Wenn man Glück hat, kann man sie heute noch erleben in der Türkei, gesellige Stunden in einem gastlichen Haus der älteren Generation, in dem – eher zufällig – ein Kreis von Freunden zusammentrifft, dazu stößt ein junger Saz-Spieler mit angenehmer Stimme. Einer beginnt zu rezitieren, um den Sänger herauszufordern, vielleicht Nazim Hikmets Gedicht von der Trauerweide (Salkımsöπüt) oder Orhan Velis Ich höre Istanbul, meine Augen geschlossen (Istanbul’u dinliyorum, gözlerim kapali). Andere stimmen ein. Später geht man über zu den Ilahis, den Gebetshymnen von Yunus Emre, Tee wird gereicht. Solche Stunden waren mir in den Neunzigerjahren vergönnt in der legendären Istanbuler Wohnung der Architektin Mualla Eyüboglu, die mit ihrem deutschen Mann, dem früheren Leiter des Istanbuler Goethe-Instituts, Robert Anhegger, noch im hohen Alter das kulturelle Erbe ihrer Heimat pflegte, ja lebte. Sie hatte in ihrer Jugend viele Dichter gekannt, die zum Kreis ihrer Brüder, des Kulturphilosophen und Übersetzers Sabahattin Eyüboglu und des Malers und Poeten Bedri Rahmi Eyüboglu, gehörten. Von Letzterem ist ein Gedicht in unserer Anthologie vertreten, und zwischen seinen Bildern fanden solche Geselligkeiten ihren Platz. Damals durfte ich als Islamhistorikerin Erfahrungen sammeln, die mein abstraktes Wissen verlebendigten und ver-tieften.
Die Poesie bildete im islamisch-orientalischen Kulturkreis immer das Zentrum des Geisteslebens. Gedichte waren im Osmanischen Reich und sind auch in der modernen Türkei Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse und der inneren Haltung von Individuen, die sie schreiben und lesen. Es gibt keine philosophische Tradition bei den Türken, es sind jeweils die Gedichte einer Epoche, die ihr Denken und Fühlen zum Ausdruck bringen. Gedichte, die diese Funktion erfüllen und von vielen Menschen rezipiert werden, kann man getrost als Kultgedichte bezeichnen. So entstand die Idee, eine originelle Anthologie solcher Gedichte für die Türkische Bibliothek zusammenzustellen. Als Mitherausgeber konnten wir den Lyriker Turgay Fisekci gewinnen, der in der literarischen Szene der Türkei zu Hause ist und die Kontakte knüpfte. Wir wollten erkunden, wie sich die geistige Situation der Türkei zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Gedichten darstellt, und haben eine Reihe von bekannten türkischen Künstlern und Kritikern gebeten, für unsere Anthologie ein Gedicht zu nennen, das ihnen persönlich viel bedeutet und ihrer Meinung nach jeder kennen sollte, weil es unbestritten als ein Höhepunkt der türkischen Poesie gelten kann. In einem Essay sollten sie ihre Wahl begründen. Die meisten betonen, wie schwer es ihnen gefallen sei, auf das Ansinnen zu reagieren, aus der Fülle der ihnen vertrauten Gedichte nur eines auszuwählen.
