Yusuf Atilgan ist ein atypischer Vertreter der türkischen Moderne. Er blieb unauffällig als Person und hielt sich im Großen und Ganzen vom Literatur- und Kunstbetrieb der Metropole Istanbul fern, was allein genügt hätte – entsprechend der Wendung »Aus den Augen, aus dem Sinn« –, sein Werk zu übersehen. Doch ihm gelang es, fast ohne eigenes Dazutun und von der Provinz aus, mit zwei Romanen und einem Erzählband literarisch Aufsehen zu erregen und auch nach seinem Tod präsent zu bleiben. Heute gilt Yusuf Atilgan in der Türkei als ein moderner Klassiker.
Die beiden Romane, die thematisch miteinander korrespondieren, sind »Der Müßiggänger« (»Aylak Adam«) aus dem Jahr 1959 und »Hotel Heimat« (»Anayurt Oteli«, 1973). Der Erstlingsroman »Der Müßiggänger« wurde im renommierten Yunus-Nadi-Romanwettbewerb mit dem zweiten Preis ausgezeichnet und in der Folge kontrovers diskutiert – kontrovers zwischen den Anhängern der in den Fünfzigern und Sechzigern des letzten Jahrhunderts tonangebenden sozial Engagierten und den Modernisten.
Yusuf Atilgan wurde am 27. Juni 1921 in der westanatolischen Stadt Manisa am Fuß des in der griechischen Mythologie Sipylos genannten Berges Spil geboren. Dort ging er zur Grund- und Mittelschule und wechselte anschließend auf das Gymnasium nach Balikesir in der nördlichen Nachbarprovinz. Nach dem Abitur im Jahre 1939 studierte er an der Universität Istanbul türkische Sprache und Literatur und schrieb 1944 über den Autor Tokatli Kani (18. Jh.) seine Abschlussarbeit. Ab dem zweiten Studienjahr erhielt er ein Militärstipendium. 1945 wurde er in Akşehir am Militärgymnasium für ein Jahr als Türkischlehrer angestellt. Diese Art bürgerlicher Existenz widersprach jedoch seinem Wesen, sodass er sich 1946 in sein Heimatdorf Hacirahmanli in der Provinz Manisa zurückzog, wo er sich fortan mit der Landwirtschaft beschäftigte. Damit entzog er sich auch dem Druck strafrechtlicher Ermittlungen und dem Hexenkessel der Bespitzelungen wegen seiner linken Gesinnung.
Im Jahre 1976 zog Atilgan nach Istanbul. Ab 1980 arbeitete er zeitweilig für verschiedene Verlage, u.a. Karacan, Can, als Berater, Übersetzer und Lektor. Atilgan starb am 9. Oktober 1989 in seinem Haus in Moda, im asiatischen Teil Istanbuls, an Herzversagen. Sein dritter Roman mit dem Titel »Canistan« (Herzland) blieb unvollendet, wurde jedoch posthum im Rahmen der »Gesammelten Werke« publiziert (2000). Zu Lebzeiten, bereits 1960, veröffentlichte er einen Band seiner Kurzgeschichten unter dem Titel »Bodur Minareden Öte« (Jenseits des Zwergminaretts). 1992 wurden seine gesammelten Kurzgeschichten in einem Sammelband mit dem Titel »Eylemci« (Aktivist) herausgegeben.
Etwas einfallslos bezeichnete die türkische Kritik die beiden ersten Romane von Yusuf Atilgan als Romane der Einsamkeit und persönlichen Krise. Doch Yusuf Atilgans »Der Müßiggänger« markiert bereits vor Autoren wie Oguz Atay (1934–1977) und Sevim Burak (1931–1983) einen Meilenstein der türkischen Moderne, die das entfremdete Individuum in den Mittelpunkt stellt und nach neuen sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten sucht. Als früher Wegbereiter dieser Tendenz vor Atilgan ließe sich allenfalls Sait Faik (1906–1954) nennen, dessen Erzählband »Der unnötige Mann« schon 1948 erschienen war.
Die Darstellung der Unverträglichkeit des Individuums mit der es als Medium umflutenden Gesellschaft in solcher Intensität und bedrückender Leichtigkeit war neu. Die bewusste Einfachheit der Sprache ebnete dem Leser den Weg zu einer spannenden Lektüre. Spannungsmomente ergeben sich aus den Kindheitserlebnissen des Romanhelden C., die dessen Persönlichkeit tief geprägt haben, und aus der Auseinandersetzung mit den tradierten Konventionen der Gesellschaft, denen sich die Menschen, wie in einem Ameisenstaat, blindlings fügen, oder zumindest vorgeben, es zu tun. Der Protagonist C. will mit diesen Massenmenschen nichts zu tun haben, ist ihnen jedoch, sobald er sich aus dem Haus begibt, auf Schritt und Tritt ausgesetzt.
Seine psychisch tief wurzelnden Marotten, die auch seine Sicht auf andere Menschen und die gängigen gesellschaftlichen Werte – für ihn Unwerte – prägen, haben ihre Ursache in der Kindheit, im Kindheitstrauma. C. war erst ein Jahr alt, als seine Mutter starb. Seine Tante Zehra wurde zum Mutterersatz und zog ihn auf. Der Vater, ein gut verdienender Makler, autoritär und Schürzenjäger, nimmt sich zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse nicht nur die Dienstmädchen, sondern auch Tante Zehra. Das schockierende Erlebnis schlechthin ist der Moment, als der kleine C. zum ersten Mal bewusst den Beischlaf der beiden beobachtet, dem der lüsterne Satz des Vaters vorausgeht: »Zehra, wo sind denn deine schönen Beine!« Das brennt sich als Schlüsselsatz in C.s Gedächtnis ein. An Tante Zehras Brust oder den Kopf in ihren Schoß gelegt, fühlte sich das Kind C. stets wohl und geborgen. Tante Zehra mit ihren Beinen und ihrem Busen gehörte, in seiner kindlichen Vorstellung, ausschließlich ihm. Der abgewandelte Ödipuskomplex sitzt tief in seiner Seele.
Dieses frühe Erlebnis spannt ihn zeitlebens schmerzlich zwischen zwei Pole. Tante Zehra und ihre Beine bleiben fortan das magisch fesselnde Erlebnis. Sie ist der Inbegriff der Liebe, Geborgenheit, duftendes, beglückendes Leben und endlose Sehnsucht. Der andere Pol ist der Hass auf den ihm fremd gebliebenen und von seinem Glück feindlich Besitz ergreifenden Vater. Und dieser Hass überträgt sich auf die anderen Menschen und die Beziehungen zu ihnen. In der Masse fühlt er sich mutterseelenallein, unpässlich.
In der Tiefe verborgen sitzt aber auch das Ideal der Liebe, das Tante Zehra symbolisiert. In einem unsteten Leben ist das ständige Suchen nach dieser »wahren Liebe« der einzige Halt im Leben, das mit dem Bild »einer schwankenden Brücke ohne Geländer« beschrieben wird. Die anderen Menschen finden den vermeintlichen Halt in ihrem Leben in der täglichen Arbeit, in Ehe und Familie, der eigenen Wohnung und täglich wiederkehrenden Verpflichtungen. Das alles ist für C. Heuchelei, Falschheit. »Seit ich erkannt habe, wie heuchlerisch, falsch und lächerlich die gesellschaftlichen Werte sind, suche ich nach dem einzigen ernst zu nehmenden Halt, den es gibt: nach der wahren Liebe. Nach einer Frau. Einer, die dasselbe denkt und fühlt wie ich, sodass wir in unserer Liebe einander genügen.«
Die unmögliche Vorstellung, jenseits von allen anderen Menschen glücklich zu werden, mündet in die absolute Zweisamkeit, in »eine Zwei-Personen-Gesellschaft«, in der man einander liebt, einander genügt.
