Der Mathematiker (1975) ist der letzte Roman von Oguz Atay (1934–1977). Während seine früheren Werke »Die Haltlosen« (1971/72) und »Gefährliche Spiele« (1973) wegen ihrer komplexen Erzähltechnik und der asymmetrischen Struktur zu den bedeutendsten Werken der zeitgenössischen türkischen Romanliteratur zählen, zeichnet sich »Der Mathematiker« durch seine thematische Stringenz aus und stieß daher auf eine viel stärkere Resonanz bei der Leserschaft. Zweifellos wäre es zu einfach, seinen Erfolg einzig und allein darauf zurückzuführen. Das Werk war als biografischer Roman konzipiert und konnte sich auf schriftliche Dokumente, Aussagen von Zeitzeugen und engen persönlichen Kontakt mit der Witwe des Porträtierten, Jale Inan, und Erinnerungen seines Sohnes Hüseyin stützen. Oguz Atay lässt aber durch die künstlerische Gestaltung des Materials, ohne dessen Quellenwert anzutasten, jeden Moment seine Erfahrung als Romancier erkennen. Abgesehen von der biografischen Dimension trägt das Werk auch autobiografische Züge: Denn die Persönlichkeit, deren Lebensgeschichte erzählt wird, Professor Mustafa Inan (1911–1967), war Oguz Atays Hochschullehrer an der Technischen Universität Istanbul. Das eigentliche Metier des Autors ist also das Ingenieurwesen, ebenso wie das seiner Romanfigur. Diese Parallelität hat die emotionale Verbundenheit Oguz Atays mit seinem Romanhelden begünstigt und es ihm deutlich erleichtert, Mustafa Inan als Romanfigur zu gestalten und mehrdimensional in Erscheinung treten zu lassen.
Die Ähnlichkeit des Lebenslaufs des Autors mit dem seines Romanhelden ist jedoch nicht durchgängig, und das kännen wir ohnehin kaum erwarten. Wenn wir einen Blick auf Atays Biografie werfen, fällt auf, dass seine Mutter, Muazzez Zeki Hanim, eine Istanbuler Grundschullehrerin und sein Vater, Mehmet Cemil Bey, ein Strafrichter aus Kastamonu war. Oguz Atay hat also gewissermaßen die Polarität der Türkei zwischen den europäischen und anatolischen Einflüssen im Gegensatz zu Mustafa Inan schon früh innerhalb seiner Familie erfahren. Unter den westlichen Autoren, die er in seiner Jugend las und die ihn beeinflusst haben, waren Dostojewski, Kafka, Musil, Nabokov u. a. Zu den türkischen Autoren, die ihm später nahestanden und philosophische Debatten und literarisch geprägte Gesprächsrunden unter Freunden pflegten, gehörten Halit Refig (geb. 1934) und Kemal Tahir (1910–1973). Halit Refig ist ein berühmter Filmregisseur, Kemal Tahir war ein bedeutender Romanschriftsteller. Bei diesen Unterhaltungen fällt Oguz Atay den Freunden durch sein profundes Wissen über westliche Denker und Schriftsteller auf. Da Oguz Atay ja eigentlich Ingenieurwissenschaft studiert hatte, standen seine umfassenden Kenntnisse in den Bereichen Kunst und Literatur in einem interessanten Kontrast dazu. Er selbst war sich dessen bewusst. Wie wir sehen, ist die Persönlichkeit, deren Leben er im Roman »Der Mathematiker« erzählt, auch an literarischen und kulturellen Dingen interessiert; anders ausgedrückt, auch Mustafa Inan war jemand, der Ingenieurwesen und Kultur miteinander in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen versuchte.