Die vorliegende Sammlung von zweiundvierzig Gedichten ist also eine subjektive Auswahl und keinesfalls repräsentativ. Mit der Ausnahme von zwei Gedichten (Yunus Emre und Nedim) stammen alle aus der Zeit der Türkischen Republik nach dem Alphabetwechsel 1928. Vorausgegangen war in den Zwanzigerjahren eine rigorose Kulturrevolution, in der die Fäden zur traditionellen osmanisch-türkischen Lyrik konsequent durchschnitten wurden. An den beiden Gedichten aus der vormodernen Zeit lässt sich vielleicht am besten demonstrieren, was diese Kulturrevolution bedeutete. Yunus Emre, gestorben etwa 1321 – seine genauen Lebensdaten lassen sich nicht ermitteln –, gilt unbestritten als der erste große türkische Dichter Anatoliens. Er war ein religiöser Mensch, ein Mystiker, Freund Gottes, nach dessen Nähe er sich sehnt, auch wenn er, wie jeder Sterbliche, vor dem Tod Angst hat. Es ist sicher nicht zufällig, dass Yaşar Kemal, der uns in seinen Romanen die mythische Welt Anatoliens und die Menschen seiner engeren Heimat, der Cukurova, nahebringt, dieses Gedicht ausgewählt hat. Yunus benutzt ein einfaches, etwas altertümliches Türkisch und dichtet im volkstümlichen, silbenzählenden Versmaß. Er repräsentiert damit die türkische Volksliteratur, die über die Jahrhunderte lebendig geblieben ist, wenn sie auch meist mündlich überliefert wurde. Diese volkstümliche Dichtung bediente sich der einfachen türkischen Sprache, die die türkischen Nomadenstämme, die seit dem 11. Jahrhundert aus Zentralasien nach Anatolien eingewandert waren, mitgebracht hatten. Ganz anders das Lied des osmanischen Divan-Dichters Nedim (gestorben 1730), das uns der Literaturlehrer und Übersetzer Ahmet Necdet für unsere Anthologie beschert hat. Nedim wirkte am Hof der Osmanen, denen es nach bescheidenen Anfängen gelungen war, sich zu einer mächtigen Dynastie aufzuschwingen und nach der Eroberung Konstantinopels (1453), das dann zur osmanischen Hauptstadt Istanbul gekürt wurde, ein islamisches Imperium zu errichten. Die osmanisch-türkische Hofsprache entwickelte sich also relativ spät nach dem Arabischen und Persischen zur dritten islamischen Kultursprache im Vorderen Orient. Die gemeinsame islamische Religion hatte dazu geführt, dass das heilige Buch, der Koran, auch das äußere Gewand, nämlich die arabische Schrift, für die persische und die osmanisch-türkische Sprache lieferte. Für die vokalreiche türkische Sprache war dieses Alphabet besonders unangemessen, denn in den semitischen Sprachen, wie dem Arabischen, werden keine Vokale geschrieben. Durch politische Konstellationen bedingt, hatten die türkischen Muslime, die häufig in einer kulturellen Symbiose mit den Persern lebten, eine besondere Vorliebe für die persische Sprache und Literatur gezeigt. Bis zum Zusammenbruch des Osmanischen Reiches gehörte es zum Bildungskanon der türkischen Elite, Persisch zu lernen, um das berühmte mystische Lehrgedicht von Mevlana Celaleddin Rumi, der im 13. Jahrhundert am Seldschukenhof in Konya gelebt hatte, und andere persische Dichter im Original lesen zu können. Der Einfluss der persischen Literatur auf die Entwicklung der osmanisch-türkischen Literatur war dadurch beträchtlich. Man übernahm nicht nur viele arabische Lehnwörter, besonders aus dem religiösen Bereich, in der Form, wie die Perser sie adaptiert hatten, sondern auch grammatische Strukturen, poetische Gattungen und Formen, mythische Vorstellungen, Heldensagen und eine hermetische Bildersprache. So entfernte man sich immer weiter vom einfachen Türkisch, das volkstümliche Dichter wie Yunus Emre benutzt hatten. Nedims Lied, das aus der sogenannten Tulpenzeit (1718–1730), der letzten Blütezeit der osmanischen Divan-Lyrik, stammt, zeigt viele Merkmale dieser komplexen Hochsprache, besonders die beliebten persischen Wortbildungen und Strukturen (Ezafet). Ahmet Necdet hat deswegen nicht nur das Gedicht in der Urfassung aus der arabisch-osmanischen Schrift transkribiert, sondern auch eine moderne türkische Fassung geboten, weil sonst die türkischen Zeitgenossen das Gedicht nicht lesen könnten. Christoph K. Neumanns Nachdichtung wirkt des Reimes wegen üppig redundant, fängt aber sehr schön die Stimmung dieses heiteren Lieds ein.
Die osmanischen Literaten hatten also den Wortschatz von drei Sprachen (Arabisch, Persisch und Türkisch) zur Verfügung, und sie pressten ihre Gedichte, wie die Perser, in das arabische metrische System (Aruz), das nach Längen und Kürzen misst, was für die autochthonen türkischen Wörter, die nur kurze Vokale kennen, ungeeignet ist und sehr gekünstelte Effekte bewirkt.
