Zum Gedenken an Yusuf Atilgan
Sein Leben
Yusuf Atilgan kam 1921 in Manisa (West-Türkei) zur Welt. Sein Vater, Hamdi Atilgan, stammte aus einer Bauernfamilie, die im Krieg von 1878 aus Thessalien (Nord-Griechenland) eingewandert war. Einst hatte er als Kontrollbeamter in einer Behörde zur Schuldeneintreibung gearbeitet und ließ sich nach dem Krieg gegen Griechenland 1922 im Dorf Haci Rahmanli nieder, 22 Kilometer von Manisa entfernt. Yusuf, sein Sohn, besuchte die Grundschule in Manisa, das Gymnasium in Balikesir (in der West-Türkei) und schloss seine Ausbildung mit dem Studium an der Literaturwissenschaftlichen Fakultät in Istanbul 1944 ab. Von 1945 an lebte Yusuf Atilgan auf dem Land und befasste sich mit Landwirtschaft. Sein Vater hatte die höhere Schule in Manisa besucht, und auch seine Mutter war eine gebildete Frau. Das Leben auf dem Land verlief so ruhig und beschaulich, dass der Zeitvertreib der Familie vor allem darin bestand, sich mit der Lektüre von Büchern zu befassen, von den Romanen Burhan Cahits (1892–1949) bis zu klassischen Werken. In Anatolien leben Beamte niederen Ranges sowie Bauern mit ein paar Äckern Landbesitz und Feudalherren.
Mit seiner Begeisterung für das Lesen, die ihn vom Gymnasium bis zur Literaturwissenschaftlichen Fakultät brachte, schrieb Yusuf Atilgan in den Universitätsjahren Essays, Romane bis hin zu Erzählungen und Gedichten. Dann zerriss und verbrannte Atilgan aus einer Laune heraus alle seine literarischen Versuche, um wie ein einfacher Bauer auf dem Land zu arbeiten, zu vergessen und zu verschwinden. Er mühte sich bis 1948 auf dem Land ab, kam mit diesem Eremitenleben jedoch nicht zurecht und überließ die Felder seinem Kompagnon. Als ob er nicht existieren könne, ohne zu lesen und zu schreiben, wandte er sich im Aufruhr der Gefühle wieder seinen Büchern und Texten zu. 1948 verfasste er ein Werk im Sinne des späteren Müßiggängers und zerriss das Manuskript. Von 1952 an begann er mit seinen eigentlichen Arbeiten. Mit dem Roman Der Müßiggänger, der den zweiten Platz im literarischen Wettbewerb um den Yunus-Nadi-Preis errungen hat, hatte er drei Jahre zuvor angefangen. […]
Man verlangt von Yusuf Atilgan, er solle einen Dorfroman schreiben. Da er nun einmal auf dem Land lebt, hält man ihn, einer einfachen Analogie zufolge, für einen Menschen vom Land. Sein Lebensstil im Dorf ist jedoch in einem anderen Sinn zu verstehen, denn eigentlich ist er kein Dörfler im landläufigen Sinn. Yusuf Atilgan ist ein Autor, der auf dem Land lebt, sich nach der Großstadt sehnt und diese Stimmung in seinem Werk auch äußerst plastisch darstellt. Und wegen dieser Sehnsucht ist sein Buch so schön geworden. Die Schönheit eines Buchs, in dem Sehnsüchte und Erinnerungen so sehr ineinander übergehen, kommt nicht durch banale Beobachtung zu Stande.
Auf der anderen Seite hält Atilgan es selbst auch für schwieriger, von der ländlichen Umgebung zu erzählen als von der städtischen Lebensweise. […] Seit seiner frühen Jugend war er auf einer gedanklichen und emotionalen Wanderschaft, die sich vom geistigen Klima, in dem sein Vater lebte, gelöst hatte und sich an der Stadt orientierte. Wenn ein Künstler auf dem Land lebt, muss das nicht heißen, dass er wie ein Bauer denkt und fühlt. […]
Was macht die Persönlichkeit eines Mannes auf dem Land als Individuum gegenüber der Außenwelt aus? Wenn Atilgan eines Tages einen Roman schriebe, in dem er davon erzählen würde, würde er das ganz gewiss nicht im Stil der derzeit gängigen Dorfromane tun.
Die Bedeutung des Romans
Um die Orientierung an der Vergangenheit geht es in dem Roman Der Müßiggänger und wie ein empfindsamer und künstlerisch veranlagter Mensch in einem beengten Milieu eingezwängt ist und sich nach der Großstadt sehnt. Als Stoff verwendet Atilgan in erster Linie die Atmosphäre Istanbuls in jenen Jahren, die den künstlerischen Ansprüchen sehr entgegenkam. Wenn man vom Müßiggänger spricht, fällt auf, dass sehr viele Werke und Künstler, die in jener Zeit eine Rolle spielten, zur Entstehung des Romans beigetragen haben, so beispielsweise Sait Faiks Erzählungen. Da klingt manches an Attila Ilhans Mann auf der Straße an, und dann sind da deutlich Einflüsse von Henry de Montherlants Romantetralogie Die jungen Mädchen. Darüber hinaus gibt es etliche Anspielungen an englische und amerikanische Autoren; man hat den Eindruck, als ob Atilgan deren Romane regelrecht verschlungen hätte: Der Müßiggänger ist eine Komposition, die durch Einflüsse von Autoren wie William Faulkner, James Joyce, Norman Mailer, Nelson Algren und Willard Motley entstanden ist. Deutlich wird, dass Atilgan versucht hat, sich ein breites Spektrum anzueignen, um sein Werk zu schaffen. Es ist klar, dass diese Einflüsse sich nicht als oberflächliche Übertragung ausgewirkt haben, sondern dass sie – ganz im Gegenteil – den Autor zu besonderer Sorgfalt und dem Mut veranlasst haben, seinen Roman innovativ zu gestalten.
[…]
Vom Anfang bis zum Ende handelt der Roman von der Einsamkeit; es ist eine fieberhafte Sehnsucht, eine verzweifelte Suche nach Glück. Zwei Personen sind es, die alle Werte verloren haben, denen der Halt abhanden gekommen ist und die sich auf nichts mehr stützen können. In einem Milieu, in dem Normen und Werte auf den Kopf gestellt sind, suchen sie einen neuen Halt und finden ihn in der Liebe; Atilgan lässt seine Romanfigur dieser Fata Morgana hinterherhecheln, doch am Ende ist der Mensch genauso haltlos wie zu Beginn. Aber der Autor lässt sich nicht darauf ein, die Tragfähigkeit dieses Halts durch die Liebe, die er dem Menschen zubilligt, zu erörtern und zu bewerten; er versagt C., dem Müßiggänger, zum Schluss auch dies und lässt ihn obendrein verzweifelt zurück. Der Autor macht alles von der Psychologie des Individuums abhängig. Man erkennt jedoch, dass soziale Probleme die Basis allen individuellen Verhaltens sind. […] Ihm geht es nicht um eine Analyse der Moral oder des Verhaltens der Figuren, die er beschreibt, und er lässt sich nicht auf die Frage ein, warum die Personen seines Romans sich vom Mainstream der Gesellschaft gelöst haben, sondern berichtet von ihrer Situation. Alles basiert auf der Psychologie. Da geht es um vom Vater bewirkte Komplexe, die Schilderungen des Ödipuskomplexes beim Jungen, der sich seiner Tante nähert, und schließlich ist das sinnliche Begehren des Müßiggängers immer wieder Thema im Roman. C. überwindet seine Gelüste, deren Sklave er ist, und sehnt sich nach Frauen, die er sich im Geist erschafft. Seine Jagd nach Sex, die nach der Wollust, dem Ekel und der Flucht vor der körperlichen Liebe kommt, hat im ganzen Roman fast den Charakter von Sisyphus-Qualen. Könnte der Intellektuelle seine sexuelle Gier durch seine gedankliche Überlegenheit, durch die Kunst und durch Lektüre überwinden? In unserem Land erzählen alle Künstler, dass diese Mittel noch nicht ausreichen und das sinnliche Begehren unter diesem Druck wie eine Krankheit schlimmer denn je zuvor wütet. Yusuf Atilgan hat genau dies mit größte Meisterschaft zur Sprache gebracht.
Aus der Preisrede anlässlich der Verleihung des Yunus-Nadi-Preises an Yusuf Atilgan; erschienen in Kim, 22. August 1958
Aus dem Türkischen von Monika Carbe