In diesem Ameisenhaufen von Menschen, denen er im Bus, Kino und in der Straßenbahn begegnet, die an ihm vorüberziehen, wenn er am Fensterplatz im Café oder in einem Speiselokal sitzt, gibt es bestimmt diese eine Person, die ihm zur liebenden Zweisamkeit fehlt, der er irgendwann und irgendwo begegnen wird. Ja, er ist sicher, ihr schon begegnet zu sein. Alle anderen Menschen sind überflüssig und wurden umsonst geboren. Er vermutet »sie« in der einen oder anderen Frau, der er ein ausgefallenes Verhalten andichtet. So auch in dem Mädchen, das er in einem Speiselokal sitzen sieht, wo es aus dem Rahmen fällt, und das ihm jenseits aller Dinge und Gäste erscheint. Als sie das Lokal verlässt, bekommt er gerade sein Reisgericht serviert und geht ihr nicht nach. Er ist sich sicher, dass er sie an einem anderen Abend in demselben Lokal treffen wird, und will ihr dann nachgehen. Verschieben als Kunstgriff. Doch sie ist seit einer Woche nicht gekommen. Nun muss er sich auf die Suche nach ihr machen. War dieses Mädchen schon B., in der das gesuchte Ideal allmählich schicksalhaft Gestalt annimmt? Der Erzähler kommentiert als Komplize des Lesers diese Begegnungen mit B., die er immer wieder inszeniert. Der Leser weiß dadurch mehr als C., der auf seiner Suche diese Chancen übersieht.
Das gemahnt zwar an das mystische Suchen nach der »einen Wahrheit« in der islamischen Tasavvuf-Tradition, doch der profane Bezug in C.s Suchen ist zu stark.
Die Suche verselbständigt sich, wird zum Spiel, zur Lebensform für C. Er begibt sich hinaus auf die Straße, wenn alle ihrer täglichen Arbeit nachgehen oder von ihr nach Hause zurückkehren, sucht zum Zeitvertreib nach den beiden Schneidern, die ihn verprügelten, nach vielsagenden Straßennamen, nach einem Mann im Ameisenhaufen, der auf Anhieb als Tischler zu erkennen wäre, beobachtet den Verkehrspolizisten mit seinem Knüppel, findet seine Rituale langweilig, verpasst wildfremden Leuten konventionelle Berufe, Beschäftigungen, Interessen, verliert sich in Mutmaßungen darüber.
Das Suchen als Spiel ist nur möglich, weil C. materiell unabhängig ist, als Erbe seines verstorbenen Vaters über reichlich Geld verfügt und keiner geregelten Arbeit nachgehen muss. »Mein Vater glich seine Lieblosigkeit mit Geld aus.« Die Verwaltung der geerbten Mietshäuser besorgt ihm sein geschäftstüchtiger Anwalt, den er einmal im Jahr wegen der Abrechnung sieht, und das ist ihm schon zu viel.
C. ist ein außergewöhnlicher, ein sonderbarer Müßiggänger. Er ist kein Taugenichts, sondern ein Intellektueller, der viel liest, Musik hört, ins Kino und ins Theater geht, Ausstellungen besucht und Bilder sammelt. Er ist auch nicht der moderne Typ des Erbprassers, der in der Frühphase des türkischen Romans ausgeprägt ist. (Als Beispiel könnte man Ahmet Mithats »Felatun Bey und Rakim Efendi« nennen.) Auch mit Gontscharows Oblomow und Lermontows Helden hat er wenig gemein.
C.s Introvertiertheit wird durch das Spiel des Suchens ins Gegenteil verkehrt. Er folgt, in der Hoffnung, sie zu finden, jungen Frauen auf der Straße, spricht sie an und geht für eine gewisse Zeit mit ihnen ein Verhältnis ein, verlässt sie enttäuscht und sucht weiter. Durch das Spiel mit der Suche, der Einsamkeit, der Langeweile und nicht zuletzt der Angst heben sich diese selbst auf.
C. verabscheut den Alltagstrott, ist jedoch durch das Suchen seinem eigenen Alltagstrott ausgeliefert. Und durch das Spiel des Suchens verfängt er sich auch im Alltagstrott anderer. Selbst wenn er sich um keinerlei Konventionen schert, so führt doch sein Interesse für Bücher, Bilder, Musik zu immer wiederkehrenden Handlungen.