Die Struktur des biografischen Romans, die Oguz Atay wählt, ermäglicht es ihm, seine persönliche und fachliche Verbundenheit mit seinem Protagonisten und auch die Übereinstimmung ihrer Auffassungen in kulturpolitischen Fragen immer wieder ins Spiel zu bringen. In einer Art Rahmenhandlung führen ein »Professor mittleren Alters«, das Alter Ego des Autors, und ein »junger Mann aus Adana«, ein Studienanfänger der Technischen Hochschule Ankara, die bei der Veranstaltung der posthumen Preisverleihung an Mustafa Inan zufällig miteinander ins Gespräch kommen, dann über längere Zeit einen intensiven Dialog über das Leben und Wirken Mustafa Inans. Oguz Atay schafft sich hier ein Medium, wodurch er das biografische Material vorführen und diskutieren lässt . Der junge, noch völlig unerfahrene Student ist sozusagen ein Versuchsobjekt, an dem die Wirkung der pädagogischen Funktion dieser vorbildlichen Lebensgeschichte erprobt wird. Der Roman hat also die Form eines Gesprächs, in das Teile des Materials assoziativ, wörtlich oder fiktionalisiert eingeflochten werden. So entsteht häufig ein Stimmengewirr, wenn sich die namentlich genannten Freunde, Schüler und Kollegen, übrigens durchweg authentische Figuren, Gehör verschaffen oder wenn gar der innere Monolog der vorübergehenden Witwe Jale Inan vernehmbar wird.
Wir lernen Mustafa Inan, angefangen von seinen Kindheitsjahren in Adana, Schritt für Schritt kennen. In diesem Sinn ist Oguz Atay der Autor eines »Bildungsromans« und damit der Schöpfer einer Romangattung, von der es in der türkischen Literaturgeschichte nicht so viele Beispiele wie in der deutschen Literatur gibt.
Und dennoch unterscheidet sich sein Roman von der klassischen Struktur des Bildungsromans. Die Lebensgeschichte wird nicht streng chronologisch dargeboten. Wir erfahren zwar etliches über die Kindheitsjahre des Helden, jedoch nicht, wie er zu einem erwachsenen Mann heranreift; wir kännen zwar den Entwicklungsgang seiner intellektuellen Persönlichkeit bis zu seinem Tod verfolgen, aber von seinen Lehrmeistern, von Personen, die Mustafa Inan als Kind oder Jugendlichen entscheidend geprägt und beeinflusst hätten, ist nicht die Rede. Mustafa Inan erscheint wie ein Mensch, der selbst nicht erzogen wurde, sondern bereits in seiner Schulzeit andere erzieht, der von Anfang an seine Kameraden lenkt und unterrichtet. In dem Roman wird betont, dass es eine ihm innewohnende seelische Wirkkraft ist, die ihn antreibt. Die Basis dieser Kraft bilden Wissbegier, Menschenliebe, Güte und eine Lebensfreude, die alles umspannt. Der kleine Mustafa ist zwar in miserablen Verhältnissen aufgewachsen, doch sogar die materielle Armut und die Tatsache, dass er in den schulfreien Sommermonaten schon früh als Lehrling bei verschiedenen Meistern arbeiten musste, haben ihn vieles gelehrt. Andererseits hat ihn seine schwache Konstitution als Kind davor bewahrt, sich faul und träge treiben zu lassen. Da er als kleiner Junge in Adana vom Dach gefallen war, befürchtet sein Vater, dass aus ihm kein richtiger Mann werden kännte. Aber gerade diese immer wieder geäußerte väterliche Besorgnis beflügelt Mustafa sein Leben lang und verleiht ihm die Willensstärke, etwas Besonderes zu werden.
Die 1920er- und 1930er-Jahre, in denen Mustafa Inan seine Kindheit und Jugend verlebte, waren trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten von einem Klima des Idealismus beherrscht. Oguz Atay gelingt es, diese frühe Zeit der Republik, die der Schüler und Student unter kärglichen Bedingungen in staatlichen Internaten verbrachte, anschaulich zu schildern und kritisch zu beleuchten. Dadurch werden seine Leserinnen und Leser mit den damaligen äkonomischen und kulturellen Bedingungen in der Türkei vertraut. Mustafa Inan blieb lebenslänglich Idealist. Da der Lehrerberuf von Anfang an seinem Ideal entsprach, hat er sich für die akademische Laufbahn entschieden, die Forschung und Lehre miteinander verbindet, obwohl er wusste, dass er als Bauingenieur mehr Geld hätte verdienen können.
