Melahat Togar
Sabahattin Ali, mein Freund
Erinnerungen einer langjährigen Studienfreundin
An einem Tag im Jahr 1928 machten wir uns mit dem Zug vom Istanbuler Sirekeci-Bahnhof auf den Weg nach Europa. In der Gruppe von Schülern des Lehrer-Lyceums, die zur Ausbildung als Sprachlehrer nach Deutschland geschickt wurden, befand sich auch Sabahattin Ali. So lernten wir uns kennen. Schon auf den ersten Blick unterschied er sich von den anderen Studenten. Er war ein agiler, humorvoller, wortgewandter und sehr sympathischer junger Mann. Jedes Mal, wenn wir eine Grenze passierten oder an Bahnhöfen anhielten, beobachtete er alles mit großer Aufmerksamkeit. So als ob er alles unauslöschlich in sein Gedächtnis brennen wollte. Diese Eigenart ist mir auch bei späteren gemeinsamen Ausflügen aufgefallen. Sabahattin Ali war ein sehr guter Beobachter.
Meine Reisegefährten wohnten in Potsdam. Sie sollten im dortigen Deutschen Institut für Ausländer, dem Vorläufer des heutigen Goethe-Instituts, Deutsch lernen. Ich aber wohnte etwa sieben bis acht Busminuten von Potsdam entfernt im Hermannswerder-Internat.
Am Anfang war es sehr schwer für mich, in dem von protestantischen Schwestern geleiteten Internat. Ich war die einzige Ausländerin und gehörte zudem einer anderen Religion an. Sabahattin Ali hatte sich die Erlaubnis der Schwestern geholt und besuchte mich an den Samstagen. Darüber freute ich mich sehr. Wir konnten lange Türkisch miteinander reden und so unser Heimweh ein wenig lindern
Sabahattin hatte jedes Mal Bücher unter dem Arm und sehr oft ein dickes Wörterbuch dabei. Noch bevor wir einigermaßen Deutsch sprachen, hatte er sich schon in die deutsche Literatur vertieft und auf diesem Umweg auch die russische Literatur kennengelernt. Er las ständig. Mit seinen Büchern war er zum Gespött der Klasse geworden. Aber all das berührte ihn überhaupt nicht, er ging nicht einmal auf den Spott ein. Auch mich regte er zum Lesen an: »Das musst du unbedingt lesen«, ermahnte er mich immer wieder.
Wenn die deutschen Internatsschüler sahen, dass er kam, sagten sie: »Da kommt der freundliche Türke.« Und tatsächlich hatte er mit seinem offenen Gesicht und seinem Lächeln eine sehr gewinnende Art.
[…]
Wir machten oft einen Spaziergang rund um die Insel [Potsdam, A.d.Ü.]. Wir waren in einem besonders kalten Winter nach Deutschland gekommen. Die Havel war zugefroren, und so konnten wir zu Fuß nach Berlin gehen. Bei diesen kleinen Ausflügen schüttete mir Sabahattin Ali sein Herz aus. Er hatte Kummer. Er hatte sich heftig in ein Mädchen verliebt, aber sie erwiderte diese Zuneigung nicht. Sein Herz musste wirklich gebrochen sein, denn er erzählte unaufhörlich von ihr.
[…]
Eines Tage hatte ich zu ihm gesagt: »Du bist wie Goethe. Du verliebst dich in jede Frau, die dir über den Weg läuft. Dann schreibst du ein Werk darüber und schaffst es, dich aus dieser Liebe zu befreien!« Das hatte ihm sehr gefallen, mit Goethe verglichen zu werden. »Ach meine Liebe, kannst du das nicht überall herumerzählen?«
[…]
Er sprach und sprach. Aufgeregt und schnell. Ich lernte viele Personen nur durch seine Erzählungen kennen.
In dieser Zeit hatte er eine kleine Sammlung von Gedichten in osmanisch-arabischer Schrift verfasst und mir geschenkt. Ich bewahre es immer noch als ein wertvolles Andenken auf.
Sabahattin Ali hatte in mir eine gute Zuhörerin gefunden. Das war wohl auch der Grund, weshalb er so an mir hing. Nach und nach brachte er seine Geschichten mit, die er schrieb, und las sie mir dann vor. So wurde ich die erste Leserin seiner Erzählungen. Er wollte stets meine Meinung dazu wissen. Ich mochte seine Erzählungen, die eher der Romantik zuzuordnen waren, das hing vielleicht mit meinem Charakter und meiner Erziehung zusammen. Daher kritisierte ich mit all meiner Unkenntnis und Unerfahrenheit die allzu realistischen Darstellungen oder direkten Formulierungen.
Während wir so nebeneinander hergingen, war er immer ganz Auge und Ohr. Einmal sagte er: »Hörst du das? Hörst du, welche Geräusche der trockene Schnee unter unseren Füßen macht?«
Seine Gruppe hatte schon bald den Deutschkurs in Potsdam absolviert. Jeder war danach an eine Schule geschickt worden. Er schickte mir von seiner Schule aus in größeren Abständen Briefe zu. Wahrscheinlich hatte er sich ganz seinen Büchern gewidmet. Er verbesserte sein Deutsch in atemberaubend kurzer Zeit und bediente sich der schönsten Sprache der größten Dichter der Welt.
