In der Hauptfigur seines biografischen Werkes »Der Mathematiker« zeichnet Oğuz Atay ein vollkommen anderes Bild des Intellektuellen als in seinen früheren Romanen. Die Voraussetzungen für ein intellektuelles Dasein erfüllt Prof. Mustafa Inan, der der Lehrer Atays an der Technischen Hochschule war.
An den Eigenschaften Inans, auf die Atay im Roman hinweist, stellt sich heraus, dass er der Gesellschaft, in der er lebt, hinsichtlich seiner Persönlichkeit, seiner Bildung, seines Intelligenzquotienten und seiner Weltanschauung bei Weitem überlegen ist. Diese Überlegenheit soll auch in der biologischen Struktur seines Gehirns vorhanden sein. Er erzielt in seinem Studium und später in seiner beruflichen Laufbahn große Erfolge. Es ist jedoch nicht nur seine überragende Intelligenz, die ihn zu einem wahren Intellektuellen macht. Sein Leben basiert auf einem Rechenschaftsprozess, in dem er sich mit einer neuen Gesinnung bewertet und seine individualistischen Werte bewusst pflegt. Mustafa Inan ist auch einsam in der Gesellschaft, und er ist sich bewusst, dass die Menschen mit falschen Identitäten, die sich dem Wertsystem der bürgerlichen Ordnung integriert haben und den mühsamen Weg zur Selbsterkenntnis nicht einschlagen wollen, in der Mehrheit sind. In seinem Artikel mit dem Titel »Selbstdisziplin« behandelt er dieses Thema. In einem Vortrag sagt er über die gedankliche Trägheit: »Durch wissenschaftliche Forschungen ist erwiesen, dass das Denken ein physischer Vorgang ist, bei dem die meiste Energie (Kalorien) aufgewandt werden muss. Das Menschenkind jedoch, das diese Energie nicht finden kann oder das von Geburt an nicht geneigt ist, diese Mühe aufzuwenden, reagiert auf eine solche Aufgabe immer mit Trägheit. Bei jeder Gelegenheit findet es einen Weg, sich zu entziehen. Daher ist es nötig, sich an solcherart Arbeit durch Denksport und die Kunst des Denkens zu gewöhnen.«
Das Denken, die wichtigste Aktion des Intellektuellen, wird im Land Mustafa Inans nicht genügend ernst genommen. Er sieht ein, dass »die Menschen seit hunderten von Jahren nicht daran gewöhnt sind auszulegen, was sie sehen, hören und lernen«. Wie viel Wert der Staat selbst auf die intellektuellen Tätigkeiten legt, wird in diesen Worten Inans zum Ausdruck gebracht: »Ich habe unzählige Male den Hochgestellten geschrieben: sie wollen nicht Assistenten werden, meine Dozenten fliehen weg, schafft diese Beschwernis mit dem Lebensunterhalt ab! (...) Das Denken ist eine Arbeit, die viel Kalorien benötigt. Das Denken ist ein anstrengender Sport. Warum verurteilt ihr uns zu den schlechten Konditionen, während man für Fussballspieler so viel Geld ausgibt.«
Mustafa Inan bewahrt seine »naive« Komponente während seines ganzen Lebens. Er ist einfältig, bescheiden, innig und bleibt immer außerhalb des Interessenkampfes: »Wenn man mir sagt, dass ich zu naiv und leichtgläubig bin, dann sage ich ihnen (...) wir versuchen unsere Seiten zu bewahren, die euch als Mangel erscheinen.« Als die größte Schuld kritisiert er ein bekanntes Sprichwort, das die egozentrische Mentalität der Gesellschaft expressiv spiegelt: »Du musst diejenige niemals schätzen, die mit der Mentalität ›Jeder ist seines Glückes Schmied‹, erzogen werden. Es war nie der Fall, dass einer unter diesen Leuten seinem Land Nutzen brachte. (...) Und, nimm niemals die verderbte Gesellschaft als Ausrede!