In seinem letzten Studienjahr nimmt das Leben Mustafa Inans eine entscheidende Wendung. In der Familie des Museumsdirektors Ogan, die Mustafa, zu jener Zeit Student, als Privatlehrer der Tochter Jale kennenlernt, wird er Zeuge des verwestlichten Lebens von Istanbul: Die Annäherung zwischen ihm und Jale, deren Geschwister, die Klavier und Geige spielen, eine Schwester, die Literatur an der Universität studiert, und die ganze Familie, die ihn, Mustafa Inan, aufrichtig schätzt und ihm herzlich zugetan ist, dieses Milieu eröffnet ihm eine neue Welt. Auch als Jale zum Studium der Archäologie nach Deutschland geht, ist er oft als Freund der Familie zu Gast bei den Ogans. In den Briefen, die er an Jale nach Deutschland schreibt, Während er in der Schweiz promoviert, zitiert er Gedichte von Goethe und Fuzuli. Ihn umfängt ein geistiges Klima, das ihm seine eigene Familie nicht bieten konnte. Der Rückhalt in diesen gebildeten Kreisen verleiht ihm sicher auch Kraft und Ehrgeiz, die Hochschullaufbahn anzustreben.
Ob er die Ehe mit Jale Ogan, die als Archäologin selbst eine akademische Laufbahn einschlägt, wagen soll, hat sich Mustafa Inan lange überlegt. Denn seine Mutter gibt ihm zu verstehen, dass sie sich diese höhere Tochter aus dem Konak in Erenköy nicht als Frau ihres Sohnes wünscht. Doch Jale bringt trotz der bescheidenen Einkünfte, mit denen das junge Paar, dem bald ein Sohn geboren wird, auskommen muss, die nötige Energie auf, um es Mustafa zu ermöglichen, sich seinen Idealen, der Lehre und Forschung, zu widmen. So durchläuft er in kurzer Zeit eine steile akademische Karriere: Nach seiner Promotion in der Schweiz wird er Assistent, Dozent und Professor an der Technischen Universität in Istanbul. Er wirkt als Dekan und Rektor dieser Institution und gelangt durch seine Forschungsarbeiten zu internationalem Ansehen. In den Jahren nach dem revolutionären Militärputsch von 1960 wird ihm sogar ein Ministerposten angetragen, den er aber zugunsten seiner Studenten ablehnt.
Es ist ein Glücksfall, dass mit Oguz Atay ein versierter Romanautor und gleichzeitig ein Mann vom Fach dieses Gelehrtenleben schildert. In einem der letzten Kapitel des Romans tritt er leibhaftig als einer der Zeitzeugen im Roman auf und erinnert sich an eine Begegnung mit seinem Lehrer Mustafa Inan in seinen eigenen Studentenjahren. In dieser Szene wird nicht nur die kommunikative Persönlichkeit Mustafa Inans lebendig, sondern man erfährt auch, wie ungerecht und willkürlich viele seiner Professorenkollegen die Studenten behandeln. Aber in dem geschlossenen System bleibt auch der Dekan Mustafa Inan machtlos. Hier werden auch seine Schwächen sichtbar. VerÄnderungen lassen sich kaum durchsetzen, und das Amt frisst wertvolle Kräfte, die der Forschung verloren gehen. Es gelingt Oguz Atay durch solche und andere Szenen nicht nur, die Atmosphäre an der Hochschule lebendig werden zu lassen, sondern selbst die spezifischen wissenschaftlichen Themen wirken in seiner Darstellung nie trocken, sondern kännen – ganz im Sinne Mustafa Inans – bei Lesern, die sich zum Vergnügen mit dem Roman befassen, Interesse wecken. Die Misere im hierarchischen System der türkischen Hochschulen, an denen sich die schlecht bezahlten und oft unqualifizierten Professoren wie Halbgötter aufführen, spüren wir hautnah. Mustafa Inan allerdings ist eine Ausnahmeerscheinung. Er plädiert für Offenheit im Umgang mit Assistenten und Studenten, und sein größtes Anliegen ist es, die türkischen Intellektuellen aus ihrer geistigen Trägheit wachzurütteln. Er referiert und schreibt über das Denken als Anstrengung und Sport, er fühlt als Lehrer die Mission, jedermann das Denken beizubringen. Er führt die Zurückgebliebenheit der »unterentwickelten« Länder darauf zurück, dass die Menschen nicht gewohnt sind, den Verstand anzuwenden und den Dingen auf den Grund zu gehen. In diesem Zusammenhang spricht er von der Schicksalsgläubigkeit, Systemlosigkeit und geistigen Zerfahrenheit des modernen orientalischen Menschen, die es zu Überwinden gelte. Er wendet sich aber auch gegen den Import von westlichen Wissenschaftlern in die Türkei. Man müsse eine eigene wissenschaftliche Tradition und Schule begründen. Das ist Mustafa Inan wohl gelungen. Viele seiner Schüler haben später im westlichen Ausland ihren Weg gemacht. Er trat auch dafür ein, dass erfolgreiche türkische Wissenschaftler im internationalen Rahmen ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen sollten, und hoffte auf die Popularisierung der Wissenschaft in der türkischen Öffentlichkeit.
