»Ich wollte«, so der Autor Murat Uyurkulak in einem Interview, »dass für die gesamte Lesezeit, ob nun drei, fünf, zehn, zwanzig oder wie viele Stunden auch immer, lärmend ein Zug durch die Seele des Lesers fährt.« Und tatsächlich, sein Roman Zorn, 2002 in Istanbul erschienen, nimmt uns auf eine atemberaubende Zugfahrt ins südostanatolische Diyarbakir mit – atemberaubend nicht wegen des Tempos des Zuges, sondern wegen der sich unablässig wandelnden Perspektiven direkt oder lose zusammenhängender Geschichten, die während dieser Zugfahrt erzählt, gelesen oder gedacht werden. Sie alle entführen die Leser in eine Türkei, die so ganz anders ist als das Bild, das seit geraumer Zeit von ihr entworfen wird: ein nach Demokratie und Wirtschaftskraft strebendes Land, das seine Aufnahme in die Europäische Union betreibt und das ein sehr beliebtes und immer noch halbwegs exotisches Reiseland ist. Viele, auch jüngste Buchveröffentlichungen in Deutschland, tragen zudem dazu bei, das Bild vom historischen Morgenland mit dem osmanischen Sultan-Kalifen an der Spitze lebendig zu halten. Mit Haremsfantasien, wirtschaftlicher Dynamik und demokratischen Prozessen hat Murat Uyurkulaks Zorn allerdings nicht das Geringste zu tun: Das Buch zeigt uns, radikal und ohne Beschönigungen, die Welt der linken Untergrundkämpfer, die in der Türkei insbesondere in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts aktiv waren. Im Zentrum von Zorn stehen, immer aus der männlichen Perspektive der revolutionären Kämpfer, Ereignisse, die sich um den Militärputsch vom 12. September 1980 ranken. Dieses einschneidende Ereignis in der Geschichte der modernen Türkei, von den einen als Beendigung langjähriger bürgerkriegsähnlicher Zustände begrüßt, von anderen als Beweis dafür, dass die Türkei unfähig zur Demokratie sei, beklagt, hat auch sonst in der Literatur häufig seinen Widerhall gefunden: Ein bekanntes Beispiel ist der Roman Bogazkesen (»Der Eroberer«, 1998) von Nedim Gürsel, in dem historische Szenerien um Sultan Mehmet II. (reg. 1451–1481) mit der Zeitgeschichte um den 12. September 1980 verwoben sind. Was uns Murat Uyurkulak mit Zorn bietet, ist allerdings etwas völlig anderes und kann, wenigstens zum Teil, aus der Biografie des jungen und in der Türkei mittlerweile sehr erfolgreichen Schriftstellers verständlicher gemacht werden, der mit Har (»Brennend heiß«, 2006) bereits seinen zweiten Roman vorgelegt hat.
Murat Uyurkulak wird 1972 in der westanatolischen Stadt Aydin geboren. Beide Eltern, der Vater Lehrer, sind Kommunisten, sein Onkel ist Mitbegründer der kurzlebigen (1990–1991) Vereinigten Kommunistischen Partei der Türkei (Türkiye Birlesik Komünist Partisi). In einem Interview weist Uyurkulak darauf hin, dass er einer Familie angehöre, die seit drei Generationen links sei. Ein weiteres Kennzeichen seines familiären Umfelds sei ein von guter Laune und Trinkgelagen geprägtes Lebensgefühl. Politische Gründe zwingen Familie Uyurkulak, in die Gegend von Izmir zu ziehen, wo Murat aufwächst. Er besucht die dortige Universität, um Jura und Kunstgeschichte zu studieren, bricht sein Studium jedoch bald ab und übt diverse Tätigkeiten als Techniker, Koch, Kellner, Übersetzer oder Journalist aus. Gleichzeitig ist er in der linksrevolutionären Szene aktiv. Er ist allerdings weniger dem Typus »intellektueller Linker«, der seine Zeit mit der Lektüre von Marx und Lenin verbringt, zuzurechnen: Vielmehr gehört er zu den Aktivisten, die sich dem Trotzkismus und auch dem Anarchismus verbunden fühlen. Anfang der Neunzigerjahre beginnt er zu schreiben, zunächst Gedichte, später Prosa. Im Jahr 1999 zieht Uyurkulak schließlich nach Istanbul, wo er seither lebt und u. a. als Journalist für die Zeitung »Radikal« arbeitet. Sein erster Roman Zorn, der im Original den kurdischen Titel »Tol« (»Rache«) hat und an dem der Autor nach eigener Aussage sechs Jahre lang arbeitete, wird 2002 veröffentlicht und lässt ihn sofort bekannt werden. Nur drei Jahre später liegt bereits eine türkische Theaterfassung vor, die Ende 2005 auch in Berlin und 2006 in Wiesbaden aufgeführt wird. Eine polnische Aufführung findet 2007 in Poznan statt. In der Türkei selbst überschlägt sich die Literaturkritik mit enthusiastischen Urteilen zu diesem »nichtoffiziellen Blick auf die nichtoffizielle Geschichte der Türkei« (Selah Kemaloglu), und in die Türkische Bibliothek ist der Roman nicht zuletzt wegen der Empfehlungen führender türkischer Literaturkenner aufgenommen worden. Was aber macht die Faszination eines Werkes aus, das auf den ersten Blick in der Hauptsache Lebensweisen zu vermitteln scheint, die in Deutschland mit seinerzeit bekannten Sprüchen wie »High sein, frei sein, Terror muss dabei sein« oder »Die Liebe und der Suff, die reiben den Menschen uff« wiedergegeben werden könnten? Ist es das kraftvolle Motiv »Zorn« oder »Wut« auf den türkischen Staat, das das ganze Werk durchzieht, dessen Sprache prägt und das den Autor überhaupt erst veranlasste, zu schreiben? In einem Interview aus dem Jahr 2003 äußert Uyurkulak: »Meine Wut ist die Wut auf das System, auf den Kapitalismus, den Faschismus, die Herrschenden … Die Menschen in diesem Land müssten furchtbar wütend sein, denke ich. Ich glaube nicht, dass die da oben sich auch nur eine Minute halten könnten, wenn nicht jeder Kopf, der sich nach draußen wagt, niedergeknüppelt würde. In den Gesprächen, die ich in Istanbul mit Taxifahrern führte, stellte sich heraus, dass sie alle davon träumten, die Parlamentarier umzubringen. Es war ja nicht so, dass ich für das Buch extra Wut hätte produzieren müssen, ich habe schlicht die vorhandene beim Schreiben ästhetisiert.«
Was bringt einen jungen Mann wie Murat Uyurkulak dazu, derartigen Zorn zu empfinden, vielleicht vergleichbar dem Zorn, der ja auch immer wieder von Mitgliedern der RAF gegenüber dem Staat geäußert wurde? Es ist angebracht, hier einen kurzen Rückblick auf die Geschichte der Republik Türkei zu werfen: Ohnehin müssen sich die Leser von Zorn darauf einstellen, von Murat Uyurkulak in einem Parforceritt mit vielen Ereignissen und Personen der neueren türkischen Geschichte konfrontiert zu werden, und ich empfehle zum Nachschlagen den Gebrauch von entsprechender Literatur, z.B. die Kleine Geschichte der Türkei (Stuttgart 2003) von K. Kreiser und C.K. Neumann. Man muss beispielsweise erst einmal wissen, dass es das Jahr 1955 war, in dem ein Attentat auf Atatürks Geburtshaus in Saloniki stattfand, um den zeitlichen Rahmen abstecken zu können, wenn es in Zorn heißt: »Seit der Geschichte mit Atatürks Geburtshaus sind fünf Jahre vergangen.« Vieles dürfte dennoch erst bei intensiver Auseinandersetzung mit dem Roman deutlich werden, z.B. dass sich hinter den Bezeichnungen »der Blutige Talat, Vater Kemal, Ohren-Ismet, Millionär-Adnan, der Magere Bülent und Hals-Süleyman« die Staatsmänner Talat Pasa (1874–1921), Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938), Ismet Inönü (1884–1973), Adnan Menderes (1899–1961), Bülent Ecevit (1925–2006) und Süleyman Demirel (geb. 1924), Letzterer bekannt durch seine mächtige Halspartie, verbergen.
Mustafa Kemal Pasa, der spätere Atatürk, hatte versucht, die Türkei als Nachfolgestaat des über sechshundert Jahre bestehenden Osmanischen Reichs (ca. 1300–1923) in einem Hauruckverfahren aus allen Wurzeln zu lösen, durch die dieses große Imperium mit dem arabisch-persischen Kulturkreis verbunden war und dessen gemeinsame Basis der Islam bildete. Erklärtes Ziel des »Großen Führers« (Ulu Önder) und seiner Gefolgschaft, den Kemalisten, war es, die Türkei so schnell wie möglich nach Europa zu führen, in eine Zivilisation, die sie als einzige dem Türkentum angemessene Zukunft betrachteten. Es muss immer wieder betont werden, wie unglaublich radikal die Maßnahmen waren, die der kemalistische Staat ergriff, um dieses Ziel zu verwirklichen: Die Abschaffung von Sultanat (1922) und Kalifat (1924), jahrhundertelang Sinnbilder islamischer Herrschaft, bildete den Anfang, gefolgt u. a. von der Annahme des gregorianischen Kalenders und dem Verbot des Fez, der traditionellen männlichen Kopfbedeckung (1925), der Übernahme verschiedener europäischer Rechtssysteme (ab 1926), der Einführung der Lateinschrift (1928) und einer damit verbundenen und bis heute andauernden Sprachreform, die als »katastrophaler Erfolg« (Geoffrey Lewis) das Ihre dazu beitrug, sich von der weitgehend arabisch-persisch geprägten osmanisch-türkischen Sprachform und damit auch von der osmanisch-islamischen Vergangenheit zu entfernen. Wer sich jenseits der Geschichtsbücher einmal darüber informieren möchte, welche Auswirkungen diese und andere Umwälzungen auf das alltägliche Leben hatten oder haben konnten, der sei auf die Romane Die Mieter des Herrn A. von M. S. Esendal und Sich hinlegen und sterben von A. Agaoglu hingewiesen, beide in der Türkischen Bibliothek enthalten.
Die Atatürk-Zeit ist die Ära des Kemalismus, einer monolithischen Staatsideologie, die keinerlei andere Weltanschauungen neben sich duldete, und hier vor allem nicht islamische oder kommunistische. Die extrem nationalistischen Ideologien – ebenso wie die kommunistischen zwar offiziell untersagt – konnten auf dem Boden eines auch von den Kemalisten gepflegten Nationalismus und von ihnen mythisch verbrämten Zentralasien als »Urheimat« der Türken jedoch bis heute eine nicht unbedeutende Wirkungskraft entfalten und sind, wenn auch oft in abgemilderter Form, in populärwissenschaftlichen Darstellungen, Romanen und Schulbüchern stets präsent geblieben. Auf das Konto diverser turko-faschistischer Gruppierungen, die mythologische Namen wie »Ergenekon« tragen, gehen aber auch diverse Attentate bzw. Mordpläne, z. B. in jüngster Zeit gegen Orhan Pamuk, zurück In jedem Fall waren und sind diese Gruppierungen, hauptsächlich in der 1969 gegründeten Nationalistischen Aktionspartei (Milliyetci Hareket Partisi) organisiert, neben dem Militär einer der wichtigsten Gegner der revolutionären Linken in der Türkei.
Hielt sich der Widerstand gegen die umwälzenden Maßnahmen zu Lebzeiten Atatürks noch in Grenzen, zeigte sich bald nach seinem Tod, dass insbesondere der Islam, den man durch staatliche Überwachungsmaßnahmen zu beherrschen und letztlich abzuschaffen glaubte, seinen Stellenwert in der Bevölkerung weitgehend behalten hatte. Dies hängt auch damit zusammen, dass die Kemalisten ihren Reformeifer, ganz in osmanischer Tradition, fast ausschließlich auf die großen Städte wie Ankara oder Istanbul und Izmir geworfen hatten und das weite anatolische Land mit den Traditionen und Bedürfnissen seines Volkes ihnen immer fremd geblieben war. Was die Intellektuellen, und hier besonders die Literaten, betrifft, sind es vor allem »linke« Ideen, aber auch pantürkistische Nationalideologien, die sich »illegal« neben dem Kemalismus weiterbehaupten und auch verfolgt werden. Bekannte Beispiele für sozialistisch orientierte Autoren sind Nazim Hikmet (1902–1963) oder Sabahattin Ali (1907–1948), Letzterer in der Türkischen Bibliothek mit dem Roman Der Dämon in uns vertreten. So gut wie alle »linken« Autoren mussten für ihre Einstellung persönliche und berufliche Nachteile in Kauf nehmen und zumeist Gefängnisstrafen verbüßen, sodass sich das geflügelte Wort vom »türkischen Gefängnis als Schule des literarischen Realismus« herausbilden konnte. Der Schriftsteller und ehemalige kommunistische Kämpfer Ahmet Ümit hat in seinem Roman Nacht und Nebel (deutsch in der Türkischen Bibliothek 2005) anschaulich auch diesen Gefängnisalltag linksintellektueller Schriftsteller und Dichter beschrieben. Wie gesagt, Islam und »linke« Ideen sind von Atatürk und den Kemalisten immer als die gefährlichsten Herausforderungen ihrer Staatsideologie empfunden worden, und vor diesem Hintergrund ist auch das mehrmalige Eingreifen des türkischen Militärs, des Gralshüters des Kemalismus, in die aktuelle Politik zu sehen: Gemeint sind vor allem die Militärputsche oder Staatsstreiche der Jahre 1961, 1971 und 1980, aber auch das Verbot der islamischen Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) 1997 oder die ganz aktuellen Diskussionen um die Wiederzulassung des »Kopftuchs« für Studentinnen türkischer Universitäten.
Die Linke in der Türkei hat in ihrer ideologisch angestrebten Klientel, der Arbeiterschaft, nie richtig Fuß fassen können, ist quantitativ immer unbedeutend gewesen und lief stets Gefahr, zwischen ihren wichtigsten Gegnern, den Militärs und der türkischen Rechten, zerrieben zu werden. In Konsequenz sind, neben mehr oder weniger erfolglosen Parteigründungen, der Untergrundkampf und die Guerillataktik die vorherrschenden Merkmale der diversen linken Splittergruppen, seien sie sowjetisch, trotzkistisch, maoistisch oder eher anarchistisch orientiert. In Zorn wird anschaulich beschrieben, wie schwierig es ist, aus Ansammlungen von Desperados und Einzelkämpfern so etwas wie eine ideologisch geschulte, schlagkräftige Gruppe zu bilden. Diverse, wenn auch oft diffuse Verbindungen linker türkischer Gruppierungen bestanden und bestehen auch zu kurdischen Befreiungsorganisationen, die dem türkischen Staat den Kampf angesagt haben und von denen die bekannteste die Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkeren Kurdistan, PKK) ist. Auch in Zorn spielt der kurdische Faktor eine große Rolle, wie bereits aus dem Originaltitel »Tol« , der dem Zaza-Kurdischen entnommen ist, hervorgeht. Der Autor, der auch einige Zeit mit einer Kurdin verheiratet war, führt aus: »Tol heißt Rache auf Kurdisch. Ich habe dieses Wort sehr gemocht, denn das türkische intikam klingt so vertraut, wirkt irgendwie lockerer. Tol klingt da wie ein Hammer. Und dann ist es auch noch Kurdisch. Die Sprache der größten Gruppe, die am Rand steht. Neunzig Prozent des Landes sind arm, die sind eh am Rand, Frauen, Homosexuelle … Ich bin kein Kurde, aber ich habe diesen Namen benutzt und mich dabei in der Rolle eines Gastes gesehen … Die Fahne der Aufklärung halten heute in der Türkei die Kurden hoch, und sie sind es auch, die am meisten lesen.«
Wie geht nun ein junger, linker und staatskritischer Autor, der zur Zeit des Militärputsches von 1980 gerade acht Jahre alt war, mit diesem Thema um? Wir können davon ausgehen, dass der kleine Murat aufgrund der politischen Prägung durch sein Elternhaus diesen Putsch sehr wohl bewusst erlebt hat und sich sehr viel mehr dafür interessiert haben dürfte als für die im selben Jahr in London stattgefundene Geschlechtsumwandlung des berühmten Schlagersängers Bülent Ersoy, die seinerzeit in der Türkei großes Aufsehen erregte. Politisch nähergekommen sind sich die beiden übrigens in der jüngsten Vergangenheit, als sich Frau Ersoy vehement gegen die türkische Militäroffensive gegen die Kurden im Nordirak Anfang 2008 ausgesprochen hat …
Das in Zorn beschriebene Leben der Revolutionäre und ihres Umfelds wird von Uyurkulak mit großer Nüchternheit und in einer Sprache, die äußerst direkt, bisweilen vulgär ist, als eine Mischung aus eher diffusen politischen Idealen, persönlichen Problemen, Alkoholkonsum, Prügeleien und mehr oder weniger befriedigenden sexuellen Beziehungen beschrieben: ein Leben oft im Untergrund oder auf der Flucht und stets in gefährlicher Abgrenzung vom verhassten türkischen Staat – eigentlich Tristesse pur, wenn es nicht auch Komik, Solidarität und Hoffnung gäbe, ohne die die beschriebenen Figuren für die meisten Leser wohl nur Ritter von der traurigen Gestalt wären. Und dies ist eines der vielen Momente, die die Faszination von Zorn ausmachen: Uyurkulak schreibt sich seine Wut von der Seele, rechnet gleichzeitig mit vielen eigenen Genossen ab, ist jedoch in der Lage, vor allem in Gestalt des »Dichters«, menschliche Größe bei allen Schwächen ins Spiel zu bringen und skurrile Situationen und Typen, etwa im Hotel Hoffnung, plastisch und farbenfroh zu zeichnen. Erwähnt sei z. B. die tragikomische Geschichte vom buckligen Mehmet, der nicht weiß, dass sein Gewinnlos der Lotterie, mit dem er eines günstigen Tages das Hotel Hoffnung kaufen will, längst ungültig geworden ist. Und überhaupt sind für Murat Uyurkulak seine Kämpfer gegen das Unrecht, mögen sie einem manchmal noch so desaströs vorkommen, die wahren Helden, für die er sich vehement einsetzt: »Natürlich sind sie Helden, gute und unschuldige Menschenkinder. Wer auch nur einen Augenblick lang gedacht hat, sie hätten vergessen und verraten, seien gefallen, der soll nicht mehr weiterlesen.« Wir wollen jedoch weiterlesen …
Uyurkulak bettet sein Anliegen, den revolutionären Linken, den Unterdrückten, Entrechteten und Armen ein literarisches Denkmal zu setzen, in die erwähnte Zugfahrt Istanbul–Diyarbakir, die um die Jahrtausendwende stattfindet und sich als roter Faden durch das ganze Buch zieht. »Ein Zug«, sagt er, »macht Krach beim Vorbeifahren, und so etwas sollte der Leser spüren.« Und das Rattern dieses Zuges ist auch überdeutlich zu spüren, vor allem in den kurzen, abgehackten Gesprächsfetzen zwischen den beiden Protagonisten Yusuf und dem »Dichter«, dessen Name uns nicht verraten wird. Yusuf, der mit siebzehn Jahren ein Mathematikstudium begonnen und gleich wieder abgebrochen hat, der zu masturbieren pflegt und gerne amerikanische Filme im Kino sieht, war Korrektor bei einem kleineren, nicht gerade renommierten Verlag und ist wegen zurückliegender politischer Aktivitäten gerade entlassen worden. Er ist jetzt dreißig Jahre alt. Wir erfahren zunächst nur, dass er ohne Vater aufgewachsen ist – der entschwand vor seiner Geburt –, seine »verrückte« Mutter Canan sich umgebracht hat, als er in die Grundschule kam, und dass er in einem Kinderheim aufgewachsen ist. Auf besagter Zugfahrt, die er angetrunken und ohne festes Ziel antritt – er weiß gar nicht, wohin die Reise geht –, kommt er in seinem Abteil mit einem schwarz gekleideten älteren Mann, Typ später Anthony Quinn, zusammen, den er als Gast seiner Stammkneipe wiedererkennt. Gleich zu Beginn ihrer gemeinsamen Fahrt kommt – mit dem Geruch von Raki – der Alkohol ins Spiel, bald gesellen sich jede Menge Zigaretten, später »Gras«, also Haschisch, hinzu, und der ständige Gebrauch bzw. die ständige Erwähnung dieser Rauschmittel lassen auch den Leser in einen gewissen Trancezustand geraten, immer wieder abrupt unterbrochen durch die Intensität der Gespräche und des Handlungsverlaufs. Keine der beiden Figuren ist auf Anhieb sympathisch: Hier haben sich zwei »kaputte Typen« getroffen. Erst langsam wird deutlich, was hinter diesem scheinbar zufälligen Treffen steckt: Der »Dichter«, ein Altrevolutionär, der auffällig viele Details aus Yusufs Leben kennt, z. B. dass dieser früher einmal Gedichte geschrieben hat, will Yusuf über das Schicksal seines verschollenen Vaters, eines langjährigen Freundes und Genossen des »Dichters«, informieren. Yusuf weiß so gut wie nichts von seinem Vater, nur, dass er mehrere Jahre wegen revolutionärer Umtriebe im Gefängnis verbracht hat. Der »Dichter« scheint jedoch sehr viel mehr über Oguz, so der Name von Yusufs Vater, zu wissen und gibt Yusuf aus einem Konvolut von Manuskripten, die er bei sich trägt, nach und nach Seite um Seite davon zu lesen. Und nun beginnt das Verwirrspiel, das den Leser in Atem hält, denn häufig weiß er nicht, was genau er eigentlich liest: Auszüge aus diesen Manuskripten, Erzählungen des »Dichters« bzw. von Yusuf oder vom Autor selbst eingestreute Bestandteile.
Schwierig nachzuvollziehen ist auch, wie die einzelnen Teile chronologisch einzuordnen sind. Aber diese Herausforderung für den Leser hat durchaus Methode: Wie Uyurkulak in mehreren Interviews berichtet, ging es ihm auch gar nicht darum, in Zorn einen genau durchdachten, stringenten Handlungsstrang mit scharf konturierten Personen zu bieten: Er ließ dem Schreiben freien Lauf, und so sieht sich der Leser gezwungen, den kreativen Schreib- und Entwicklungsprozess so gut es geht nachzuvollziehen. Wichtiger als ein Abbild der Wirklichkeit sind Uyurkulak Bilder und Stimmungen, die die Hintergründe und Lebensvollzüge der Revolutionäre sowie ihrer mächtigen, aber gleichwohl persönlich armseligen Gegner einfangen sollen. Als ein solcher Gegner wird zunächst »der Böse« schlechthin vorgestellt: Ismail, der Bruder des »Dichters«, ein korrupter Politiker, der sein Mäntelchen nach dem Winde hängt, ein Repräsentant des verhassten Staates, in der Türkei als »derin devlet – tiefer, undurchsichtiger Staat« bezeichnet. Als solcher ist er der natürliche Gegner auch seines Bruders, versucht jedoch, diesen bei mehreren Gelegenheiten aus prekären Situationen zu retten, ja sogar, ihn und seine Freunde im »Revolutionsviertel« vor dem bevorstehenden Putsch 1980 zu warnen. Seine »zwei Seelen« zeichnen ihn auch ansonsten aus: Geboren 1923, im Gründungsjahr der Republik, ist er gleichzeitig treuer Beamter des Staates wie auch Spieler, Trinker und Frauenheld. Er verkörpert in Zorn die auf diversen undurchsichtigen Ebenen der Geheimdienste arbeitenden Gruppen, die vor allem den linken Elementen den Kampf angesagt haben und dabei vor keinem Mittel zurückschrecken: Stützen des Staates wie er sind der wohl wesentliche Grund für Wut und Zorn, die von Uyurkulak beschrieben werden und die er, wie wir wissen, ja auch selbst empfindet. Bis zu Ismails Selbstmord am Silvesterabend 1999 wird dieser dem Leser noch des Öfteren begegnen, nicht zuletzt als Funktionär diverser Parteien: Anfangs trägt Ismail eine Anstecknadel mit sechs Pfeilen, dem Symbol der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi), der Partei Atatürks, später eine Nadel mit der »Biene« darauf, dem Zeichen der Vaterlandspartei (Anavatan Partisi) des langjährigen Minister- bzw. Staatspräsidenten der Türkei Turgut Özal (1927–1993), der diese Ämter von 1983 bis 1993 innehatte. Die Figur Ismail wird in Zorn sehr detailliert geschildert, wohl nicht zuletzt, um zu zeigen, mit wem es die wagemutigen und gleichzeitig oft psychisch labilen linken Kämpferinnen und Kämpfer zu tun haben. Insbesondere das Verhältnis mancher der von Uyurkulak geschilderten Revolutionäre zu Frauen und zum Alkohol ist kaum anders als gestört und selbstzerstörerisch zu bezeichnen. Ismail ermordet zu Beginn seiner Karriere, in der Regierungszeit des später hingerichteten Staatspräsidenten Adnan Menderes (reg. 1950–1960), zunächst das Pärchen Müyesser und Mahmut, die beide – eine der wenigen konkreten historischen Angaben in Zorn – im Zuge der 1923 im Vertrag von Lausanne ausgehandelten ethnischen Säuberung, euphemistisch Bevölkerungsaustausch genannt, aus Griechenland in die junge Türkei gekommen waren. Des Weiteren entführt Ismail die verheiratete Leyla, macht aber trotz seiner Untaten Karriere im Staatsdienst und tut sich hier vor allem als »Anarchisten-Verfolger« hervor. Als er das Hotel Hoffnung, in dem auch Oguz, der Vater von Yusuf, wohnt, als Versammlungsort und Bordell für Parteifunktionäre und Geheimdienstmitarbeiter mietet, überlebt er, mitten beim Sex mit einer Prostituierten, nur knapp einen Mordversuch durch Oguz. In mehreren im Roman eingestreuten Gesprächen mit seinem Bruder, dem »Dichter«, offenbart sich eine fast unmenschliche Persönlichkeit, die nicht zu fassen ist und sich in einer symbolträchtigen Szene geradezu in Rauch auflöst. Dass Ismail keinerlei Verständnis für den Bruder und dessen politische Meinungen aufbringt, ist nicht verwunderlich, aber immerhin verdankt der »Dichter« das Tagebuch des Oguz eben diesem Ismail, der es ihm kurz vor seinem Selbstmord, den er vor den Augen des »Dichters« begeht, übereignet. Doch wer verbirgt sich hinter Oguz, dem Vater des Yusuf? Wir lernen ihn kennen, als er, um die zwanzig, mit Canan, Yusufs späterer Mutter, in einem heruntergekommenen Stadtviertel zusammenzieht. Beide sind der linken, revolutionären Szene zugehörig und leben im Untergrund. Das Viertel wird für sie zum Zentrum ihrer politischen Tätigkeit. Ausgerechnet hier gibt es gewisse Bezüge auf den Islam, wenn nämlich Oguz häufig als »Prophet« bezeichnet wird, an dessen Buch man glaube. Ein »Prophet« allerdings, der säuft und masturbiert … Oguz, so erfahren wir, ist angeblich der uneheliche Sohn eines indischen Botschafters und wächst im Kinderheim auf, das er mit achtzehn Jahren verlässt. Dass er in diesem Kinderheim von anderen Jungen brutal vergewaltigt wird, erfährt der Leser ganz nebenbei, aus einem scheinbar harmlosen Gespräch von Oguz mit dem buckligen Mehmet im Hotel Hoffnung. Hier, wie so oft, hat der Leser das beklemmende Gefühl, der Zug rattere durchdringender als sonst auf seiner Reise in menschliche Abgründe … Oguz ist dunkelhäutig und hinkt von Geburt an, weil sein rechtes Bein kürzer ist. Dieser Umstand, verbunden mit dem Idol seiner Kindheit, dem Räuberhauptmann »Hinkender Ahmet« führt dazu, dass er nach dem Mordversuch an Ismail, der zu seiner Verhaftung führt, den Namen Ahmet wählt. Aus Oguz’/Ahmets Aufzeichnungen, die dieser in der Zeit vor dem Putsch 1980 verfasst hat, und aus Bemerkungen des »Dichters« lernt Yusuf nach und nach während der durch diverse Halts unterbrochenen Zugfahrt mehr und mehr über seinen Vater, auch dass dieser vom ehemaligen Mitkämpfer Coskun, der es später zum Minister bringt, verraten worden ist. Das Gespinst von zusammengehörigen, nur scheinbar getrennten Ereignissen, das das ganze Buch durchzieht, zeigt sich deutlich, als es Yusuf bewusst wird, dass er während seiner Tätigkeit als Korrektor das Buch eines Sensationsjournalisten zu bearbeiten hatte, das das Attentat auf Ismail zum Inhalt hatte, natürlich ohne zu wissen, dass der geschilderte Attentäter sein eigener Vater gewesen war. Nach fünf Jahren kommt Ahmet frei, zieht nach Istanbul, arbeitet stets mehr oder weniger betrunken in einem Restaurant und frischt seine alte Freundschaft mit dem »Dichter« durch zahlreiche Briefe an ihn auf, die z.T. allerdings gar nicht abgeschickt werden. Er möchte den in Paris weilenden »Dichter« dazu bewegen, sich erneut dem revolutionären Kampf in der Türkei anzuschließen. Dann zieht er sich, von den Genossen – diese gehören mittlerweile einer ganz neuen Generation an, die Ahmet nicht mehr versteht – wegen seiner Trinkerei und zunehmender geistiger Ausfälle verstoßen, auf den Berg Gabar im Südosten der Türkei, nahe der Grenze zu Syrien und dem Irak, zurück, in eben das Gebiet, wo es seit langer Zeit, und so auch Anfang des Jahres 2008, immer wieder zu Zusammenstößen des türkischen Militärs mit kurdischen Rebellen kommt. Als der »Dichter« den verwahrlosten und verwirrten, gleichwohl von der Bevölkerung verehrten Ahmet dort trifft und ihm erzählt, dass er einen Sohn habe, ist die einzige Reaktion: »Dann soll er kommen und sich uns anschließen.« Und hier liegt das Motiv, warum der »Dichter« sich auf die Suche nach dem verlorenen Sohn Yusuf macht und ihm die Geschichte seines Vaters zugänglich macht. Doch wer ist eigentlich genau der Dichter«, eine weitere Hauptperson in Zorn? Wenn es, neben Yusuf, so etwas wie einen Sympathieträger im Roman gibt, dann ihn, den um das Jahr 1938 Geborenen. Mögen seine Zähne vom vielen Rauchen schimmlig grün verfärbt sein, mag er trinken, dass dem Leser schlecht wird, er ist eine Art Hoffnungsträger im Sammelsurium der in Zorn versammelten Revolutionäre. Insbesondere die hingebungsvolle Pflege seiner jahrelang in Paris gelähmt und schwer krank daniederliegenden Frau Esmer zeigt diesen altgedienten, zynischen Revolutionär von einer zutiefst menschlichen Seite. Die wilde Esmer ist, neben Canan und einer Freundin des Verräters Coskun, zugleich eine der wenigen Frauengestalten in Zorn, von der ein etwas differenzierteres Bild entsteht. Sie lässt sich während einer Zugfahrt nach Ankara vom »Dichter« schwängern und bringt ein Kind, Ada, »Insel« genannt, zur Welt. Dieses merkwürdige Wesen, das eher tierische denn menschliche Eigenschaften besitzt und die Genossen durch Explosionen in der Kanalisation unterstützt, gehört als »Kind der Revolution« zu den surrealistischen Elementen in Zorn, die den Leser häufig daran zweifeln lassen, auf welcher Ebene – Fakt oder Fiktion – er sich denn gerade befindet. Hierzu gehören auch die von Ada ausgelösten Explosionen im Land durch Bombenanschläge, die während der Zugfahrt stattfinden: Realiter haben sie nicht stattgefunden, sondern sie sind ein Bild, ein Hoffnungsschimmer für die permanente Revolution, an die Uyurkulak und seine Gefährten glauben.
Der Roman ist, neben den oben erwähnten, dicht bevölkert von weiteren Figuren: Da gibt es Ayse, die erste Liebe des »Dichters«, Asya, seine große Liebe, die mit ihrem Mann tödlich verunglückt, Sadi und Adnan, Freunde und Genossen von Oguz und Canan im »Revolutionsviertel«, Vedat, den treuen Freund Ahmets, dem eines Tages jedoch alles zu viel wird, den schwulen Genossen Salih, die sexy Philosophiestudentin Nur, Mehmet, Aslan und Nezahat, die heruntergekommenen Bewohner des Hotels Hoffnung, die Puffmutter Kira Mama Neba, Selen, die Schönheit aus Ägypten, Timur, der einen Dozenten auf dem Gewissen hat, den Säufer Professor Ali Ihsan, Yüksel, den Genossen und Regisseur von Sexfilmen, oder seinen zeitweiligen Geliebten Atakan Koral, der das Foto seines Lebens schießt. Die einzige Person, die nachweislich nicht trinkt – allerdings verstärkt Haschisch raucht – und ein, wenn auch wirres, religiöses Element in den Roman bringt, ist der Genosse Imam Hüseyin, der später im Honaz-Gebirge, im Südwesten der Türkei, erschossen wird. Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt der überaus vielen Personen, die in vielfältiger Weise in das mehrdimensionale Geschehen verwoben sind, in dessen Zentrum der 12. September 1980 steht. Der Leser benötigt ein fast kriminalistisches Geschick, um dieses Netzwerk von Personen und Handlungen zu entwirren, das Murat Uyurkulak so meisterhaft-verwirrend entworfen hat. Man kann davon ausgehen, dass es sich bei vielen Personen in Zorn um Menschen aus dem Freundes- und Genossenkreis von Murat Uyurkulak handelt, denen er auf diese Weise ein literarisches Denkmal setzt: Wenn nicht er, wer sollte dann diesen Vergessenen der Geschichte ein solches errichten?
Die sprachlichen Ebenen, auf denen sich das oben notwendigerweise knapp Geschilderte abspielt, sind verblüffend: Murat Uyurkulak ist in der Lage, die diversen Möglichkeiten des Türkischen kongenial auszuspielen, seien es Osmanismen, die die meisten jüngeren türkischen Leser zwingen werden, in älteren Lexika nachzuschlagen, seien es stilistische Mittel wie Reduplikationen, Alliterationen oder Wortspiele (kaz »Gans« ~ kiz »Mädchen«), sei es der Einsatz von Argotismen und Vulgarismen oder – als Krönung – die Erfindung eigener Wörter durch Verfremdung bestehender. Hier zeigt sich wiederum eine Meisterleistung in der kongenialen Übersetzung von Gerhard Meier, bei dem in der »Meeressprache«, die Uyurkulak an einer Stelle den »Dichter« erfinden lässt, eine Heilige zur »Sakrele«, eine Taxifahrerin zur »Farelle« und ein Zuhälter zum »Huring« werden.
Zorn ist kein leicht zugänglicher Roman, man merkt ihm Wut, Verbitterung, Resignation und Sarkasmus auf fast jeder Seite an, und auch die in ihrer bisweilen kindlichen Naivität fast rührenden jugendlichen Revolutionäre Uyurkulaks sind kein allzu großer Hoffnungsschimmer für eine Veränderung gesellschaftlicher Bedingungen in der Türkei. Dass die »Revolution« ausgerechnet durch den geistig verwirrten Oguz/Ahmet vorangebracht werden soll, der am Schluss des Romans vom Berge Gabar herabgestiegen kommt, zeigt jedoch, dass Uyurkulak seine Hoffnungen, die im ganzen Roman durchscheinen, nicht aufgegeben hat: »Wie schön ist die Revolution, wenn sie eine Wahrscheinlichkeit ist«, geht es Yusuf, dem Auserwählten für den neuen Kampf, zu guter Letzt durch den Kopf. Wie auch immer man das beurteilen mag: Murat Uyurkulak hat uns einen schwierigen, gleichwohl tief gehenden und faszinierenden Blick »hinter die Kulissen« ermöglicht, jenseits der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung, aber auch jenseits einer propagandistischen Revolutionsverklärung linker Gruppen in der Türkei, seien es türkische oder kurdische. Er wird sich weder bei der einen noch bei der anderen Seite Freunde gemacht haben, uns jedoch hat er einen Teil türkischer Realität vermittelt, zu dem wir ohne Romane wie Zorn keinen Zugang hätten.
Jens Peter Laut