So hatte sich die osmanisch-türkische Literatursprache zu einem komplizierten Instrument entwickelt, das nur von einer kleinen, gebildeten Schicht der Osmanlis beherrscht wurde und im 19. Jahrhundert von den Reformern der Tanzimat-Zeit als Hindernis für die kulturelle Kommunikation mit dem Westen empfunden wurde. Wie sollte man in einer solchen Sprache den Landsleuten die neuen Ideen nahebringen, die aus Europa importiert wurden?
Der bedeutendste der reformfreudigen Literaten der Tanzimat-Zeit war Namik Kemal (1840–1888), der auch als einer der Ersten bislang unter den Osmanen unbekannte westliche Literaturgattungen wie den Roman und das Schauspiel einführte und diese benutzte, um seine Ideen publik zu machen und seine Vorstellungen von einer Vereinfachung der osmanischen Schriftsprache selbst zu praktizieren.
Auf Gedichte wollte man ebenfalls nicht verzichten. Sie waren trotz ihrer sprachlichen Extravaganz auch damals das beliebteste Medium der geselligen Kommunikation unter den Gebildeten. Aber die Reformer hatten eine Botschaft, sie konnten mit den alten, erstarrten Themen der osmanischen Divan-Poesie, wie Herrscherlob, Preis der höfischen Feste, mystische Religiosität, homoerotische Liebe, nichts mehr anfangen. Namik Kemal und seine Mitstreiter, die für die Einführung einer konstitutionellen Monarchie kämpften, wagten es, neue brisante Themen wie Vaterland und Freiheit in Gedichten zu behandeln. Sie taten das meist noch in den alten poetischen Formen, wie der Kaside (Ode) und dem Gasel (Liebesgedicht) und benutzten das überkommene metrische System des Aruz. Besonders berühmt wurde ein Gasel von Ziya Pasa (1825–1880), in dem er den sichtbaren Verfall der islamischen Welt dem prosperierenden christlichen Europa gegenüberstellte: »Ich bereiste die Länder des Unglaubens, sah Städte und prächtige Häuser / Ich durchwanderte das Reich des Islam und sah alles in Ruinen«.
Wie in vielen autobiografischen Schriften erwähnt wird, ließen fortschrittsliebende Eltern ihre Kinder Namık Kemals Freiheitskaside (Hürriyet Kasidesi) auswendig lernen wie den Koran; und in der düstersten Zeit des Despotismus von Sultan Abdülhamid II. (1876–1909) war das von der Zensur verbotene Gedicht Nebel (Sis) von Tevfik Fikret (1867–1915) in aller Munde. Es ist die Vision von der byzantinisch infizierten Stadt Istanbul, die als alte, abgetakelte Hure immer noch gefährlich attraktiv erscheint. Wir wissen, dass auch der junge Mustafa Kemal (Atatürk) im Ersten Weltkrieg dieses Gedicht rezitierte. Es war so verbreitet unter den Gebildeten, dass es eine Mentalität beförderte, die es später erleichterte, die »dekadente« Sultansmetropole am Bosporus zugunsten der neuen Hauptstadt Ankara im Herzen Anatoliens aufzugeben. Das sind Beispiele für echte »Kultgedichte«, sie gehören heute der Geschichte an, zeigen uns aber, wie fruchtbar die gesellschaftliche Funktion der Lyrik sein konnte.
Die Bildungsbürger, die damals noch Wert darauf legten, Osmanlis und nicht etwa Türken genannt zu werden, lernten seit der Tanzimat-Zeit eifrig Französisch und rezipierten die zeitgenössische französische Lyrik, etwa den Symbolismus. Losungen, wie »L’art pour l’art« wurden unter den Literaten diskutiert, und die Dichtervereinigung Morgenröte der Zukunft (Fecr-i ati) schrieb sich 1909 das Motto »Die Kunst ist persönlich und ehrwürdig« auf die Fahnen. Solche ästhetizistischen Bewegungen übten einen gewissen retardierenden Effekt aus auf die Bestrebungen, die osmanische Literatursprache zu vereinfachen. Denn die Poeten wurden sich plötzlich in einer Art nostalgischem Affekt des unendlichen Reichtums der komplexen osmanischen Sprache bewusst, den sie jenseits der festgefügten traditionellen Poetologie im freien Spiel nutzbar machen wollten. Doch das waren Intermezzi, die nur von Einzelnen ernst genommen wurden. Der Weg war vorgezeichnet, er musste zu einer Türkisierung der Hochsprache führen.