Eines der Themen, mit denen Mustafa Inan sich sein Leben lang befasste – und auch das verbindet ihn mit dem Romanautor –, ist das Problem der kulturellen Identität. Zu der selbst heute noch aktuellen Streitfrage, ob die Türkei zu Europa oder Asien, zum Orient oder Okzident gehört, haben türkische Intellektuelle seit Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Meinungen in aller Ausführlichkeit dargelegt, sich an Debatten kontrovers beteiligt und ihre individuellen Ansichten vertreten. Mustafa Inan war jemand, der aus beiden Quellen schöpfte, ohne dabei den Osten zu verleugnen oder gar dem Westen Priorität einzuräumen.
Ein Indikator für die Bedeutung, die der Autor diesem Thema beimisst, ist allein schon die Tatsache, dass ihm ein eigenes Romankapitel mit der Überschrift »Orient und Okzident« gewidmet wird. Oguz Atay gibt nicht nur kursorisch die Ansichten Mustafa Inans durch die Zeugnisse seiner Freunde wieder, sondern zitiert auch eine längere Passage aus einem Zeitungsartikel, den Inan 1963, vier Jahre vor seinem Tod, veröffentlicht hat. In diesem Beitrag, in dem es um die Abwanderung von türkischen Wissenschaftlern (brain drain) in den Westen geht, kritisiert er, dass man die Tätigkeit von Forschern im Ausland unter dem Gesichtspunkt verteidigen wollte, dass dadurch die internationale Kooperation und der Weltfrieden gefährdet werde:
»In dieser Überlegung, die im Hinblick auf den Weltfrieden angestellt wird, liegt unserer Meinung nach ein Widerspruch. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich heraus, dass echter Frieden auf der Welt nur mäglich wird, wenn die wirtschaftlichen und kulturellen Niveauunterschiede zwischen den Nationen beseitigt werden. Entsprechend diesem Gedanken halfen die fortschrittlichen Nationen den weniger entwickelten Ländern. Doch selbst wenn die Aufhebung des Niveauunterschiedes am Anfang durch Hilfe von außen garantiert wird, müssen die unterentwickelten Länder sich im Laufe der Zeit mit ihren eigenen Mäglichkeiten wirtschaftlich entfalten. Und für diese wirtschaftliche Entwicklung von innen heraus werden Wissenschaft, Technik und daher auch die entsprechenden Fachkräfte gebraucht. Man kann niemals erwarten, dass auf diese Weise die Nationen, die unaufhörlich ihre eigenen Kapazitäten verlieren, den Niveauunterschied ausgleichen und dem Weltfrieden damit gedient ist.«
Mustafa Inans Interessen reichten weit über sein Fachgebiet hinaus. Aus dem hochbegabten Jungen aus Adana, dem mathematischen Wunderkind mit einem unglaublichen Gedächtnis, das keine Schulbücher besaß und seine wenigen Notizen in ein ominöses gelbes Heft eintrug, wurde in Istanbul ein berühmter Redner, in dessen Vorträge viel Publikum strämte. Seine Werke über die Mechanik der Materie und die Fotoelastizität erregten bei der internationalen Fachwelt Aufsehen. Er galt als »Universalgeist« , denn unter Literaten konnte er östliche und westliche Dichter rezitieren und über die islamische Mystik dozieren.