Der intellektuelle Vielleser C. zitiert auffallend viele Künstlernamen, Helden oder Titel aus der Weltliteratur: Hamlet, Othello, Dylan Thomas, Modigliani, Milton, Bach, Eluard, van Gogh, Faulkner, T. Capote, Léger und nicht zuletzt »The Naked and the Dead« von Norman Mailer. Diese Verweise dienen dazu, die eigene Situation zu verdeutlichen. Van Gogh beispielsweise muss für die These herhalten, dass es keinen vollkommenen Menschen gibt. »Aber selbst der war unvollkommen. Auf dem Selbstporträt, das er im Irrenhaus gemalt hat, konnte er sich nicht entschließen, den Menschen die Seite ohne Ohr zu zeigen. Niemand ist wirklich konsequent!«
Das Jucken am linken Ohr ist C.s ausgefallener Tick, ein Zeichen der immer wiederkehrenden inneren Unruhe, des Unbehagens, der völligen Leere. Wenn eine Beziehung droht zur Gewohnheit zu werden, schlägt das Ohr juckend Alarm. Auch dieser Tick rührt von seinem Kindheitstrauma her. Der Vater verletzte den Sohn am Ohr, als der ihn mit Tante Zehra überraschte und wutentbrannt anfiel.
Der Roman besteht aus vier Kapiteln, die nach Jahreszeiten betitelt sind: Winter, Frühling, Sommer, Herbst. Mit dieser Einteilung wird gleichsam deutlich, dass C.s Laborversuche, eine Beziehung auf Haltbarkeit im Sinne der großen, wahren Liebe zu prüfen, sich als Irrtum erweisen. Eine Beziehung hält höchstens eine Jahreszeit.
Im Winter beendet er das Verhältnis zu der Malerin Ayse. Der Vorwand zum Bruch ist unbegründete Eifersucht. Er sieht sie mit einem anderen Mann auf der Straße. Um sich einer Beziehung nach einer gewissen Zeit zu entledigen, scheut er nicht davor zurück, die Eifersucht – ein allgemein menschliches Gefühl – zu instrumentalisieren, was wiederum seinen Versuch, sich von anderen Menschen abzuheben, ad absurdum führt. Doch er kann nicht anders, als sich auf diese Weise der anbahnenden Gewöhnung zu entziehen. Nicht einmal an die Namen der Wochentage will er sich gewöhnen, sie von Tag zu Tag wie selbstverständlich nennen. Das menschliche Gehirn ist geneigt, sich zu gewöhnen, immer das Gleiche zu wiederholen. Er will nicht aus Gewohnheit, nicht unbewusst lieben wie die Ameisen.
Es ist an der Zeit, wieder auf die Suche zu gehen. Er sucht weiter nach »ihr«, nach B., wie der Leser weiß. Der Frühling verheißt Erfolg, der sich gleich am Tag, an dem er seinen Wintermantel ablegt, abzeichnet. Vor der Konditorei, in der er sitzt, sieht er zwei Mädchen, eine im hellbraunen und eine im hellblauen Regenmantel. Als sie sich trennen und verschiedene Richtungen einschlagen, ist er unschlüssig, welcher er folgen soll. C. folgt der schönen Studentin Güler im hellbraunen Regenmantel, der falschen, wie der Erzähler kommentiert. Doch diese zwangsläufige Verirrung ist ihm gerade recht, denn wäre er B. gefolgt, hätte die Geschichte vorzeitig geendet. Darüber kann man als Leser spekulieren. C. verfolgt Güler hartnäckig, spricht sie an, und sie verlieben sich ineinander. Die täglichen Verabredungen, die ihm Angst zu machen beginnen, weil er sich vor der Routine fürchtet, nehmen mit einer naiven Äußerung Gülers ein abruptes Ende. Sie sagt: »Ich erwarte nicht viel vom Leben. Drei Zimmer mit Küche, einen Mann, den ich liebe, und zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter.« C.s Antwort lässt sie schaudern: »Damit der gelangweilte Mann die Flucht ergreift und die Kinder Diphtherie bekommen?« Seine Angstvorstellung ist, dass Güler aus ihm einen Familienvater mit Einkaufstüten machen will. Solche festgelegten Rollen sind ihm verhasst.
Gülers Äußerung, sie möge ihre Schwester nicht, trotzt ihm zwar ein gedachtes Lob ab, da sie damit in seinem Sinne eine Konvention verletzt, doch alles Unglück im Leben beginnt für ihn mit dem Traum von drei Zimmern, einer Küche und zwei Kindern. Er rüttelt kräftig an diesem Traum Gülers und freut sich über die Verunsicherung, die er bei ihr auslöst.
Er ist sich sicher, ihr irgendwann nahe bringen zu können, dass der einzige Halt in der Welt die wahre Liebe ist. Güler schreibt jedoch ihrer Freundin B., die sich in einer fernen anatolischen Kleinstadt aufhält: »Wenn er mich doch nur verstehen würde, wenn er doch nur denselben Traum träumen könnte wie ich!« Noch ehe er seine Obsession überwinden kann, ihre makellosen Beine zu küssen, läuft sie ihm total verwirrt davon. Er schafft es wieder einmal, dass eine Beziehung höchstens eine Jahreszeit währt.
Der Sommer bringt eine fast zwangsläufige Veränderung. C. mietet eine Wohnung in einem Badeort in der Nähe von Istanbul. Wieder gibt ihm das Schicksal eine Chance, sie, die Gesuchte, zu entdecken. Sein Malerfreund Sami taucht in dem Badeort auf und stellt ihm B. vor. Es ist seine Schwester. Doch C. reagiert nicht. Symptomatisch ist die Begegnung mit der früheren Malerfreundin Ayse. Sie beteuert, ihn nicht hintergangen zu haben. Das hatte er in Wahrheit auch gar nicht angenommen, sondern es sich nur eingeredet, um sich trennen zu können und seinem inneren Zwang nachzugeben. Nun kommt ihm die Neuauflage dieser alten Beziehung gelegen. Er war nach dem Bruch mit Güler wieder in eine Leere gestürzt.
Der schicksalhafte Zufall des Neuanfangs birgt bereits das Ende in sich. Alles kommt zusammen, was ihm zuwider ist: Sie zieht zu ihm in die Wohnung, sie überredet ihn, die Mahlzeiten gemeinsam mit den anderen Pensionsgästen, mit der Familie des Ingenieurs und der des Direktors, die ihre alten Bekannten sind, einzunehmen, sich nach einem festen Tagesablauf zu richten. Er darf ihre Beine nun zwar ohne Angst betrachten, ja sie sogar streicheln und küssen. Das kann aber nicht gut gehen. Gleichnishaft kündigt das Bild mit dem Titel »Meer, an dessen Ufer sich zwei Menschen geliebt haben«, das Ayse am Strand zu malen beginnt, das unerfüllte Ende des Sommers an. Sie kommt nicht recht voran und gesteht sogar, es niemals vollenden zu können. Die Vollendung der Liebe erweist sich einmal mehr als Utopie. Sie zerstreiten sich mit den anderen Gästen bei Tisch, und diese stellen die Inhaberin der Pension vor die Wahl: sie oder wir? Ayse knüpft eine innige Beziehung zu ihren Eltern, die C. irritiert. Und selbst beim Liebesspiel, bei der körperlichen Vereinigung, gleiten Ayses Gedanken ab zu anderen Dingen. Fr C. wird es höchste Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Ayse spürt das. Das Warten auf den Abschied C.s ist für sie genauso unerträglich wie früher das Warten auf sein eigenwilliges Auftauchen. Sie hinterlässt einen Zettel und geht selber fort. Er fasst den Entschluss, am nächsten Tag den Ferienort zu verlassen und in die Stadt zurückzukehren. Der Sommer ist zu Ende.
Der Herbst ist die triste Zeit der Neige. Das Suchspiel geht weiter. Veränderungen, die keine sind, stellen sich ein. C. interessiert sich nicht mehr für Bücher und Bilder, dafür neuerdings für Schallplatten. Die Beziehung zur Plattenverkäuferin dauert ganze drei Tage, weil sie am dritten Tag geschminkt erscheint und nach der Heirat fragt. Die Sehnsucht nach dem Duft der Tante Zehra versucht er in Gestalt der schielenden Straßenhure vor dem Kinoeingang zu befriedigen. Das Experiment schlägt fehl und vergrößert nur noch die Enttäuschung. Noch einmal kommt er B. ganz nahe, ohne sie zu erkennen. Als er aus der Straßenbahn steigt, rempelt er ein Mädchen an und entschuldigt sich. Das ist B., die die erkrankte Güler besucht hatte. Sie erinnert sich dunkel, C. schon einmal gesehen zu haben. Als C. schließlich aus dem Schaufenster des Cafés draußen in der Menge ein Mädchen mit einem blauen Regenmantel sieht, hört der Schmerz an der linken Schläfe plötzlich auf. Er glaubt, die Gesuchte in ihr zu erkennen, schießt wie ein Pfeil hinaus und jagt ihr nach, einem Phantom. Sie ist inzwischen in den Bus eingestiegen und weggefahren. Um ihr zu folgen, zwingt er ein besetztes Taxi zum Halten, wird aber vom Taxifahrer beschimpft. C. schlägt ihn nieder. Menschen sammeln sich um ihn und verurteilen ihn mit hasserfüllten Blicken. Die Polizei kommt. Damit endet der Roman. Der Kreis schließt sich.
Dieser Schluss lässt einerseits offen, ob das Spiel des Suchens im Rhythmus der Jahreszeiten weitergeht. B. existiert ja irgendwo in der Realität. Andererseits macht er deutlich, dass die Suche nach der wahren großen Liebe irreal ist. C. ist, in gewisser Weise gemeinsam mit anderen Menschen, auf die Vorstellung von der großen wahren Liebe hereingefallen, mitten hinein in eine tragische Leere. Vielleicht ist es ja die Furcht vor der totalen Desillusionierung, die eine Begegnung mit der gesuchten B. verhindert.
Die Perspektive des Erzählers in der dritten Person deckt sich im Wesentlichen mit der von C., dem Ich-Erzähler. Beide Perspektiven greifen ineinander durch innere Monologe, Gedanken und gedachte Dialoge von C. So fällt der erste Abschnitt mit der direkten Ich-Erzählung nicht aus dem Konzept. Hier fehlen einfach die Anführungszeichen, um diese Sätze als Gedanken von C. in das Gesamtgefüge zu verweben.
Die Perspektive von C. wird einmal durch die Tagebuchnotizen von Ayse, zum anderen durch die Briefe Gülers an ihre Freundin B. kontrastiert und durch die Sicht der beiden Frauen gedeutet und ergänzt, damit also die Unwägbarkeit von und Unvereinbarkeit mit C.s Verständnis von Liebe konkretisiert.
Fassen wir zusammen: Das Unvermögen C.s, mit den Menschen auszukommen, liegt in den schmerzlichen frühkindlichen Erfahrungen und Erlebnissen begründet, in der traurigen Lieblosigkeit dieser Zeit. Die schlimmste Erfahrung war, dass der Hafen der Liebe und
Geborgenheit, Tante Zehra, vom verhassten Vater feindlich besetzt und C. nur geduldet war. Dieser Hafen der wahren Liebe und Geborgenheit rückt in unerreichbare Ferne. Nach dieser utopischen Liebe, nach einer trügerischen Hoffnung, sucht C. in spiralförmigen, immer neuen Anläufen. Die Suche wird zum Lebensspiel, artet aus, wiederholt sich und dreht sich im Kreis, ja wird selbst zur Gewohnheit. Sogar die Liebe ist Teil dieses Spiels. Nach dem Liebesakt muss C. immer allein schlafen.
Das Aufbegehren gegen ein gewöhnliches, sich ständig wiederholendes Leben kehrt sich gegen ihn. Die Welt dreht sich gewohnheitsmäßig und eintönig nach dem Schema der immer wiederkehrenden Jahreszeiten. Diesem Gang der Welt auf Geheiß der höchsten Instanz können sich Menschen genauso wenig entziehen wie C. selbst, der den Menschen und ihren Werten einen aussichtslosen Kampf, einen Scheinkampf, liefert. Der eigentliche Gegner ist und bleibt sein Alter Ego.
Im Grunde gilt der Kampf dem Vater, den frühkindlichen Erlebnissen, schließlich sich selbst. Es stellt sich heraus, dass die Emanzipation von der Kindheit, vom Vater, von der Hoffnungslosigkeit einfach nicht möglich ist, weil die Befreiung von sich selbst nicht möglich ist.
Yüksel Pazarkaya