Diese Entwicklung wurde von den politischen Ereignissen begünstigt. Der Putsch der jungtürkischen Offiziere und die Einführung einer demokratischen Verfassung 1908 setzten der tyrannischen Herrschaft Abdülhamids ein Ende, die durch Zensur, Verbote und Verbannung von Autoren das literarische Leben gelähmt hatte. Zahlreiche Zeitschriften und Clubs boten nun den Literaten offene Diskussionsforen. Das nationale Unabhängigkeits-streben der verschiedenen Völker, die noch unter dem Dach des Osmanischen Reiches versammelt waren, führte dazu, dass auch die türkischstämmigen Osmanlis sich auf ihre zentralasiatischen Wurzeln und ihr »Türkentum« besannen. Erstmals geriet die türkische Volksliteratur wieder näher in den Blick, die man aus intellektueller Arroganz lange nicht beachtet hatte. Ein bahnbrechendes Werk über die frühen türkischen mystischen Dichter von Fuad Köprülü, 1919 in Buchform erschienen, brachte den ganzen Reichtum der türkischen Derwisch- und Asik-Dichtung ans Licht. Yunus Emre und andere volksnahe Dichter wurden nun auch zunehmend von den Literaten wahrgenommen, die bislang nur die Diwan-Lyrik gelten ließen und alles rein Türkische als grob abgetan hatten. In literarischen Zeitschriften und Klubs begannen leidenschaftliche Diskussionen über die Sprachreform und das angemessene metrische System. Viele bekehrten sich zum »nationalen« silbenzählenden Metrum (Hece), doch andere hielten aus Überzeugung am traditionellen quantitierenden Aruz-Metrum fest. Der Fischersohn Mehmet Emin (1869–1944) verwandte die silbenzählende »nationale« Metrik und behandelte Themen aus dem Alltagsleben der kleinen Leute. Dem erwachenden Nationalgefühl der Türken verlieh er Ausdruck in dem Vers: Ich bin Türke, meine Religion, meine Herkunft sind erhaben (Türküm, dinim, cinsim uludur). Im populären türkischen Schattentheater, das in den Ramadannächten auch von den Gebildeten besucht wurde, nahm der volkstümliche Held Karagöz seinen gebildeten Freund Hacivat wegen seiner hochgestochenen, unverständlichen osmanischen Hochsprache allabendlich auf die Schippe. Man dachte nun auf allen Ebenen öffentlich über eine Sprachreform nach, in der statt der vielen arabischen und persischen Lehnwörter echt türkische Wörter zu ihrem Recht kommen sollten. Ohne diese kulturelle nationale Bewegung, die in Istanbul vor allem im Dunstkreis des literarischen Clubs Türkenherd (Türk ocagi) gedieh und von den Emigranten aus den türkischen Provinzen Russlands angefacht wurde, wäre wohl die Begeisterung der gebildeten Jugend für den nationalen Befreiungskampf unter Mustafa Kemal nach dem Zusammenbruch im Ersten Weltkrieg unmöglich gewesen.
Nach dem siegreichen Ausgang des Unabhängigkeitskampfes wurden die nötigen politischen Maßnahmen, die 1923 zur Ausrufung der Republik führten (Abschaffung des osmanischen Sultanats und Kalifats), dank der Willensstärke und des taktischen Geschicks des militärischen Führers Mustafa Kemal zügig durchgeführt, doch immer mit parlamentarischer Zustimmung der Großen Türkischen Nationalversammlung, die ihren Sitz schon in Ankara hatte, bevor diese kleine anatolische Provinzstadt in einem Handstreich zur Hauptstadt deklariert wurde. So erhielt das ehemals islamische Vielvölkerreich, das sich über drei Kontinente erstreckt hatte, den Gnadenstoß durch das Parlament, und auf dem Restterritorium Anatolien entstand ein Nationalstaat nach europäischem Muster. Diese einschneidenden historischen Ereignisse liefen, auch wenn sie durch die kritische intellektuelle Elite seit der Tanzimat-Zeit ideologisch vorbereitet worden waren, atemberaubend schnell ab. Das geistige Zentrum Istanbul geriet bald in den Windschatten von Ankara, wo die Entscheidungen gefällt wurden. Das osmanische Erbe, das in vielen Monumenten in Istanbul präsent war, wurde vernachlässigt und verfiel, dafür wurde die neue Hauptstadt von europäischen Architekten geplant und aufgebaut.