Im zweiten Teil des Romans wird Mustafa Inans Gedanken über Themen wie Intelligenz, Gedächtnis, Denken sowie die Methode, das Denken zu lernen, breiter Raum gewidmet. Seine Ideen über den Zusammenhang zwischen Sprache und Denken, Sprache und Wissen und Sprache und Kreativität sowie sein Verständnis von Literatur zeigen seinen weiten geistigen Horizont. Diese umfassende Bildung nutzte er als Lehrer:
»Man sollte keine Angst davor haben, man könne wie Hans Dampf in allen Gassen aussehen. Es ist nicht leicht, meine Herren, sich allem zu widmen und jedem etwas beizubringen« – Worte wie diese zeigen, dass er die pädagogische Aufgabe für genauso wichtig hielt wie seine Tätigkeit als Wissenschaftler.
In Inans Weltanschauung nahm die Toleranz einen bedeutenden Platz ein. In seinem Essay über »Toleranz und Natur« ist davon die Rede, dass die Toleranz auch in der Ethik – wie in der Physik – verankert ist. Wenn er die Physik des Mikrokosmos untersucht, erfahren wir, dass der Mensch zu der Überzeugung gelangt, dass er »seine Grenzen erkennen muss«. In diesem Zusammenhang ist von Heisenbergs »Unschärferelation« die Rede:
»Die Vorgänge in der belebten wie der unbelebten Natur muss man mit einer Toleranzgrenze betrachten. Toleranz ist eine universale Denkweise« – diese Worte erinnern uns an Goethes Sentenz: »Das schänste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren.« (Maximen und Reflexionen)
Oguz Atay versucht in seinem Roman auch, Mustafa Inans universale Weltanschauung anhand der engen wechselseitigen Beziehung, die dieser zwischen der Naturwissenschaft und der Kulturwissenschaft herstellt, zu verdeutlichen. Während er eine Leitungsfunktion an der Universität innehat, beschäftigt er sich »zur Erholung« mit vielen anderen Dingen, zum Beispiel befasst er sich mit den Gedichten von Yahya Kemal (1884–1958) im Kontext der Verknüpfung von Mathematik und Musik, Literatur und Mathematik. Diesem Dichter, der damals in Istanbul sehr verehrt wurde, begegnete er auch persänlich bei offiziellen Gesprächsrunden, und beide schätzten einander sehr. Die Teilnehmer an diesen Gesprächen, in denen über die ältere Dichtung und die Philosophie des Sufismus debattiert wurde, bewunderten Mustafa Inans weiten Bildungshorizont.
Oft erwähnt Oguz Atay östliche Dichter und Denker, die Mustafa Inan verehrte, und da er dem Orient seelisch und geistig verbunden war, entdeckte er in dem iranischen Dichter Omar Hayyam (1048–1123 oder auch 1131) der ursprünglich auch Mathematiker war, einen Seelenverwandten. Auch die Größen des Westens in Kunst und Literatur sind Mustafa Inan nicht fremd. Der »Professor mittleren Alters« weist den jungen Mann aus Adana auf diese verblüffende Universalbildung seines berühmten Landsmannes hin: »Konnte Mustafa Hoca etwa auch Arabisch? Er konnte alles, mein Lieber: Er kannte sich in Geschichte aus, verstand etwas von Literatur, redete kompetent über Sprache, stellte Thesen zur Etymologie auf, die sonst niemandem einfielen, kannte sich in osmanischer Kunst aus, verstand sogar etwas von Philosophie und wusste darüber hinaus auch noch in Mathematik Bescheid. Und außerdem bewunderten ihn – wirklich und wahrhaftig! – sogar die Professoren dieser Fachrichtungen.«
Etwas, das Oguz Atays Aufmerksamkeit erregte, als er die biografischen Dokumente sichtete, war die Neigung vieler Menschen, Mustafa Inan zu verherrlichen, ja ihn zu einer legendären Figur zu stilisieren. Die Übertreibungen bei all dem, was über ihn erzählt wurde, nahmen manchmal märchenhafte Züge an. Dabei wusste Oguz Atay, dass Mustafa Inan selbst gegen diese Neigung des Volkes anging, weil er, obwohl er die Mentalität und den Stil des berühmten Reisenden Evliya Celebi mit seinen Übertreibungen liebte, nicht wollte, dass dieser Stil sich in die Wissenschaft einschlich. Auf der anderen Seite hielt er die Verherrlichung Mustafa Inans für ein bemerkenswertes Novum, da das