« Diese Worte weisen auf einen Intellektuellentyp hin, der eine andere Gesinnung vertritt als die Intellektuellen in seinen vorangegangenen Romanen, die sich der Gesellschaft völlig entfremden und die Flucht als die einzige Möglichkeit sehen. Mustafa Inan löst niemals die Bindung zur Gesellschaft, obwohl er die gleiche Problematik durchlebt. Seine Untersuchung über »Natur und Toleranz« ist eine Spiegelung seiner optimistischen Lebensanschauung, die auf dem Toleranz-Gedanken basiert und für die Synthese »Individuum und Gesellschaft« offen ist. Halit Refig meint, dass »dieser Roman ein Zeichen der Vollendung seines (Atays) Rechenschaftsprozesses und seiner Entdeckung der Werte (sei), die die Herstellung einer erneuten innigen Bindung zwischen ihm und der Gesellschaft hervorrufen.«
Der Widerspruch zwischen materiellen und seelischen Werten, der auch eine Eigenschaft der anderen Romane des Autors ist, zeigt sich ebenfalls in dem Porträt Mustafa Inans. Die körperliche Schwäche Inans und seinen lebenslänglichen Kampf mit verschiedenen Krankheiten beschreibt Atay mit einer dialektischen Erzählhaltung, indem er die tief seelische Komponente Inans hervorhebt. Seine körperliche Schwäche ist nicht einzige materielle Begründung, die Inan ruiniert. Er leidet sein Leben lang unter materieller Not; er beklagt sich jedoch nicht im Geringsten darüber. Oguz Atay meint, dass er sogar nach seinem Tod noch Schulden hatte. Mustafa Inan übertreibt seine Korrektheit nicht. Nach ihm ist »es eine Angelegenheit, die vom Wesen des Menschen abhängt: Manchen Menschen bekommt das Abirren vom rechten Weg nicht.«
Was Atay in seinem letzten Roman darstellt, ist ein reifer, toleranter und bescheidener Intellektueller, der vor allem vor sich selbst Respekt hat. Er ist ein ausgeglichener Intellektueller, der Züge der mystischen östlichen Philosophien in seiner Persönlichkeit trägt und seinen Entwicklungsprozess entsprechend den klassischen Nonnen abschliesst, obwohl er bezüglich der Prinzipien eines intellektuellen Daseins mit den anderen Protagonisten Atays auf derselben Ebene steht. Wie Atay diese ehrenhafte, überlegene Persönlichkeit respektiert, sieht man an seiner bejahenden Erzählhaltung. Das ist eine Art »Sokrates-Platon« - Beziehung. In der Persönlichkeit Mustafa Inans spiegelt Atay sein neues Intellektuellenbild.
Die kulturelle Dimension und die Synthese der östlichen und westlichen Kulturen
Lernen und Aufklären sind nach Atay die wichtigsten Funktionen eines Intellektuellen. In dem Kapitel »Der Mann, der sich allem widmet« veranschaulicht der Autor die kulturelle Komponente Inans. Er weist auf das breite Interessengebiet in verschiedenen wissenschaftlichen und kulturellen Zweigen hin, die ausserhalb seines eigenen Fachs liegen. Indische Philosophie, Literatur, Linguistik, Ethnologie, Musik and Archäologie interessieren ihn. Während er sich einerseits mit Arya-Dharma und Indianern beschäftigt, untersucht er andererseits die Kohlenstoff-14-Methode in der Archäologie. Denn, »umso mehr die Menschen wissen, desto mehr Toleranz haben sie (....). Das Lernen und das Wissen führen sie zur Universalität.«
