Woher rührt eigentlich die linke Einstellung Ihrer Romanfiguren?
Ich stamme aus einer Familie, die seit drei Generationen politisch links ist. Vor dem Militärputsch vom 12. September 1980 nahmen Streiks und Aktionen in meinem Kinderkopf einen wichtigen Platz ein. Der Putsch betraf nicht nur meinen Vater oder meinen Onkel, sondern unsere ganze Familie wurde da mit reingezogen.
Wie war das Leben am Vorabend des 12. September in solch einer politisierten Familie?
Unser Haus war immer voll. Die Mahlzeiten nahmen wir stets in großen Runden ein, wir waren immer fröhlich, optimistisch und voller Enthusiasmus.
Was machten die Familienmitglieder denn beruflich, und gehörten sie einer Partei an?
Mein Vater und mein Onkel waren Lehrer. Mein Vater war in der TKP (Türkische Kommunistische Partei), auf welcher Ebene, weiß ich aber nicht. Er und meine Mutter erhielten Deportationsstrafen, sie wurden in ein Gebiet in der Nähe von Izmir verbannt. Mein Onkel spielte, glaube ich, auf höherer Ebene mit. Er gehört zu den Gründern der TBKP (Türkische Vereinigte Kommunistische Partei) in Izmir, saß fünf, sechs Monate im Gefängnis und hatte bis dahin im Untergrund gelebt.
Bei den Protagonisten in »Zorn« kommt alles vor, die Bandbreite reicht vom Selbstmord bis hin zum Wahnsinn. Inwieweit spiegelt sich da Ihre Familie, inwieweit ihre eigene Lektüre?
Die Linken in meiner Familie waren sehr offene Menschen, sie waren bei allen beliebt. Sie steckten nicht im engen Organisationgefüge. Ihre Schüler besuchten uns, und dann wurde über die unterschiedlichsten Themen diskutiert. Dann kam die Zeit nach 1980, das war auch meine Zeit. Denn ich lernte schon früh Menschen kennen, die ihre psychische Gesundheit und ihren Verstand verloren hatten. Es gibt solche Menschen in Izmir und auch in Istanbul, Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes verrückt geworden sind. So kam das eben alles Stück für Stück zusammen und nahm Einfluss auf mein Schreiben. Ich schuf diese Typen also vor einem traumatischen Hintergrund.
Lässt sich sagen, dass Leben und Politik heute so verhärtet sind, dass sie keine Naivitäten mehr dulden?
Als Sohn eines Lehrers lebte ich immer in einem Zwischenbereich. Das ist das Schicksal von Lehrerkindern, du bist weder sehr arm noch reich. Man wird hofiert von Schleimern und reichen Eltern. Doch Mitte der Achtzigerjahre wurde mir klar, dass ich in einer armen Familie lebte. Irgendwo in meinem Kopf setzte sich eine Idee fest: Eines Tages werde ich für die Lehrerkinder Rache nehmen. Nichts bleibt ungesühnt, auch nicht die Taten des Staates. Eines Tages greift jemand zur Waffe oder schreibt ein Buch und nimmt Rache für jene Zeit.
Ist »Zorn« also die Rache eines Lehrerkindes?
Sie können Lehrer oder intellektuelle Staatsangestellte in Not und Elend stürzen und auf den Plätzen verprügeln lassen, weil sie ein besseres Leben einfordern. Verschärfen sich ihre Lebensumstände weiter, nimmt man ihnen das Geld weg, verurteilt sie zur Armut – sollen dann ihre relativ gut ausgebildeten Kinder wegen ihrer Eltern büßen, sich erniedrigen lassen und dazu schweigen? Nein, so geht das nicht, sie werden nicht schweigen. Es gab andere vor mir, die gekämpft haben, mir fiel es zu, ein Buch zu schreiben, und ich habe versucht, die Rache zum Ausdruck zu bringen. Es wird andere nach mir geben. Wir werden uns auf jeden Fall für die Lehrerkinder rächen.
Hat das Buch Sie denn beruhigt?
Nein, im Gegenteil ...
Sie fordern dem Leser viel ab. Um die Reise Ihrer Figuren zu verfolgen, ist er gezwungen, sich zu konzentrieren. Wie viel Mühe haben Sie auf den Aufbau verwendet?
Ich kann nicht sagen, dass ich irgendetwas bewusst gemacht hätte. Der Text und ich haben uns gegenseitig konstruiert. Einen Grundzug kann ich aber doch nennen: Ein Zug macht Krach beim Vorbeifahren, so etwas sollte der Leser spüren.
Durch den ganzen Roman fährt ja ein Zug ...
Ich wollte, dass für die gesamte Lesezeit, ob nun drei, fünf, zehn, zwanzig oder wie viele Stunden auch immer, lärmend ein Zug durch die Seele des Lesers fährt. Das trieb mich beim Schreiben an, denn ich wollte beim Schreiben Spaß haben und leiden. Ich habe geschrieben, was ich auf dem Herzen hatte.
Ihre Sprache ist reich, Ihre Bilder sind ausdrucksstark. Woher kommt das?
Mein Vater unterrichtete Literatur. Wenn ich eine gute Note nach Hause brachte, wünschte ich mir wie alle Kinder ein Fahrrad, aber er brachte mir Bücher mit. So habe ich von klein an viel gelesen. In der Familie wurde viel geredet, und das ständige Unterwegssein führte zu unterschiedlichen, mit Flüchen angereicherten Sprechweisen. Das wird mir jetzt im Nachhinein bewusst.
Im Aufbau des Buches steckt auch eine gehörigePortion Spannung.
Das habe ich eben vergessen: Krimis, Thriller habe ich sehr gern gelesen, jetzt habe ich keine Gelegenheit mehr dazu.
Rührt daher die dynamische Struktur des Romans?
Gut möglich. Ein guter Action-Film oder eine Komödie gefällt mir. Schwere Filme liegen mir nicht, ich wünsche mir dann immer nur, dass sie schnell vorbei sind. Vielleicht beeinflusst mich das beim Schreiben.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Erschienen in »Cumhuriyet« (5. Januar 2003)
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe