Friedrich Glauser und Frank Göhre: Sie haben beide die gleichen Initialen, Sie sind beide Autoren von stilbildenden Kriminalromanen. Welche Gemeinsamkeiten gibt es noch zwischen Glauser und Göhre?
Das habe ich mich auch oft gefragt. Ich bin bis heute noch nicht ganz hinter das Geheimnis gekommen. Ich kann nur sagen, was mich vom ersten Moment angezogen hat: Das war die Suche nach Glück und seine Drogengeschichte. Nicht, dass ich ein Junkie bin, aber ich habe natürlich auch meine Süchte, meine Sehnsüchte. Meine Suche – wie bei Glauser – nach Anerkennung, angenommen, geliebt zu werden. Das sind die Momente, in denen ich ihm sehr nahe bin. Dieses Umtriebige des Glauser habe ich in gewisser Weise auch. Obwohl ich jetzt schon seit über fünfundzwanzig Jahren hier in Hamburg wohne, zieht es mich immer wieder weg. Meine Frau sagt inzwischen, am wohlsten fühlst du dich, wenn du auf Reisen bist – und das stimmt.
Dies sind einige Eckpunkte, die ich nennen kann. Was mich bei seinem Schreiben fasziniert, ist, wie er Atmosphäre schafft. Das versagt sich mir, das bewundere ich. Ich mache es vielleicht auf eine andere Art. Aber die Bilder, die er findet, sind großartig. Sicher waren da auch Drogen im Spiel – das muss man einfach zugeben. Aus früheren Drogenerfahrungen weiß ich, wie einem so ganz plötzlich bestimmte Formulierungen einfallen.
Sonst weiß ich keine Gemeinsamkeiten, außer dass wir beide Kriminalromane schreiben – er geschrieben hat und ich schreibe. Und das, was ich in Mo zum Schluss zitiere – »Mit Kriminalromanen hat man angefangen, das Wichtige erscheint später« –, das erhoffe ich bei mir ja auch immer noch.
Friedrich Glauser gilt als eine Art Vaterfigur des deutschsprachigen Kriminalromans. Aber eigentlich ist er von seiner Person her kein Vater – das wird in Mo ganz deutlich. Er ist ein Getriebener, ein unruhiger Geist.
Ich glaube, die Vaterfigur bezieht sich eher auf die Figur des Wachtmeisters Studer, nicht auf Glauser selbst. Ich bin der Überzeugung, dass die meisten oder, sagen wir mal, achtzig Prozent der deutschen Krimi-autoren, die heute schreiben, keine Vorstellung davon haben, wer Glauser war. Sie kennen bestenfalls den Wachtmeister Studer und wissen vielleicht, dass Glauser eigentlich der erste deutschsprachige Autor war – jedenfalls der jüngeren Zeit, des 20. Jahrhunderts –, der Kriminalgeschichten geschrieben hat. All das macht ihn zur Vaterfigur.
Natürlich gab es schon vor Glauser Kriminalromane und Kriminalnovellen. Das geht weit zurück, bis zu Schiller und anderen. Nur: Friedrich Glauser hat Anfang des 20. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum etwas völlig Neues begonnen. Dürrenmatt wurde von ihm stark beeinflusst, hat das fortgeführt. Glauser selbst ist von Simenon und der Maigret-Figur beeinflusst worden.
Dass die Vereinigung der deutschsprachigen Kriminalautoren ihn zu ihrem Schutzpatron gemacht hat, hängt damit zusammen. Ich habe damals im Syndikat einen Vortrag über Glauser gehalten, und als es dann um einen Namen für den Krimipreis ging, hat man gesagt: »Nehmen wir den Glauser.« Es leuchtete allen ein, weil sein Wachtmeister Studer damals wieder populär wurde und der Name daher auch bei den Lesern Anklang finden würde. Daher glaube ich nicht, dass es die Person Glauser ist, sondern sein Studer und das, was er verkörpert.
Schon eine ganze Weile begleitet Sie nun der Friedrich Glauser. 1988 erschien der Bildband Zeitgenosse Glauser und nun, zwanzig Jahre später, Mo – der Lebensroman des Friedrich Glauser. Sie kommen nicht los von ihm?
Das geht nun schon seit 1980 so. Die Herausgabe von Glausers Büchern im Arche Verlag, die ich mit Nachworten versehen habe, und später Zeit-genosse Glauser – das war für mich eine wunderbare Arbeit. Ich habe versucht, sein Leben als Collage zusammenzustellen. Dafür habe ich Bildmaterial verwendet, das damals im Arche Verlag lag, teilweise aber auch in Bibliotheken herausgesucht werden musste, und autobiografische Äußerungen Glausers und entsprechende Passagen aus den Romanen. Der Leser sollte in dieser Monografie vor allem eigene Texte von Glauser lesen. Ich habe sehr sparsam Zwischentexte zu den Bildern geschrieben. Damit, dachte ich, sei die Geschichte zu Ende.
Dann aber erschien zur gleichen Zeit die zweibändige Glauser-Biografie von Gerhard Saner, und Bernhard Echte begann mit der Herausgabe der großen Werkausgabe beim Limmatverlag, die im Taschenbuch später beim Unionsverlag erschien. So habe ich immer mehr und auch Neues über Glauser erfahren. Vollgestopft mit Wissen und Hinweisen, ist die Biografie von Saner für mich aber unlesbar. Man muss viel Geduld und Liebe aufbringen, um durchzukommen.