Die Kulturspaltung im Wesen des türkischen Intellektuellen deren Wurzeln in der »Tanzimat« liegen, lässt Atay im intellektuellen Individuum seines letzten Romans zur Synthese werden. Weder ähnelt Mustafa Inan dem unruhigen Individuum von »Tehlikeli Oyunlar« , dessen Körperteile, die dem Osten gehören, gegen die Teile aus dem Westen rebellieren, nocht ist im Roman das chaotische Durcheinander der Elemente verschiedener Kulturen zu sehen, wie es in »Tutunamayanlar« der Fall ist. Wie er die Synthese zwischen Individuum und Gesellschaft realisierte, so erzielt er auch die kulturelle Synthese von Osten und Westen in seinem Wesen. »Mustafa Inan hängt mit seinem Innenleben vom Osten ab. (....) Er liest die Diwan-Literatur mit einer immer zunehmenden Neigung seit seinen Gymnasial-Jahren. Er respektiert die Gebräuche seines Landes (....) Er glaubt nicht, dass man ohne Tradition was machen kann.« Obwohl er während seiner Dissertation in der Schweiz die Ordnung, Wissenschaft und Technik des Westens sehr bewundert, denkt er nicht daran, sein Leben dort zu verbringen. In Europa sehnt er sich nach der Wärme der menschlichen Beziehungen im Osten. Die westlichen Kulturelemente assimiliert er jedoch gierig. Er liest Rudyard Kipling gern, lernt Goethes Gedichte auswendig und hört die großen europäischen Komponisten mit Bewunderung. Die klassische türkische Musik und die Diwan-Literatur beeinflussen ihn auf der anderen Seite genau so tief. Er akzeptiert nicht den Kipling-Spruch: »Der Westen ist Westen, und der Osten ist Osten. Beide können sich niemals nähern.«
In der letzten Tagebuch-Aufzeichnung, die Atay vor seinem Tod schreibt, bezieht er sich auf seinen dritten Roman: »Vielleicht war ich einer, wie einige Leute sagen, der nur von sich schreibt, wie es ihm gerade einfällt; in letzter Zeit glaube ich auch selbst immer mehr daran. In ›Mustafa Inan‹ gab es aber wohl doch einiges Neue, glaube ich.« Mit diesen Worten weist Atay auf die neuen strukturellen und inhaltlichen Elemente seines letzten Romans hin. Die heterogene Struktur seiner ersten Romane, die als Spiegelung des Inhaltlichen in der Form bewertet werden kann, und die pathetische Erzählhaltung verwandeln sich in diesem Roman in einen ruhigen, ausgeglichenen und einfältigen Sprachton mit Humor und in eine beinahe traditionelle Struktur. Sein intellektuelles Individuum erzielt geistige Harmonie. Die strukturelle Änderung seines letzten Romans ist in dieser Hinsicht ein Zeichen der Harmonie zwischen Inhalt und Struktur.
Gemeinsame Komponenten bei Atay und Frisch
Der Mensch bildet den Mittelpunkt des Schaffens der beiden Autoren. Sie beschreiben das Individuum, sein Innenleben, seine Stellung in der Gesellschaft und seinen seelischen Kampf. Weder Frisch noch Atay versucht, eine Lehre zu erteilen. Sie erzählen zeigend und fragend, aber nicht feststellend. In seinem skizzenhaften Roman »Gantenbein« verneint Frisch auch im formalen Bereich alles Absolute. Atays Romane haben eine avantgardistische Stellung in der modernen türkischen Literatur. Wie Frisch, der mit seinem Roman »Gantenbein« an die Grenzen der literarischen Erzählung vorstößt, ist auch Atay ein Bahnbrecher in der neuen Romantradition in der Türkei.
Die dialektische Erzählhaltung, die im Werk der beiden Autoren dominiert, ist auch ein Bestandteil der Persönlichkeit Frischs und Atays, neben dem Künstlerdasein haben sie eine erfolgreiche Berufskarriere im technischen Bereich. Diese paradoxe Existenzweise, in der sie einerseits ein gesellschaftlich anerkanntes Leben führen und andererseits mit den gültigen Nonnen des Systems seelisch nicht Schritt halten können, veranlasst die Identifikation der Autoren mit ihren ambivalenten Romanfiguren. Diese Doppelexistenz als Techniker und Künstler findet im Werk in der Gegenüberstellung zweier Seinsprinzipien, »Ratio und Gefühl«, »Technik und Mystik«, »Biografisches und Seelisches«, ihre Spiegelung.
Die präzise Konstruktion der Romane »Tutunamayanlar« und »Mein Name sei Gantenbein« sowie die beinahe mathematische Genauigkeit in der Konstellation der Figuren und der einzelnen Episoden in diesen Werken lassen den Gedanken entstehen, dass diese strukturelle Perfektion mit dem technischen Beruf dieser Autoren zusammenhängt.
Eine weitere und wichtige Komponente, die beiden Autoren gemeinsam ist, ist die Hauptthematik ihrer Werke. Das ist die Identitätsproblematik des Individuums im modernen Zeitalter. Alle Romane dieser Autoren haben ontologischen Gehalt. Das Ziel des unentwegt fortgeführten seelischen Kampfes ist das wahre Ich. Das ist der Kampf des modernen Menschen im Zeitalter der Technologie und grosser sozialpolitischer Ereignisse, gleichviel, ob er Selim Işik, Anatol Stiller, Turgut Özben, Walter Faber oder Hikmet Benol heisst. Die Technik ist ein überregionales Phänomen und beeinflusst jeden Menschen auf der Erde, und die daraus entstandenen Verhältnisse auf der sozialen und ökonomischen Ebene zwingen ihn zu einer Existenz, die zur Entpersönlichung und zur Entfremdung führt. Wie Frisch schildert auch Atay den seelischen Aufstand des neuen entfremdeten Menschen. Der pathetische Ton seiner Sprache und das südliche Temperament seiner Figuren lassen bei Atay diesen seelischen Kampf und seine Konturen stärker hervortreten.
Die Begriffe »Rolle« (bei Frisch) und »Spiel« (bei Atay) sind im Zusammenhang mit dem ontologischen Prozess des Individuums zu verstehen. Die Rolle, die der Mensch bewusst oder unbewusst spielt, ist die Äusserung eines illusionären Daseins, ein Zeichen der falschen Identität. Andererseits aber verwirklicht der spielende Mensch, homo ludens, die unendlich freien Visionen seiner Fantasie auf fiktiver Ebene. Für Hikmet sind diese Spiele echter als das biografische Leben, genau wie für Stiller und das »Gantenbein« -Ich. Diese Begriffe haben bei Atay und Frisch die gleiche Bedeutung und Funktion. Während sie einerseits ein Leben nach gesellschaftlichen Prinzipien kennzeichnen, sind sie andererseits ein Strukturelement, mit dessen Hilfe der Dichter eine vieldimensionale Persönlichkeit darstellen kann.
Das Doppelgängermotiv hat eine wichtige Funktion in den Werken beider Autoren. Das ist ein Konstruktionselement, durch das die Rollenhaftigkeit des Menschen und sein ambivalenter Charakter besser zum Ausdruck gebracht wird. Selim – Turgut, Turgut – Olric in »Tutunamayanlar« und mehrere Hikmet in »Oyunlarla Yaşayanlar« weisen sowohl auf die Disharmonie im modernen Menschen als auch auf die Vielfältigkeit seines Wesens hin. Die Persönlichkeitsspaltung des Intellektuellen in »Tutunamayanlar« zeigt eine unübersehbare Ähnlichkeit mit der Doppelgängerfigur Stiller–White, die zwei Hälften eines Menschen, die seelische und die biografische, verkörpert. In »Tehlikeli Oyunlar« spiegelt jeder Hikmet eine Seite des komplexen Wesens des modernen Menschen. Alle Hikmet sind die Fortsetzung oder Ergänzung der anderen und spiegeln zusammen den ganzen Menschen. Das dreigeteilte Ich des »Gantenbein« -Romans kann man in dieser Hinsicht mit dieser variationsfähigen Figur Atays parallel setzen. Die Persönlichkeitsspaltung, die im Werk beider Autoren eines der Hauptmotive bildet, ist ferner Zeichen einer ironischen Erzählhaltung im Sinne Goethes und Thomas Manns.
Der Schauplatz in Atays und Frischs Romanen ist das Bewusstsein des Menschen. Die Romanfiguren bewegen sich in einem vieldimensionalen seelischen Raum. Selim und Turgut reisen durch die Schichten ihres Bewusstseins und Gedächtnisses. Sie sind einerseits zeitlich begrenzt und spiegeln das kulturelle Spektrum unseres Jahrhunderts, und andererseits aber zeichnen sie ein historisches Panorama des türkischen Intellektuellen. »Tutunamayanlar« beinhaltet ein Kollektivbewusstsein und -unterbewusstsein der türkischen Gesellschaft. Die Figuren Atays, die sich in alle Richtungen ihres Gedächtnisses und Bewusstseins mit hoch kultureller Dimension bewegen, sind moderne Picaros. Atay lässt in seinem Roman den Zusammenhang zwischen seinem Protagonisten Turgut und Don Quichote bewusst entstehen, indem er an einigen Stellen auf den berühmten Picaro der Weltliteratur bewusst anspielt. Genau wie die Figuren Atays erleben auch Frischs Protagonisten fantastische Abenteuer, sie reisen durch ihr Bewusstsein. Stiller reitet mal durch eine öde Gegend in Texas oder beobachtet einen Vulkanausbruch in Mexiko. Das sind die abstrakten Reisen eines Menschen, der sein biografisches Dasein ablehnt. Die Figuren der beiden Autoren sind in diesem Zusammenhang moderne Picaros, abstrakte Don Quichotes, und ihre Reisen haben ein ontologisches Ziel.
Die modernen Individuen Frischs und Atays haben kafkaeske Anpassungsprobleme. Bei Atay herrscht im Allgemeinen eine pessimitische Atmosphäre um seine Figuren. Mit ihrem andersgearteten seelischen Wesen führen sie ein Außenseiterdasein in der Gesellschaft. Ihre intellektuelle Komponente, die mit den Wertmaßstäben der Gesellschaft nicht übereinstimmt, verursacht die Kommunikationsstörung, die zu der totalen Isolation des Individuums in der Gesellschaft führt. Neben der Kommunikationslosigkeit sind der kafkaeske Angst-, Schuld- und Gerichtskomplex, die Entfremdung sowie das vielbelastete Unterbewusstsein die Bestandteile des chaotischen Innenlebens von Selim, Turgut, Hikmet und Coşkun. Sie sind dem Leben gegenüber nicht gut ausgerüstet. Die tiefe seelische Komponente des Intellektuellen verhindert seinen Erfolg in der konkreten Welt.
Das Nichtigkeitsgefühl, das aus der Degradierung des Menschen in der modernen Welt entspringt, verursacht den »Lebenskomplex«. Hikmet, der sagt: »Nach den gewöhnlichen Wertmasstäben bin ich nichts«, ist ein typischer Atay-Protagonist und ein »Tutunamayan«-Prototyp: Bei Frisch kennzeichnen auch die Angst- und Schuldproblematik, die Entfremdung und die Neigung zum Selbstmord ein pessimistisches Innenleben. Die Vergänglichkeit des Menschen, die Begrenztheit der physischen Existenz wird durch die Motive Tod und Alter zum Ausdruck gebracht. Die Angst vor dem Tod ist ein wichtiger Bestandteil der kafkaesken Atmosphäre sowohl bei Frisch als auch bei Atay. Die Protagonisten beider Autoren leben die universale Problematik des Intellektuellen und führen ein entfremdetes Dasein: einsam, kommunikationsgestört, verängstigt fliehen sie aus dem Leben. Sie haben eine kafkaeske Innenwelt.
»Flucht aus dem. Leben« ist eine weitere gemeinsame Komponente in Frischs und Atays Werk. Ihre Figuren sind keine Revolutionäre. Ihr Widerstand gegen die bestehenden Nonnen der Umwelt bleibt auf abstrakter Ebene. Sie sind individualistisch veranlagt und beabsichtigen nicht die Änderung dieser Normen. Ihre Problematik liegt im seelischen Bereich; sie wollen ihre verlorene Identität zurückgewinnen und geraten mit der Gesellschaft in Konflikt. Im Falle der Niederlage fliehen sie. Das ist der einzige Weg, den sie einschlagen. Der Tod ist eine Fluchtmöglichkeit bei beiden Autoren. Selim, Hikmet und Coşkun fliehen in dieser Weise aus den Verhältnissen, denen sie sich nicht anpassen können. Nur die stärkere Figur des Autors, Turgut, stirbt nicht. Er verlässt die Umwelt und verliert sich in seiner Subjektivität. Stillers Resignation, Gantenbeins Wahlblindheit und Homo Fabers Tod kennzeichnen die Flucht aus einer Gegenwelt, sei es die bürgerliche Gesellschaft, das eigene Ich oder die Technik. Das Selbstmordmotiv, das beide Autoren in ihrem Werk mehrfach verwendet haben, bezeichnet wiederum den Fluchtversuch des Protagonisten aus der Gegenwelt. Wie bei Atay begehen auch bei Frisch viele Protagonisten Selbstmord. Der Selbstmord ist das extreme Zeichen der Anpassungsproblematik des Intellektuellen.
Die Kontrastfigur des Intellektuellen bei Frisch und Atay ist die bürgerliche Gesellschaft mit ihren Institutionen und Wertmaßstäben. Frischs Intellektueller fühlt sich in der bürgerlichen Umwelt seiner individuellen Freiheit beraubt. Atays Intellektueller dagegen lebt die Problematik des Intellektuellen in einer viel tieferen Dimension aus, da die Gegenwelt die Misstände der ökonomischen Unterentwicklung in sich schließt. Die Gegenwelt tritt im Werk der Autoren Frisch und Atay mit ihren künstlichen zwischenmenschlichen Beziehungen, mit ihrem Metin (Tutunamayanlar) und Bohnenblust (Stiller) und vor allem mit ihrer kleinsten Einheit Ehe in Erscheinung. Die eheliche Beziehung macht Frisch wie auch Atay zur Zielscheibe. Beiden Autoren zufolge personifiziert die Ehefrau die bürgerlichen Normen, sie verhindert die seelische Entwicklung des Mannes und versucht, ihn zu einem Glied des gültigen Systems zu machen. Die Ehefrau-Figuren Atays sind Personen, die man zu Beginn des Identitätsprozesses verlassen muss. Stillers Frau Julika will auch Jim White in Stiller bzw. sein subjektives Dasein nicht anerkennen.
Das Buch-Ich von Gantenbein bezeichnet das Grundverhalten des Mannes zur Frau als bewusstes Blindstellen. Mit einer kritischen Erzählhaltung stellen die Autoren Atay und Frisch die bürgerliche Gesellschaft dar, mit der sich ihre Protagonisten ständig in Konflikt befinden.
Die Kulturkrise bei Atay
Atays Figuren gehören zu einem Kulturkreis, in dem die Elemente der westlichen und östlichen Kulturen gemeinsam existieren. Der ganze Roman »Tutunamayanlar« ist der Bericht einer Kulturspaltung. In diesem Roman bestehen die Elemente beider Kulturen nebeneinander. Das ist ein breites Kulturspektrum mit Namik Kemal, Osman Hamdi Bey, Nazim Hikmet, Abdülhamit, Atatürk, Hamlet, Don Quichote, Balzac, Freud, Hegel, Oblomov, Kafka, Platon und Kierkegaard.