türkische Volk eigentlich keine ausreichende Tradition der Wertschätzung von Wissenschaftlern kennt und vielmehr dazu neigt, Kriegshelden zu verherrlichen. Der »Professor mittleren Alters« meint dazu: »Ich bin eigentlich gar nicht so sehr gegen diese Legendenbildung, doch derjenige, der zur Legende wird, sollte dies auch wirklich verdienen. Es ist doch jammerschade, dass die meisten Menschen nicht besonders beeindruckt sind, wenn man die Ereignisse nicht ein bisschen aufbauscht. Wenn du nicht erzählst, du hättest ganz allein fünfzig Leute niedergemetzelt, kannst du kein Held werden. Außerdem hären sich die Märchen aus dem Bereich der Wissenschaft doch harmlos an. Wer daran glaubt und den Mythen der Helden der Wissenschaft nacheifert, wird am Ende allenfalls Professor oder dergleichen, doch immerhin kein Menschenschlächter.«
Die Wertschätzung des Individuums als Prinzip des Bildungsromans und die Bedeutung, die darin dem Entwicklungsprozess der Gedanken und der Weltanschauung des einzelnen Menschen eingeräumt wird, ließ sich kaum mit dem sozialistisch orientierten Kunstverständnis vereinbaren, das im türkischen Roman der 1960er- und 1970er-Jahre vorherrschte. Oguz Atays Individualismus, der besonders in seinem Roman »Die Haltlosen« zum Ausdruck kommt, wurde in den literarischen Kreisen jener Epoche fast als befremdlich empfunden. Erst lange nach seinem Tod in den 1980er- und 1990er-Jahren konnte diese Eigenheit neben den Neuerungen, die er in die Kunst des Erzählens einführte, gewürdigt werden.
Doch auch in den westlichen Bildungsromanen gelangt das Individuum, dessen Entwicklung verfolgt wird, schließlich zum Pflichtbewusstsein und stellt sich damit bewusst in den Dienst der Gesellschaft. Man denke nur an Joseph Knecht in Hesses Glasperlenspiel, der zwar hermetisch und fern von der Gesellschaft in Kastalien aufgewachsen war, sich aber schließlich zum Lehrer berufen fühlt e und sein Leben verliert, weil er in den See springt, um seinem Schüler ein Beispiel zu geben!
Wenn Oguz Atay über die Bedeutung der Ausbildung von Wissenschaftlern für den Aufbau des Landes spricht, weist er auf die zentrale Rolle des »Individuums« hin: »Wer kännte uns ändern, solange wir nicht als Individuen hervortreten und endlich auf unsere schlafmützige Philosophie verzichten und solange jeder Einzelne von uns seinen Beitrag den Menschen unseres Landes vorenthält?«
Mustafa Inan, dessen Persönlichkeit in »Der Mathematiker« auf fiktionaler Ebene rekonstruiert wird, unterscheidet sich wesentlich von den gebrochenen, haltlosen Charakteren, wie man sie beispielsweise schon in den Romanen von Halid Ziya Usakligil (1865–1945) und in den ersten Werken Oguz Atays findet. In gewisser Weise verkörpert Mustafa Inan in der Darstellung Oguz Atays den ersten »positiven Helden« in der modernen türkischen Romanliteratur. Er diagnostiziert die Krankheit der Gesellschaft und möchte sie heilen. Trotz aller Widerstände resigniert er nicht, er zerbricht nicht seelisch daran, sondern geht physisch zugrunde. Er glaubt an die Rolle des Individuums, das selbst allen Dingen auf den Grund gehen muss, ohne die Schuld für Missstände bei den anderen zu suchen. Oguz Atay verschweigt nicht, dass Mustafa Inan die produktive Methode zur geistigen Erziehung in der islamischen Mystik (tasavvuf) gefunden hat. Um ein »vollkommener Mensch« (kamil bir insan) zu werden, muss der Einzelne ständige Selbstkontrolle üben, Seelenanalyse (nefis muhasebesi) betreiben, um mit seinen eigenen Fehlern abzurechnen. Es kommt also auch ein asketischer Zug hinzu. Mustafa Inan mächte keineswegs zugunsten der Verwestlichung auf alle östlichen Traditionen verzichten. Als Wissenschaftler denkt er sogar darüber nach, ob der große islamische Mystiker Mevlana Rumi durch intuitive Weisheit (hikmet) nicht ebenso tief in die Geheimnisse der Natur eingedrungen sei wie der westliche Forscher Albert Einstein.
