Schreiben als Wiedergutmachung
Die deutschen Leser können sich glücklich schätzen. Endlich erscheint Gran Sol in ihrer Sprache – einer der gelungensten Romane jener Riege junger spanischer Autoren, die ihre schriftstellerische Laufbahn in der Mitte des vorigen Jahrhunderts begann und die wir als die «50er-Generation» kennen. Glänzende Schreiber, die sich anschickten, die spanische Literatur zu erneuern, indem sie das, was die Sieger des Bürgerkriegs darunter verstanden, weit hinter sich ließen. Ignacio Aldecoa zählt zweifellos zu den berühmtesten Vertretern dieser Gruppe, neben Rafael Sánchez Ferlosio (Am Jarama), Jesús Fernández Santos (Die tapferen Toren) oder Carmen Martín Gaite (Vom Fenster aus) sowie auch Luis Martín Santos, der mit seinem Schweigen über Madrid den spanischen Roman auf Augenhöhe mit dem brachte, was im übrigen Europa geschrieben wurde. Leider starben die beiden begabtesten Autoren dieser Gruppe viel zu früh: Martín Santos 1964 mit nur vierzig Jahren, und eben Ignacio Aldecoa 1969 im Alter von vierundvierzig Jahren. Die Generation dieser neuen Roman-ciers -verwarf sowohl die Rhetorik, welche mit der Literatur der Sieger über das graue geknebelte Spanien gekommen war, als auch den «dunklen Realismus» eines Camilo José Cela mit seiner hochmütig darwinistischen Sicht des Menschen, der für ihn ein grausames dummes Tier war, auf das der Schriftsteller tief herabsah.
Ein belebender Skeptizismus kennzeichnete die neuen Literaten, die auch «die enttäuschte Generation» genannt wurden, was sie in einer Gesellschaft, die kein Abweichen duldete, verdächtig machte. Die diskrete Rebellion dieser Literaten war umso empörender, als die meisten wohlhabenden Familien entstammten, die sich im Fall Sánchez Ferlosio sogar in Regierungskreisen bewegten. Carmen Martín Gaite brachte diese Haltung einmal auf den Punkt, als sie sagte: «Wir waren lieber enttäuscht als betrogen.» Sie wollten die Wirklichkeit wieder so betrachten, wie sie war, ohne die Einmischungen und ideologischen Scheuklappen der Diktatur. Ignacio Aldecoa formulierte es so: «In diesen mit Rhetorik überfrachteten Zeiten ist nur noch die Sprache der Dinge selbst zu verstehen.»
Dazu bedurfte es eines literarischen Instrumentariums, zu dem die minutiöse Beobachtung der Wirklichkeit (vor allem der Welt der Arbeit und jener Lebensbereiche, die der Macht und der Kultur besonders fernstanden) ebenso gehörte wie eine rigorose Dienstbarmachung der Sprache. Darüber hinaus sollte die Sprache als moralische Option gesehen werden: der Schriftsteller als sozialverantwortliches Wesen -rechtfertigt sich durch schnörkellos strenge Arbeit als Antwort auf die Mühe, die weniger Glückliche täglich für ihn aufbringen. Aldecoa repräsentiert diesen neuen Geist besser als jeder andere. Die von der Kritik als klassisch gelobte Eleganz und Vollkommenheit seines Schreibens tritt im Rahmen des Gesamtwerks als Wiedergutmachung hervor. Durch seine literarische Produktion gibt ein privilegierter junger Mann zurück, was er jenen verdankt, die am untersten Ende der Sozialskala schuften; den heldenhaften Malochern, deren Geschichte zu erzählen sich kein Mensch die Mühe macht und die Carmen Martín Gaite in einer Rede zu Aldecoas fünfundzwanzigstem Todestag «unbeschriebene Menschen» nennt, die nur deshalb nicht vergessen sind, «weil sie das Glück hatten, dass Ignacio Aldecoa aufschrieb, was sie selbst nicht erzählen konnten oder wollten, weil sie entweder niemanden hatten oder weil sie -einfach mehr dazu geschaffen waren, die Wirklichkeit auszuhalten und ihr die Stirn zu bieten, als sie in Worte zu fassen».
In den vier Romanen, die zu schreiben seine Lebenszeit reichte, sind die Protagonisten Fischer (Gran Sol und Parte de una historia), Landgendarmen (Glanz und Blut) oder Zigeuner (Mit dem Ostwind) – Menschen am Rande der Gesellschaft, die sich im Alltag heldenhaft verhalten, ohne dass sie es ahnen; Menschen, die keiner kennt und die keine andere Bezahlung verlangen als den – meist erbärmlichen – Monatslohn. Aldecoas Lastwagenfahrer in «Kilometerstein 400», der Busfahrer in «Der neue Schaffner» und der Büroangestellte in «Die Zukunft ist nicht ganz so schwarz» sind Helden moderner Epen; ebenso berührt uns das harte Los der Schnitter in «Immer noch arm», der stille Heldenmut der Gleisarbeiter in «Santa Olaja vom Stahl» oder die Willensstärke des armen Boxers in «Young Sánchez». Bewegend auch all die Geschichten von Kindern – dieser anderen Gruppe von Menschen ohne Geschichte –, die man in seinen besten Erzählungen findet. All diesen namenlosen Menschen, die ihr Leben einsetzen und oft genug verlieren, damit die Begünstigten ein unbeschwertes Leben führen können, ihnen erweist Ignacio Aldecoa seine Reverenz.
