Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein bereits verstorbener Autor vernehmlich beklagt, man sei seinem Text nicht treu genug geblieben, ist eher gering. Dies ist der Vorteil, wenn man einen toten Autor übersetzt. Diesem kleinen Gewinn an Bequemlichkeit stehen jedoch zwei erhebliche Nachteile gegenüber.
Zum einen kann man dem toten Autor nicht mehr beim Reden und Gestikulieren zusehen. Ein großes Manko. Denn auch wenn der Mensch zumeist anders schreibt als er spricht, so bleibt er sich doch auf einer bestimmten Ebene treu. Wenn man ihn kennt, kann man sich als Übersetzer an einer schwierigen Stelle überlegen, wie der Autor diesen Satz wohl sprechen, was für ein Gesicht er dabei machen und welche Körperhaltung er einnehmen würde. Dann kann man den Satz im selben Ton nachsprechen, dabei die gleiche Grimasse ziehen und auf ähnliche Weise mit dem Arm rudern, und häufig weiß man dann, wie die schwierige Stelle übersetzt werden muss. Jedenfalls, solange es um Atmosphärisches geht.
Häufig führt Intuition nicht weiter, es müssen Auskünfte eingeholt werden. Hier macht sich der zweite, besonders gewichtige Nachteil bemerkbar. Denn wenn der Autor tot ist, fällt nicht nur die höchste Entscheidungsinstanz bei unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten weg. Wenn das Werk schon ein paar Jahre alt ist, können auch bestimmte Dinge bereits verschwunden sein, die er in seinem Werk beschrieben hat. Diese Gefahr ist besonders groß, wenn man Texte aus einem Land wie der Türkei übersetzt, das sich rasant verändert und dabei nur allzu gern das Alte auf den Misthaufen der Geschichte wirft. Ohne einen Autor als Auskunftei kann das eine langwierige Suche bedeuten.
Das vorliegende Werk von Yusuf Atilgan beispielsweise spielt in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Schauplatz ist zumeist der Istanbuler Stadtteil Beyoglu. C., der Romanheld, durchstreift die Gassen dieses alten Stadtviertels. Seine Wege können die Leser im Großen und Ganzen mit dem Finger auf dem Stadtplan nachvollziehen. Immer wieder mal kommt C. an einem Ort vorbei, den der Autor Atilgan nur als »Daire«, Amt, bezeichnet. »Güler (seine kurze Liebe) geht die Treppen in Richtung Amt hinunter«, heißt es da beispielsweise. Da fragt man sich als Übersetzerin: Was ist das für ein Amt?, und weiß noch nicht, dass man gerade eine lange Irrfahrt angetreten hat.
Als Erstes guckt man in den Stadtplan: kein Amt eingezeichnet. Dann ruft man im Internet den Stadtplan auf der Webseite des Rathauses Groß-Istanbul auf: Dort kann man einzelne Ausschnitte der Stadt beliebig vergrößern und sich angeblich von der einzelnen Bushaltestelle bis zum Postamt alles aufzeigen lassen – doch nur die Vergrößerung gelingt, alle anderen Funktionen verweigern sich. Man guckt in das Buch »Istanbul« von Orhan Pamuk, das man vor geraumer Zeit gekauft, aber noch nicht gelesen hat und stellt dabei fest, dass es sich um eine Autobiografie handelt; das gesuchte Daire befindet sich natürlich nicht darin. Man schaut im sehr interessanten »Istanbul-Führer« des Intellektuellen Murat Belge nach (gibt’s noch nicht auf Deutsch) und entdeckt dabei zufällig, dass mit der »Feuerwarte«, die bei Yusuf Atilgan immer wieder erwähnt wird, der Galata-Turm gemeint ist, der bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts diesem Zweck gedient hat. Ansonsten konzentriert sich Murat Belge jedoch auf architektonisch oder historisch interessante Gebäude und Orte – das Daire gehört offensichtlich nicht dazu. Nun wäre wohl spätestens der Moment erreicht, in dem man den Autor befragen würde – wenn er denn noch lebte. Stattdessen heißt es nun: weitersuchen.
Das Rathaus von Beyoglu hat auch eine Website, in strahlendem Blau gehalten. Von jeder neuen Seite, die sich öffnet, lächelt der junge, gutaussehende Bürgermeister der moderat-islamischen AK-Partei. Es gibt dort elektronische Formulare, die der Bürger ausfüllen und abschicken kann, und es werden Telefonnummern angegeben. Kein Stadtplan. Wenn man die Telefonnummer anruft, erteilt ein Anrufbeantworter Anweisungen. Je nach Problem soll eine andere Nummer gedrückt werden. Für die Suche nach einem Daire gibt es keine Nummer, und es gibt auch keinen Operator für Ratlose. Ob die modernen Istanbuler tatsächlich Mitglied der EU werden wollen, obwohl man in der EU so altmodisch ist, die Telefonzentralen noch mit lebenden Mitarbeitern zu besetzen?
Im Rathaus von Groß-Istanbul ist schließlich eine Mitarbeiterin zu sprechen. Sie verbindet zur Nationalbibliothek, dort leitet man weiter zur Abteilung Beyoglu, dort erklärt der Zuständige, er habe zwar alte Stadtpläne und könne die auch heraussuchen, aber einen Blick hineinwerfen könne er leider nicht. Beschwörungen, man sitze in Berlin und es sei dringend, verhallen.
Also auf zur Berliner Staatsbibliothek. Die ist zum Thema Türkei sehr gut sortiert. Sie besitzt gleich mehrere Stadtpläne von Istanbul aus unterschiedlichen Zeiten, darunter drei aus den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. In der würdigen Stille des Lesesaals kann ich zwei davon einsehen – ihnen ist zum Beispiel zu entnehmen, dass noch vor vierzig Jahren hinter dem Taksim-Platz, dem heutigen Stadtzentrum, eine Wiese lag. Aber das gesuchte Daire ist auch dort nicht eingezeichnet. Vielleicht würde der dritte Plan Aufklärung bringen – »aber der ist offenbar gemopst«, wie der Bibliothekar bedauernd feststellt. Doch dieser Bibliothekar ist es auch, der Rat weiß: Er gibt mir die E-Mail-Adresse eines Mitarbeiters des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul. Und der schaut sich Pläne an und befragt einen Mitarbeiter, einen alten Istanbuler, und nach zwei Tagen kommt eine Antwort: Das rätselhafte Daire ist das alte osmanische »6. Rathaus-Amt«, Türkisch: altıncı Daire-i Belediye, heute als Belediye, nämlich Rathaus von Beyoglu bekannt, unter alten Istanbulern aber noch immer Daire genannt. Mein Dank an dieser Stelle an Dr. Andreas Schachner.
Es ist also keineswegs nur von Vorteil, tote Autoren zu übersetzen. Aber immerhin: Umwege erweitern die Ortskenntnis.