[…]
Eines Tages erfuhr ich, dass Sabahattin in die Türkei zurückbeordert worden war. Wir hatten bereits anderthalb Jahre in Deutschland verbracht. Man sagte, er habe seinen Mitschülern kommunistische Ideen in den Kopf gesetzt. Er habe sich mit der Schulverwaltung überworfen, und die Deutschen hätten ihn nicht mehr länger gewollt. So jedenfalls lauteten die Gerüchte, die mir zu Ohren kamen. Leider habe ich nie von ihm selbst erfahren können, was wirklich passiert war. Er musste plötzlich in die Türkei zurückgekehrt sein. Ich war sehr bestürzt.
Jahre später, ich war bereits verheiratet – mein Mann war ebenfalls ein Austauschschüler von damals und kannte Sabahattin Ali –, kehrte ich in die Türkei zurück. 1941/42 las ich einen Artikel von Sabahattin Ali in der Zeitschrift »Tercüman«, so fand ich ihn wieder. Als er in Istanbul war, besuchte er uns. Zwischen uns bestand eine innige Freundschaft, die bis zu seinem viel zu frühen Tod andauerte. Auch wenn wir nicht immer gleicher Meinung waren, hörten wir uns gegenseitig respektvoll zu und diskutierten miteinander. An solchen Abenden wussten wir nicht, wie schnell die Zeit verging. Wir gingen nie vor Mitternacht auseinander. Das war jedes Mal so, wenn er zu uns kam. Seine Gespräche waren voller Wortwitz, manchmal auch spöttisch. Ich glaube, diese Eigenart von ihm, schnell und viel zu sprechen, hat etwas damit zu tun, dass sein Geist so flink und flexibel war. Seine Gedanken eilten ihm voraus, und er jagte ihnen hinterher. Er war ein außerordentlich intelligenter Mensch. Sabahattin Ali wollte immer geben, etwas mitteilen. Was er zu nehmen vermochte, hatte er von den großen Denkern genommen.
Mit meinem Mann sprach Sabahattin über die Gesellschaftsordnung oder vielmehr -unordnung, mit mir über Literatur. Er scherzte: »Was? Das hast du nicht gelesen? Du kennst diesen Schriftsteller nicht?« Er kannte sich sehr gut in der Mythologie aus. Nie werde ich das vergessen. Sabahattin machte sich über mich lustig: »Wie bitte? Du weißt nicht, wer Ajax war? Schande über dich.«
Er schimpfte auf Möchtegernwissenschaftler, die ungebildet waren. Er liebte es, sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus der Fassung zu bringen. Damit machte er sich so manchen Professor oder sogar manche, die später in den diplomatischen Dienst traten, zum Feind. Jene, die zu seinen Lebzeiten seine Feder und seine Zunge fürchteten, versuchten sich zu rächen, indem sie nach seinem Tod Lügen über ihn verbreiteten und ihn mit Dreck bewarfen.
Einmal besuchte er uns in unserem Haus in Bahariye und sagte: »Also Mesut, dies ist mein letzter Besuch bei euch. Deine Freundschaft zu mir kann dir schaden. (Damals war mein Mann Direktor der Camialti-Werft am Goldenen Horn.) Und deshalb bin ich gekommen, um mich von euch zu verabschieden.« Sabahattin erzählte uns von seiner Arbeit als Lastwagefahrer. Ich denke, er wollte damit einfach nur seine Familie ernähren. Wir haben ihn nie wieder gesehen und auch keine Nachrichten mehr von ihm bekommen. Als ich aus den USA zurückkehrte, waren die Zeitungen voll mit Meldungen über den Mord. Irgendein angeheuerter Mörder hatte mit dem Schlagstock in der Hand, als ob er den Kopf einer Schlange zerschmettern würde, auf diesen edlen Kopf von hinten immer wieder eingeschlagen und ihn getötet.
Während mir die Tränen über das Gesicht strömten las ich: Sein Buch war aus seiner Hand in eine Richtung geflogen und seine Brille in die andere. Armer Sabahattin, musstest du so sterben?
[…]
Meine liebe Filiz, Du kannst stolz auf Deinen Vater sein. Er war ein guter Freund, ein treuer Familienvater. Er war ein Mensch, der sein Land, sein Volk, der alle Menschen liebte. Er stand den Armen zur Seite, den Unterdrückten und Benachteiligten, stand an der Seite der Entrechteten. Er wusste seine Gedanken mutig, aufrichtig und oft sehr pointiert vorzutragen.
Wir haben ihn in der besten Zeit seines Lebens verloren. Ich werde mich immer in Liebe, Respekt und voller Dankbarkeit an ihn erinnern.
Aus: Ali, Filiz / Atilla Özkirimli (Hg.): Sabahattin Ali. Dev Yay: Istanbul 1986. S 63–70.
Aus dem Türkischen von Fatma Sagir