Die von Ankara aus gesteuerte Kulturrevolution sorgte dafür, dass die gewachsenen Traditionen der Osmanen zugunsten der Übernahme der zeitgenössischen, westlichen Zivilisation aufgegeben wurden. Zu den Reformen gehörten die Gleichstellung der Frau, Übernahme westlicher Rechtskodices anstelle des religiösen Seriat-Rechts, Vereinheitlichung des Bildungssystems usw. Obwohl in der ersten Verfassung der sunnitische Islam noch als Staatsreligion verzeichnet war, wurde die Säkularisierung vorangetrieben, und die religiösen Hochschulen (Medresen) und Derwischkonvente (Tekye) wurden geschlossen. Auch für die Entwicklung einer Nationalliteratur wurden die Weichen gestellt und Verfügungen erlassen, die keine freien Diskussionen mehr zuließen, sondern befolgt werden mussten. Die folgenreichste Reform für die Literaten war der Alphabetwechsel 1928: Das arabische Alphabet wurde abgeschafft und das Lateinalphabet (ohne q, w, x, aber mit einigen Zusatzzeichen) eingeführt. Das sollte die Kommunikation mit dem Westen fördern, aber vor allem die Analphabetenquote senken. Mustafa Kemal (Atatürk) trat selbst öffentlich als Lehrer auf. Mit dem neuen türkischen Lateinalphabet ließen sich die türkischen Wörter adäquater schreiben, während die vielen komplexen Lehnwörter aus den islamischen Sprachen so schnell wie möglich ausgemerzt werden mussten. So wurde die Sprachreform von Staats wegen in Schüben rasant vorangetrieben, und ad hoc wurden viele künstliche türkische Wörter erfunden, die bald wieder vergessen wurden. Der oben beschriebene Prozess, der aus der einfachen Sprache der türkischen Nomadenstämme eine raffinierte islamische Literatursprache geformt hatte, sollte im Eilverfahren rückgängig gemacht werden. Die osmanische Diwan-Lyrik wurde von eifrigen Ideologen als sprachlich und formal volks-fern und thematisch inhuman denunziert, die Alphabetreform bewahrte also gewissermaßen die junge Generation davor, sich mit diesem Monstrum zu befassen. Die offizielle türkische Kulturpolitik der frühen Republikjahre suchte nach der autochthonen historischen Tradition der Türken in Zentralasien oder in der fernen anatolischen Vergangenheit bei den Hethitern. Die Geschichte der Osmanen dagegen wurde verdrängt. Die staatlich geförderte Sprach- und Geschichtswissenschaft, für die besondere Gremien gebildet wurden, zeigte zeitweise groteske Auswüchse.