Der türkische Intellektuelle wächst mit den künstlerischen, philosophischen, sozialen und moralischen Wertmaßstäben zweier Kulturen auf. Diese Kulturambivalenz ist ein wichtiger Bestandteil des türkischen Intellektuellen. Atay spiegelt nicht nur die kulturellen Elemente von Osten und Westen in seinen Werken, sondern das kollektive Bewusstsein des türkischen Intellektuellen in einer historischen Kulturdimension, die bis nach Mittelasien reicht. Die Zerrissenheit des modernen Menschen, die der westliche Intellektuelle tief empfindet, sehen wir auch bei Atays Individuen, wenn sie auch nicht so groß ist wie bei dem westlichen Intellektuellen, der in einer technologisch viel fortgeschritteneren Umgebung lebt. Atays intellektuelle Individuen haben neben den Problemen des zeitgenössischen Menschen eine andere Problematik, nämlich die der Kulturspaltung.
Oguz Atay weist auf die Problematik des türkischen Intellektuellen in der Zeit der Entstehung der Republik hin, wo gewagte soziale Reformen vorgenommen wurden. Durch diese Reformen beabsichtigen die Gründer der neuen Republik, die Spuren des Osmanischen Reiches, gegen das sie während des Freiheitskrieges gekämpft hatten, zu tilgen. Die Ablehnung des kulturellen Erbes des Reiches am Beginn der Republik führte zur Entstehung einer Generation, die ihrer Abstammung entfremdet wurde und wiederum mit den Inhalten einer neuen Kultur nicht gänzlich in Einklang stand. Die erste Generation der Republik durchlebte die Kulturkrise, die Zerrissenheit zwischen östlichen und westlichen Wertmaßstäben in sämtlichen kulturellen Bereichen. Die atektonische Struktur des Romans »Tutunamayanlar«, die dialektische Schichtung der Elemente der beiden Kulturen kennzeichen das kollektive Bewusstsein und Unterbewusstsein des türkischen Intellektuellen, darin die »Hegel- und Fichte-Parodien«, »Ilmihal« und das »parodistische Leben der sieben Jungen in Mittelasien« selbstständige Existenz haben. Die Symbole der westlichen und östlichen Kulturen konnten im Bewusstsein des Intellektuellen der vorangegangenen Generation nebeneinander existieren, ohne miteinander gemischt zu werden.
Die neuere Generation, vertreten durch Selim und Turgut, nimmt jedoch Stellung zum eigenen Kulturerbe, was eigentlich als ein Zeichen des Minderwertigkeitskomplexes des türkischen Intellektuellen gegenüber dem Westen zu bewerten ist. Turguts Ablehnung, sich mit »Karagöz« zu identifizieren, ist in diesem Zusammenhang zu verstehen. Atays Spiegelung dieses Komplexes enthält andererseits eine starke Ironie über die Selbstentfremdung des Intellektuellen seines Landes.
Atay veranschaulicht in seinem ganzen Werk den türkischen Intellektuellen in einer Erzählhaltung von Pro und Contra gleichzeitig. Der Intellektuelle steht vor dem Leser mit seinen positiven und negativen Gesichtern. Trotz seines Komplexes gegenüber dem Westen und der Kulturspaltung, die der wichtigste Bestandteil seines Wesens ist, hat der türkische Intellektuelle eine Dimension, auf die auch Atays Figuren sehr stolz sind. Das ist das Gefühlsmässige, das Kindliche, das Naive, das Unverdorbene in seinem Wesen. Der Protagonist Atays ist kein westlicher Intellektueller, obwohl er die kulturellen Werte des Westens gänzlich annimmt. Die nihilistische und völlig distanzierte Haltung gegenüber dem Leben und das Mechanische im Umgang mit Menschen – diese Eigenschaften, die dem Prototyp des westlichen Intellektuellen zu eigen sind, sind Selim, Turgut, Hikmet und Coşkun ganz fremd. In seinem dritten Roman, der auf eine deutliche Änderung des Autors auf gedanklicher und stilistischer Ebene hinweist, erzielt die Hauptfigur Mustafa Inan die Synthese der östlichen und westlichen Kultur. Das ist ein Beweis für den Glauben des Autors an die geistige Harmonie seiner Figuren, deren Identitätsproblematik und Kulturkrise die Hauptthematik seines Werkes bilden.