Indes, wir haben es hier nicht mit einem Reportageautor zu tun, der das berichtet, was er sieht, oder aufnimmt, was er hört. Wer sich in Aldecoas Werk vertieft, hat das Gefühl, all die Menschen zu kennen, die seine Romane und Erzählungen bevölkern; sie auf der Straße gesehen, sie sprechen gehört zu haben und ihr Vokabular zu kennen; glaubt, das Werkzeug, mit dem sie arbeiten, selbst in den Händen zu halten. Die Disziplin seines Schreibens ist vorbildlich, ausgefeilt und kongruent; sie schafft einen dichten erzählerischen Raum. Aldecoa macht aus denen da unten Romanfiguren, macht sie zu Helden eines komplexen Erzählens, das ihnen Tiefe und Würde verleiht.
In ihrer Sozialgeschichte der spanischen Literatur vergleichen Carlos Blanco Aguinaga und Rodríguez Puértolas Aldecoas Literatur mit der von Flaubert in Ein schlichtes Herz. In dieselbe Richtung zielt natürlich auch der vernichtende Blick von unten, aus dem Maupassants «Boule de suif» entstanden ist, oder jene bewegende Einstellung in der Erzählung «Pulver und Asche», die sich in Joyce’ Dubliners findet.
Gran Sol, das jetzt auf Deutsch vorliegt, ist ein Eckstein im Kanon dieser Literatur; sowohl thematisch – der Alltag der kantabrischen Hochseefischer – als auch wegen der klaren Präzision seines Stils. Aldecoa fühlte sich von jeher zum Ozean, der Welt der Fischer, hingezogen: wegen des Raums am Rand der Gesellschaft, der ungewöhnlich harten Arbeit, wegen dem, was wir den heldenhaften Kampf ums Überleben nennen; einmal ist er mit den Fischern gefahren, um ein Gefühl für die Wahrhaftigkeit dessen zu bekommen, was in diesem außergewöhnlichen Roman beschrieben wird, der 50 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung immer noch volle Gültigkeit besitzt.
Aldecoa lässt uns an der Arbeit und den Sorgen der Fischer teilhaben, lässt uns ihre körperliche Gegenwart spüren, lässt ihre Stimmen, ihr Lachen und Fluchen ertönen, aber bringt auch ihre Gedanken zum Ausdruck. Er zeigt uns ein von größter Wahrhaftigkeit geprägtes Bild, indem er die Menschen Mensch sein lässt, ohne sie zu Symbolen zu machen. Als Hochseefischer unterscheiden sie sich von uns, die wir andere Berufe haben; zugleich jedoch sind sie gar nicht so anders als wir. Sie sind, obwohl sie in einer rauen, gnadenlosen Umgebung härter ums Überleben kämpfen müssen, Menschen wie wir. Gran Sol ist der Roman eines Berufsstands, der wegen der Hingabe, die er erfordert, zu einer Lebensart wird; der Roman des Hochseefischers, wie Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus der Roman des Gefangenen ist. Beide Texte weisen auf das Gemeinsame, ohne uns den Reichtum des Individuellen vorzuenthalten.
Aldecoa analysiert den Fischer, indem er ihn in seinem Alltag zeigt. Darum ist Gran Sol auch der Roman der Landschaft, die diese Persönlichkeit formt: ein Buch des unbeständigen Meeres, des Himmels und des Wetters; ein Buch des Schiffes, das Wohnraum und Arbeitsgerät in einem ist; aber auch das Buch der Fische, die diesen Männern ins Netz gehen. Und so hat uns Ignacio Aldecoa einen großen Meeresroman geschenkt, der Faszination und Bedrohung ist, Kombüse und Grab, Maschinenraum und Gefäß für den Mythos.
Der Leser schlägt dieses Buch auf, und schon tritt er ein in eine Welt, die ebenso geographisch wie menschlich ist; die nach Abenteuer klingt, aber vor allem eine Sammlung alter handwerklicher Künste darstellt: wir haben das Gefühl, uns unter diesen Männern zu bewegen, die an Bord der Aril arbeiten, essen und schlafen. Der Leser riecht diese Männer, und er riecht die Meeresluft, die sich mal drohend und dann wieder sanftmütig zeigt. Er fühlt die salzige Feuchtigkeit auf der Haut, den kalten Regen, die rissigen Planken und die Fasern der Netze. Alles findet sich in diesem Buch, fühlbar, intensiv, greifbar, weil Aldecoa sich in dieser dankbaren Wiedergutmachung fremder Arbeit höchste Genauigkeit abverlangt hat, wann immer es darum geht, die Dinge bei ihren Namen zu nennen: den Zustand des Meeres, seine Morphologie, Winde, Wolken, Arbeitsgerät, Navigationsinstrumente. Er beschreibt all das mit den präzisen, über Jahrhunderte angesammelten und glattgeschliffenen Begriffen aus des Fischers ureigenem Wörterbuch. So bringt uns der Autor nicht nur die Welt der Fischer nahe, er überbringt uns auch das unerwartete Geschenk eines wahren Sprachschatzes, in dem die ganze Kultur eines Berufsstandes aufgehoben ist, die angehäufte Weisheit von Generationen und das präzise Vokabular, mit dem diese Weisheit sich mitteilt. Ignacio Aldecoa belohnt die Mühen dieser Hochseefischer damit, dass er sie zu Überbringern ihrer Geschichte macht und damit, dass er ihnen die eigene Sprache zurückgibt, unsterblich macht.
Rafael Chirbes