Die Literaten gerieten dadurch in eine zwiespältige Situation. Viele von ihnen hatten noch die repressiven Herrschaftsjahre Abdülhamids in Erinnerung, als der Begriff »Vaterland« (Vatan) verpönt war und literarische Aktivitäten fast ganz unterbunden waren; in der freien aufgeschlossenen Atmosphäre der Zweiten Verfassungsperiode seit 1908 hatten sie dagegen durch ideologische Diskussionen zu einem türkischen nationalen Bewusstsein gefunden, das allerdings schon bald nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg auf eine harte Probe gestellt wurde, als die nicht türkischen Minderheiten mit den alliierten Besatzungstruppen in Istanbul kollaborierten. Diese demütigende Erfahrung beflügelte ihren nationalen Enthusiasmus, mit dem sie den Unabhängigkeitskrieg unter Führung Mustafa Kemals unterstützten, und sie erhofften von Ankara die Erfüllung ihrer Sehnsucht nach dem legendären Heimatland der Türken »Turan«, das sie in der Jungtürkenzeit in utopischen Gedichten und Romanen beschrieben hatten. Aber nun sahen sie sich plötzlich einem autoritären Staat gegenüber, der Reformen, die sie ja im Grunde bejahten, mit totalitären Mitteln durchsetzte. Die Maßnahmen gegen religiöse und separatistische Gegner der Republik (wie im Aufstand des kurdischen Naksibandi-Scheichs Sait 1925) richteten sich bald gegen alle kritischen Geister. Denn das Gesetz zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung (Takrir-i Sükun), das vom März 1925 bis zum März 1929 in Kraft war, und die abschreckende Wirkung der willkürlichen Unabhängigkeitsgerichtshöfe schränkten die Pressefreiheit ein und ließen eine gedrückte Stimmung aufkommen, die bei den Istanbuler Literaten zu einer oppositionellen Haltung gegenüber dem Ankaraner System führte. Andere Vorkommnisse, wie das Verbot einer zweiten Partei, die kurzfristig neben der Regierungspartei CHP gegründet worden war, um ein demokratisches Mehrparteiensystem zu etablieren, ein Attentatsversuch gegen den Republikgründer und die Verurteilung beziehungsweise Verbannung einer Reihe seiner früheren prominenten Anhänger, wirkten frustrierend. Wenn auch die Verehrung, die Mustafa Kemal Atatürk selbst entgegengebracht wurde, nicht wirklich geschmälert wurde, so dämpften doch übereifrige Parteifunktionäre die nationale Begeisterung der kreativen Intellektuellen. Der türkische Nationalismus beziehungsweise Pantürkismus (Vereinigung aller Turkvölker), der in der Jungtürkenzeit vor dem endgültigen Zusammenbruch des osmanischen Vielvölkerstaats noch heftig diskutiert worden war, schien nach der Verwirklichung eines ethnisch nahezu homogenen türkischen Nationalstaats nur noch die Gemüter von Extremisten zu erregen. Es wurden zwar immer wieder Gedichte mit nationalem Pathos und Atatürk-Panegyrik produziert, aber sie waren kaum von literarischem Wert. Atatürks Tod 1938 wurde aber von allen Schichten der Bevölkerung ehrlich betrauert.
Man muss sich diese politische Entwicklung der frühen Republikjahre vor Augen halten, um die Stimmung unter den Literaten zu verstehen. Anscheinend hat sich damals ein Spannungsverhältnis zwischen dem Staat und der geistigen Elite aufgebaut, das das gegenseitige Vertrauen auf Dauer störte und sich in krankhafter Form über alle folgenden Regierungen und Militärputsche fortzeugte. Es wurde eine Reihe von Tabus errichtet, die im geistigen Leben verkrampfend wirkten. Es ist eigentlich bis heute unmöglich für türkische Intellektuelle, ein kritisches Geschichtsbewusstsein zu entwickeln, denn sie stoßen bald auf Denkverbote und laufen Gefahr, als »Milli hain – Vaterlandsverräter« gegeißelt zu werden. So lebten die Dichter, die sich der offiziellen kemalistischen Ideologie nicht anpassten, gefährlich. Als der große Revolutionär der türkischen Lyrik, Nazim Hikmet, der in Moskau studiert hatte, 1929 nach Istanbul zurückkehrte, brachte er nicht nur kommunistische Ideen mit, sondern auch die freien Rhythmen, die sich für den revolutionären Aufschrei gut eigneten. Er hatte großen Publikumserfolg mit seinen Lesungen, und die Schallplattenfirma His Master’s Voice produzierte bald eine Schallplatte mit den Rezitationen seiner Gedichte. Er saß ab 1938 in anatolischen Gefängnissen, bis er 1950 begnadigt wurde und in die Sowjetunion emigrierte. Viele seiner Anhänger traf ein ähnliches Schicksal, und seine Werke waren lange verboten. Die Kommunistenfurcht in der Türkei trieb damals seltsame Blüten. Doch Nazims Einfluss auf die politische, sozialkritische Lyrik der Türkei dauert bis heute an.
Die Dichtervereinigung Garip (Fremdartig) lag eher auf Regierungskurs. In ihrem Manifest von 1941 proklamierten Orhan Veli, Oktay Rifat und Melih Cevdet Anday ihre radikale Ablehnung der Diwan-Poesie und die Schaffung einer volksnahen Lyrik ohne jede dichterische Pose in der Alltagssprache, die auch die kleinen Leute verstanden. Der einfache, witzige, volkstümliche Ton dieser jungen Dichter machte bald Schule, ja wurde Mode. Es gab dann eine Gegenreaktion von Dichtern der folgenden Generation, die die Garip-Gedichte als banal und sprachlich fad empfanden. Sie wurden in Abgrenzung zu den »Ersten Neuen« (Garip) die »Zweiten Neuen« (Ikinci Yeni) genannt. Ihre Hauptvertreter waren Edip Cansever, Turgut Uyar und Cemal Süreya. Sie hatten die europäische Nonsense-Dichtung gelesen, flüchteten sich ins Esoterische und Irreale und schufen lustvoll eine neue Bilder- und Chiffrenwelt, die nur schwer zu entschlüsseln ist. Aber man warf ihnen wohl zu Unrecht vor, sich vor der sozialen Problematik zu verschließen. Alle drei Tendenzen und reizvolle Mischformen ihrer Elemente finden bis in die Gegenwart Anhänger, dazu kommen Außenseiter, die ihren eigenen Stil kultiviert haben. Auffällig ist, dass weder die berühmten Gedichte Nazim Hikmets noch die der Gruppen Garip und Ikinci Yeni in unserer Anthologie auftauchen, obwohl die Protagonisten alle vertreten sind, aber nur mit weniger bekannten Gedichten. Seit den Achtzigerjahren scheinen solche Dichtervereinigungen seltener geworden zu sein. Der Individualismus hat sich durchgesetzt, wovon auch unsere Sammlung zeugt.
Wenn Gedichte, die in einer bestimmten Epoche geliebt und gelesen werden, wie wir vermuten, etwas über das Lebensgefühl der Menschen dieser Zeit aussagen, was erfahren wir dann in unserer Anthologie über die Türkei zu Anfang des 21. Jahrhunderts? Zwar sind weder die Befragten repräsentativ für die türkische Gesellschaft noch die ausgewählten Gedichte für die türkische Poesie, aber es lassen sich doch einige Beobachtungen anstellen, die uns aussagekräftig erscheinen. Da sich die Anordnung der zweiundvierzig Gedichte nach literarischen Strömungen oder Generationen wegen der geringen Anzahl und der demonstrativ subjektiven Auswahl nicht anbietet, muss man sich den einzelnen Gedichten wie Individuen nähern und Affinitäten zwischen ihnen aufspüren, die sich in wechselseitigen Spiegelungen und kontrastreichen Spannungsverhältnissen zeigen. Vielleicht kann man durch eine kompatible, konfigurierende Zusammenstellung eine atmosphärische Verdichtung erreichen, die eine gemeinsame Geisteshaltung und Stimmungslage verrät. Das haben wir versucht, doch wir müssen es dem Leser überlassen, ob er unserer Spur folgen kann. Mit den Worten der Dichter versuche ich meine Beobachtungen zu paraphrasieren:
Eine Grundstimmung der Melancholie, der Schwermut, der Traurigkeit und des Leids beherrscht das Buch, der sich wohl kaum jemand entziehen kann, wenn er sich auf die Gedichte einlässt. Im Einklang mit der Natur erfährt der einzelne Mensch die absolute Stille und magische Einsamkeit der Welt. Im magischen Schlaf der Dinge verbirgt sich die Erinnerung an unsere Vergangenheit und der Traum unseres Lebens. Das Ich verkriecht sich im Wurzelwerk des welken Gartens, um auf den Frühling zu warten, der neues Leben verheißt. Doch immer wieder verdeckt der Schnee alle Wege. Der Mensch erfährt die Zeit nur als Augenblick, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschwimmen als schweigende Zeit, von der Hecke des Leids umgeben. Der Horizont unserer gefolterten Seele öffnet sich nicht ins Transzendente, ohne Freunde leidet sie im Diesseits an Einsamkeit. Nicht nur die Saat in der Tiefe der Erde schauert von Frost gequält, auch den Menschen ergreift das große Frieren allüberall, und in der Mittagshitze der Großstädte treibt Pan, als Migrant von den einsamen Weiden, nun sein Unwesen, zerstört die Werte und Segnungen der Zivilisation. Die Beziehung zur erdverbundenen Mutter schafft auch nur vorübergehend Geborgenheit, denn bald wird sie uns der Tod entreißen. Der moderne Mensch glaubt nicht wie der fromme Mystiker, dass er in der vorbestimmten Todesstunde dem geliebten Freund begegnen wird. Das Ich ist zu dominant, um sich aufzugeben, in rebellischem Aufbegehren will es den Jüngsten Tag heraufbeschwören, mit Selbstkasteiung alle Ketten sprengen und als großer Künstler die Schöpfungskraft für sich selbst gewinnen. Oder es wird von Selbstzweifeln und Reue gequält, schreit nach Gott, ihm zu vergeben. Er ist zerknirscht und trauriger als alle Wesen, die in der Chronik der Schwermut verzeichnet sind.