Frischs Figuren kämpfen in einer entfremdeten Gegenwelt um das wahre Ich. Die Entfremdung, die durch neue soziale und technische Bedingungen eingeleitet wurde, liegt diesem Kampf zugrunde. Sie kämpfen um die eigene Identität in einer entfremdeten Welt, inmitten einer neuen Kultur, in der Kultur der Technologie. Atays Individuen durchleben die Kulturkrise, die zwar auf einer gemeinsamen ökonomischen Komponente mit anderen Entwicklungsländern basiert, aber deren Wurzeln in einer eigenen historisch und geografisch bedingten Entwicklung liegen. Diese Kulturkrise ist vielleicht die wichtigste Dimension der Figuren Atays wie des türkischen Intellektuellen.
Selims Zärtlichkeit und Güte gegenüber den Menschen, die einerseits seine Schwäche in der heutigen Welt ausmacht, und Hikmets Temperament sowie die Innigkeit der beiden kennzeichnen einen ganz anderen Intellektuellentyp als die Protagonisten Frischs. Atays Intellektueller macht sich die Kulturen, die er untersucht, ganz innig und intensiv zu eigen. Er nimmt an der Problematik Hamlets teil; die Persönlichkeit Jesus beeinflusst ihn tief; er liebt, während der Europäer oder Amerikaner bewertet.
Technologie oder Unterentwickeltsein
Atay hebt die Paradoxie zwischen seinen Figuren und der Umwelt in seinem Werk deutlich hervor. Die Anpassungsunfähigkeit Selims, Hikmets und Coşkuns sowie die nonkonformistische Haltung Turguts weisen auf diesen tiefen Konflikt hin. Die Figuren von Max Frisch durchleben zwar die gleiche Problematik, aber in einer durchaus unterschiedlichen Gesellschaft eines europäischen Landes, das mit der zeitgenössischen Technologie Schritt halten kann. Atays Intellektueller jedoch erleidet den tragischen Konflikt zwischen seiner zeitgenössischen Dimension und dem Unterentwickeltsein des Landes, in dem er lebt.
Trotz dieses tiefen Unterschieds zweier Gesellschaften erfahren Atays Figuren die gleiche Problematik wie Stiller und die Gantenbein-Protagonisten. Die Identitätsfragen und das rollenhafte Dasein des Menschen werden bei beiden Autoren auf der gleichen Ebene geschildert. Nur Walter Faber führt ein eindimensionales Dasein. Er ist der Herrscher der Natur, er ist der Rationalist; distanziert vom empirischen Leben; wie ein Barockmensch, der das Leben aus einer selbst geschaffenen Realitätsebene begreift; ein irrationaler Rationalist. Dieser neue Menschentypus mit seiner Eindimensionalität spiegelt eine ganz neue Problematik: Das ist die Selbstentfremdung des Menschen, sein unbewusster Anpassungsversuch an eine völlig materialisierte Umwelt und der Konflikt der menschlichen Natur mit dieser gegenmenschlichen Entwicklung.
Während Atays Figuren ihre Persönlichkeit in einer unterentwickelten Umwelt zu realisieren versuchen, veranschaulicht der technisierte Protagonist Frischs die Problematik des Menschen, der am Beginn der dritten Industriellen Revolution steht.
Trotz der verschiedenen regionalen Konditionen, sei es die Kulturspaltung zwischen Osten und Westen oder das Unterentwickeltsein oder aber die hohe Technologie, vertreten die Figuren Atays und Frischs, Autoren aus zwei Ländern mit anderen Kulturen, die universale Problematik des anders gearteten Menschen. Das ist der Mensch, der nicht nur seine Umwelt, sondern auch sich selbst mit einem verfremdeten Blick beobachten und verurteilen kann. Dieser Mensch, der denkt, fühlt und kritisiert, ist ein Intellektueller, dessen Existenzgrundlage mit seiner geistigen Tätigkeit zusammenhängt.
Yildiz Ecevit