Ich lebe selbst in einem Country. Ich bin vor fünfzehn Jahren nach Highland Park gezogen, nicht weil ich Angst in der Stadt hatte, sondern weil ich ein Leben in Ruhe, im Grünen wollte. Einen Satz braucht man seinen Kindern hier nicht beizubringen: Mit Fremden spricht man nicht. Manche Eltern lassen ihre Kinder sogar nachts ohne Sorgen allein rumlaufen. Arbeiter und Gärtner sind registriert, Besucher müssen angemeldet sein. Wenn der Mann durchs Tor will, der meinen Computer repariert, ist das jedes Mal ein riesen Theater. Er hat ein altes Auto, es wird genau durchsucht.
Grundsätzlich habe ich nichts dagegen, wenn sich jemand zum Wohnen zurückzieht. Man muss sich aber der Folgen bewusst sein. Jede Entscheidung hat Auswirkungen. Im Roman möchte ich die Frage aufwerfen, bis zu welchem Punkt man gehen kann, was noch vertretbar ist und wo die Grenzen erreicht sind. Die gehobene Mittelklasse, um die es in Die Donnerstagswitwen geht, hat eine unverzeihliche Schuld auf sich geladen. Sie will nicht sehen, in welcher Situation sich die Menschen in ihrer Umgebung befinden. Einigen wird es bewusst, wenn es bereits zu spät ist, anderen nie. Wenn man von einer wirtschaftlichen Situation profitiert, schaut man lieber nicht so genau hin. Und in den beschriebenen zehn Jahren lag vieles im Argen.
Ein abgeschlossenes Dorf wie so ein Country ist für mich ein klassisches Krimi-Sujet. Keiner kommt hier raus, fast wie im Orientexpress: Der Mörder ist noch unter uns. Als das Buch erschien, kamen in Argentinien ähnliche Vorfälle ans Licht, und man fragte mich oft, ob der Roman davon inspiriert worden sei. Ich hatte ihn aber schon vorher geschrieben. Darauf sprach man von »hellseherischer« Literatur, was natürlich genauso wenig stimmt. Es gibt Dinge, die in der Luft liegen. Alle können sie wahrnehmen, aber es ist der Schriftsteller, der ihnen mehr Aufmerksamkeit schenkt und über sie schreibt.
Ich lese sehr gerne Krimis, Raymond Chandler gefällt mir, Truman Capote, der Noir, weil dort ebenfalls gesellschaftskritische Fragen tangiert werden, weil hinter der Handlung Dinge versteckt geschehen. Mir gefällt die Bösartigkeit einer Patricia Highsmith. Manche ihrer Romane spielen vor einem ganz ähnlichen sozialen Hintergrund wie meine Romane. Als ich Die Donnerstagswitwen schrieb, hatte ich eine Erzählung von John Cheever im Hinterkopf: Der Schwimmer. Dieser schwimmt von einem Pool zum nächsten und durchmisst dabei auch einen sozialen Raum. Zu jener Zeit habe ich auch Manuel Puig gelesen. Zwischen meinem Roman und seinen Büchern gibt es Parallelen. Die Gated Community ist trotz allem ein ganz normaler Wohnort, und obwohl keine Figur der Realität entnommen ist, fühlen sich vielleicht manche auf den Schlips getreten. Man sagte zu mir: »Es wird dir wie Puig ergehen, am Ende wollte niemand mehr in seinem Dorf mit ihm zu tun haben.« Bei Puig gefällt mir, dass er das Augenmerk auf das Alltägliche richtet. Man hat den Eindruck, dass nichts passiert, aber im Verborgenen geht eine ganze Menge vor sich.
Als ich die Arbeit am Buch begann, habe ich Teile aus der Ich-Perspektive und Teile aus der personalen Perspektive erzählt. Der Plural wurde notwendig, weil ich in der ersten Person nicht alles erzählen konnte. Es wäre auch untypisch für dieses Umfeld. Der Plural dient dazu, Dinge zu erzählen, die andere nicht wissen. Zudem wohnt dieser Perspektive eine Unverbindlichkeit inne. Die Anonymität der Masse erlaubt uns erst, Gehörtes weiterzuerzählen.
Die Heuchelei, das Unter-den-Teppich-Kehren, das Zur-Schau-Stellen eines glücklichen Familienlebens, während hinter verschlossenen Türen das Pulverfass kurz vor dem Explodieren ist, ist eine menschliche Schwäche. Sie wird nicht erst durch den Ort bestimmt, sondern war schon vorher da. Es gibt aber zweifelsohne Orte, die diese Verhaltensweisen begünstigen. In dem Kapitel, das vom Verbrechen handelt und mit dem Fund der drei Leichen im Swimmingpool endet, steht die Beschreibung des Hauses, in dem eine dieser Familien lebt, im Vordergrund. Sie war nötig, um das Verbrechen zu erzählen.
Die Charaktere in Die Donnerstagswitwen definieren sich über das, was sie »haben«, und nicht über das, was sie »sind«. Als sie das, was sie haben, verlieren und da sie glauben, die Krise werde ewig dauern, ist diese nicht mehr nur wirtschaftlicher Natur. Sie löscht gewissermaßen ihr Leben aus. Die Krise, in Argentinien und auch im Roman, war voraussehbar, aber die Protagonisten in Die Donnerstagwitwen bemerken sie erst, als es zu spät ist. Ein außenstehender Betrachter sieht, dass alles schon angelegt war und die Wirtschaftskrise es nur ans Licht gebracht hat. Das Personal im Buch kann diesen Schluss nicht ziehen.
Der Roman wurde aus unterschiedlichen Blickwinkeln gelesen. Er ist sogar außerhalb der Literaturwelt, in Rechtsfakultäten, von Soziologen, Anthropologen, Kommunikationswissenschaftern und Psychologen, diskutiert worden, obwohl er reine Fiktion ist. Das zeigt, dass die Geschichte von verschiedenen Seiten betrachtet und angegangen werden kann. Die Lesart der Literaturkritiker, mit der ich mich aus künstlerischer Hinsicht am besten identifizieren kann, ist die, dass in Die Donnerstagswitwen eine Welt der Dekadenz dargestellt wird, häufig mit dem Zusatz »westlich« versehen. Und dass die Andersartigkeit eher dargestellt als verurteilt wird. Kritik entsteht nicht aus dem, was gesagt, sondern aus dem, was gezeigt wird. Dieser Standpunkt entspricht mir. Es ist heute nicht mehr die Aufgabe des Autors, anzuprangern, mit einer Moral zu enden, wie dies vor einigen Jahrhunderten der Fall war. Der Autor zeigt auf und erzählt. Es ist die Aufgabe des Lesers, daraus Schlüsse zu ziehen.
Bei Lesungen sagen mir Menschen immer wieder, dass sie eine der Personen wiedererkannten, als gäbe es diese tatsächlich. Es fand sich hingegen kaum jemand, der sich selbst in den Charakteren sah. Es ist einfacher, etwas in den anderen zu sehen, als zu akzeptieren, dass man selbst, wenn auch nur geringfügig, diesen Charakteren ähnelt.
Aus Interviews mit Claudia Piñeiro, geführt von Steffen Seibel, Freitag, Jorgelina Nuñez, Ñ, und Giuliano Aluffi, La Repubblica.