Oguz Atay hat in seinem biografischen Roman, dem er selbst dokumentarischen Charakter zuspricht, versucht, die faszinierende Persönlichkeit Mustafa Inans in all ihren Facetten zu erfassen. Doch er musste erfahren, dass es in der türkischen Gesellschaft gar nicht so einfach ist, eine authentische Biografie zu schreiben, die sich auf dokumentarisches Material stützt. Denn bei uns gibt es keine Tradition wie das Aufbewahren von Dokumenten: Selbst wenn Oguz Atay mit Leuten spricht, die Mustafa Inan gekannt haben, bringt er nur Banalitäten und Triviales in Erfahrung und hat Mühe, wirklich spezifische Informationen über die Person zu erhalten, um die es ihm geht. Er kommt zu dem Schluss, dass nur ein guter Student die Aufgabe übernehmen kann, den Wert seines Hochschullehrers und seine charakteristischen Seiten herauszuarbeiten: »Gute Professoren müssen Studenten haben, die so gründlich sind wie sie selbst, damit die Legenden um Mustafa Hoca nie in Vergessenheit geraten. Du weißt, auch Sokrates hat nur einen Platz unter den Unsterblichen gefunden, weil er einen Schüler wie Platon hatte. Und was uns angeht, noch haben wir keine Quellen, die Mustafas Bedeutung schriftlich dokumentieren kännten. Denn selbst wenn wir die Menschen in unserer Umgebung noch so sehr bewundern, so haben wir noch längst nicht alles, was wir über sie denken, aufgeschrieben. Vielleicht ist unser bescheidenes Bemühen hier von Nutzen.«
Im letzten Kapitel gibt Oguz Atay zu erkennen, dass der Roman eines Wissenschaftlers ganz bewusst eine pädagogische Funktion erfüllen soll. Der »Professor mittleren Alters« sagt zu dem jungen Mann aus Adana: »Ich wünsche mir, dass Mustafa Inan, 1327 als Sohn von Hüseyin Avni, aus Malatya gebürtig, in Adana von Rabia zur Welt gebracht, dir tatsächlich etwas beibringen konnte. Ich wünsche mir, dass seine Abenteuer in der Welt der Wissenschaft dir als Vorbild dienen.« Damit übernimmt Oguz Atay das Vermächtnis seines viel zu früh verstorbenen, genialen Lehrers Mustafa Inan, der nun als Romanfigur weiterleben und künftigen Generationen als Erzieher dienen kann.
Mustafa Inan erscheint in Oguz Atays Roman als ein moderner geistiger Vordenker zwischen Orient und Okzident, der unbeirrt den rechten Weg zeigt, nämlich, dass sich eine Gesellschaft nur entwickeln kann, wenn alle Menschen die Trägheit und Denkfaulheit überwinden. Der Wissenschaftler weiß, die sozialen Institutionen funktionieren wie kommunizierende Röhren. Das Individuum allein vermag die Welt nicht zu verändern, aber es muss sich selbst disziplinieren und als Lehrer die Verantwortung für die anderen übernehmen. Insofern enthält dieser Roman, der den abenteuerlichen Weg des kleinen Mustafa aus der anatolischen Provinz in die große Welt der internationalen Wissenschaft faszinierend schildert, eine allgemeingültige Botschaft.
Gürsel Aytac