So habe ich mir gesagt: Eigentlich fehlt ein Buch, dass es dem normalen Leser ermöglicht, sich mit der Person Glauser anzufreunden, neugierig zu werden auf das, was er geschrieben hat. Ein biografischer Roman, eine Erzählung als Einstieg, das war mein Anspruch. Und da dieses Genre mittlerweile hinlänglich bekannt ist, habe ich mich entschieden, so die Lücke zu schließen.
Aber wie viel Fiktion steckt denn in Mo?
Das ist schwierig zu beantworten. Bis auf wenige Passagen – nämlich die Krankheitsprotokolle – ist eigentlich alles von mir. Aber das, was ich geschrieben habe, beinhaltet wiederum Zitate, Momente, Situationen aus dem Lebenswerk von Glauser. Ich habe es mir aufgrund der mehrfachen Lektüre angeeignet, es verarbeitet, komprimiert und in eigene Worte gefasst, auch die kursiv gesetzten Abschnitte, die Tagebücher und die Notizen sind von mir. Glauser hat in dem Sinne – jedenfalls weiß das keiner und Bernhard Echte hätte es sicher auch herausgefunden – keine Tagebücher geschrieben. Die Tagebuchform ist von mir erfunden worden, aber sie ist durchsetzt mit Momenten aus Briefen, Passagen seiner Romane, aus Überlegungen, die er anderswo angestellt hat, sodass man eigentlich sagen kann: Der Autor Göhre hat sich in die Figur Glauser hineinversetzt und sein Tagebuch geführt, über den Fortgang seiner Arbeit mit den Romanen. In der Realität hat sich Glauser in Briefen damit auseinandergesetzt und mitgeteilt.
Wie sieht es mit den historischen Personen aus, zum Beispiel mit Glausers zahlreichen Frauenbekanntschaften? Haben Sie die verfremdet?
Es gibt Verfremdungen, aber die Figuren haben alle einen ganz konkreten Bezug zu damals lebenden Personen. Nur habe ich aus Persönlichkeitsschutzrechten die Namen verändert. Ich hatte vorher mit einigen Literaturwissenschaftlern gesprochen, die mir geraten haben: »Wenn du einen Roman schreibst, dann sage nicht ›Emmy Ball-Hennings‹, sondern erfinde für sie einen Namen. Man weiß nie, ob nicht irgendwo noch eine Urenkelin von Ball-Hennings lebt, die möglicherweise sagt, meine Urgroßmutter hatte nie mit dem Glauser ein sexuelles Verhältnis. Dagegen klagen wir.« Das war der Hintergrund.
In der ersten Fassung des Romans benutzte ich noch alle realen Namen, da hatte ich ›Emmy Ball-Hennings‹ und ›Hugo Ball‹ stehen, da hatte ich auch den Psychiater, den Vormund erwähnt und Beatrix Gutekunst und Bette Bendel mit richtigem Namen genannt. Einen Skandal wollte ich nicht. Ein kleiner Verlag wie Pendragon hätte solche Klagen gar nicht verkraften können.
Ist Friedrich Glauser für Sie auch heute noch ein Zeitgenosse?
Ich halte ihn für einen Zeitgenossen, eben wegen der Radikalität, die er gelebt hat. Seine radikale Suche nach Ruhe, Geborgenheit, verbunden mit dem Umtriebigen, Nichtsesshaften, verbunden mit dem Drogenkonsum – das macht ihn zu jemanden, der sehr aktuell ist, der uns nahesteht. Er ist nicht der etablierte Bürger, der gesetzte Schriftsteller – er ist ein Suchender. Elfriede Jelinek, die ein großer Glauser-Fan ist, hat einen kleinen Essay über ihn geschrieben, in dem sie ihn auch als Zeitgenossen betrachtet, auch in seinem Krankheitsbild, das Ausdruck unserer Gesellschaft ist. Daher denke ich, Glauser hat noch immer eine große Aktualität.
Die Popularität der Wachtmeister-Studer-Romane hat noch andere Gründe. Da ist sicherlich Glausers Suche nach einem ruhigen Pol zu nennen. Eine bekannte Psychoanalytikerin hat mir geschrieben, dass für sie Studer der trockene, ordentliche Vater, nicht der alkoholkranke und seine Alkoholsucht krampfhaft unterbindende Vater ist. Sie hat ihn den nüchternen Vater genannt, der mit beiden Beinen fest auf der Erde steht. Zwar hat er seine Ecken und Macken, er ist aber nicht gefährdet. Ich glaube die Figur des Studer kommt vielen Lesers entgegen: einer, der nicht strafend oder zynisch ist, sondern eine ruhige Art hat, sich hinsetzt oder »abhockt«, wie der Schweizer sagt; der seinen Zigarillo, seine »Brissago« raucht, den Leuten zuhört und sich dann seine eigenen Gedanken macht; der sich auch reibt an all dem, an dem sich auch Glauser gerieben hat. In Matto regiert gibt es eine Stelle, wo Studer mit dem Psychiater aneinandergerät: Was kann die Psychoanalyse leisten? Was nützt es, einen Menschen so aufzubrechen, dass er alles preisgibt? Das sind Themen, die Glauser immer angetrieben haben. Diese Fragen sind es, die auch heutige Leute noch beschäftigen.
Das Interview wurde geführt von Ludger Menke im März 2008 für krimi-blog.de.