Das lyrische Ich trägt viele Masken. Um etwas über seine Kindheit zu erfahren, muss es sich über vergilbte und zerfledderte Bücher beugen, und später droht ihm das Schicksal, rostig, zerdrückt und verschrottet als Mumie in pompösen Museen ausgestellt zu werden. Doch es vermag auch, sich in die Unendlichkeit des Sternenhimmels emporzuschwingen, als reine Seele zur Liebe und Poesie erkoren. Die Liebe zum irdischen Du ist meist fragil und verletzlich, wie eine kleine zitternde Flamme, man kann sie nur im Traum erleben, im Wachsein ist sie verboten. Vorwurf liegt im Blick der Geliebten, oder aber der Dichter fürchtet, sich zu verlieren, und widersteht im letzten Augenblick der lockenden Verführerin. Verzweifelt bleibt er zurück, wenn sie ihn ohne Grund verlässt. Aber selbstbewusst kann er seiner Geliebten durch ein Gedicht zur Unsterblichkeit verhelfen. Harmlose Heiterkeit und Lebensfreude, wie sie das Lied aus der Tulpenzeit besingt, spiegelt sich nur im koketten Pingpongspiel der Tennispartner, wobei der witzige Refrain doch die Monotonie verrät.
Nicht immer bleibt das lyrische Ich im eigenen Seelenraum befangen. Es öffnet sich weit in die Gesellschaft, bezieht ungewöhnliche Metaphern aus einer aktuellen Situation, wie dem explodierenden Tanker oder einem Telefon. So kann die Liebe eines vom Leid bedrohten Ehepaars weltweite Solidarität erwecken. Die individuelle Melancholie droht durch Mikroben die Menschheit zu infizieren, sie wird zum kollektiven Leid, das durch das Unrecht der Herrschenden verursacht wird. Die Sehnsucht nach einer utopischen, gerechten Gesellschaft verbindet sich mit dem Bild einer geliebten Freundin, mit der man ein einfaches, harmonisches Leben teilen kann. Aber muss eine eitle Frau sich von ihren schwarzen Haaren trennen, um frei und selbstbestimmt leben zu können?
Das Leben spielt sich in Tragödien ab, der Mensch wird von Ängsten verfolgt, flüchtet vor Gefahren, die überall lauern. Alles geschieht im Namen des Leids, in allen Regionen zieht es blutige Spuren, Gespenster der Ermordeten gehen um. Einen Ausweg scheint es nicht zu geben außer der Flucht in die Illusion der Kinowelt, in die Schwermut der Arabeskenschnulzen und den Traum von der Straße des Glücks.
Das Lebensgefühl der Türken zu Anfang des 21. Jahrhunderts wird von der Melancholie (Hüzün) bestimmt, unsere Anthologie bestätigt das. Hilmi Yavuz, der seine gesammelten Gedichte unter dem Titel Was uns am besten steht, ist die Melancholie veröffentlicht hat, bringt es in seinem Gedicht dolch und abend auf die poetische Formel: »der mensch lebt, ich weiss, nur aus traurigkeit«.
Erika Glassen