sollen die Löcher im Kopf zugeklebt, das Blut weggeputzt und den Arzt bestochen haben. Auch bei den anderen Mordfällen stammen die Verdächtigen meistens aus dem Umkreis der Opfer. Und immer geht es um viel Geld, denn das haben hier alle.
Was hilft kilometerlanger Stacheldraht, wenn die Gefahr gar nicht von außen, sondern von innen kommt? »Hier wohnen 3.000 Menschen,« sagt Claudia Piñeiro. »Jeder kann herziehen, sobald er genügend Geld hat. Aber Geld macht dich nicht automatisch zu einem guten Menschen.«
Von Steffen Seibel, Freitag