Der neue Roman von Tschingis Aitmatow spielt mitten im aufgewühlten Kirgisien unserer Tage. Arsen Samantschin, ein kritischer Journalist, sieht in der Hauptstadt Bischkek seine hochfliegenden Pläne und Visionen scheitern und kehrt in sein Heimatdorf in den Bergen zurück. Der einst unbezwingbare Schneeleopard Dschaa-Bars ist sein Gegenpart, ihre Wege kreuzen sich auf tragische Weise. – Der Unionsverlag stellte Tschingis Aitmatow einige Fragen zu seinem Roman.
Gleich am Anfang Ihres Romans führen Sie den Leser direkt hinein in die Welt des Schneeleoparden Dschaa-Bars. Er wirkt Ihnen ganz nahe und vertraut. Haben Sie Schneeleoparden selbst gesehen, sind Sie ihnen begegnet?
Meine Großväter waren Jäger, sie kannten die Plätze der Schneeleoparden im Hochgebirge und wussten alles über ihr Leben. Seit meiner Kindheit sind sie mir vertraut aus zahllosen Erzählungen. Natürlich habe ich auch Filme und Videos gesehen. Abgesehen davon hat man als Schriftsteller ja auch seine Vorstellungskraft. Dass Dschaa-Bars im Roman eine Hauptrolle spielt, hat noch andere Gründe. Denn heute hat sich das ökologische Problem rund um die Schneeleoparden massiv verschärft. Unsere Vorfahren jagten sie mit Pfeil und Bogen. Heute haben die Jäger so mächtige Waffen, dass das Tier keine Chance mehr hat und nicht entkommen kann. Man geht mit Maschinengewehren auf es los, jagt es aus dem Helikopter.
In meinem Roman kommen arabische Prinzen aus den Golfstaaten ins Dorf, um ihn zu jagen. Dieses internationale Jagdbusiness ist für viele Bergdörfer fast die einzige Einkommensquelle. Ich wollte das Leben des Tieres ganz aus der Nähe zeigen. Aber mir geht es dabei auch um die mythologischen Dimensionen. Darum habe ich den Mythos der Ewigen Braut aufgegriffen. Diese alte Vorstellung wollte ich zu Literatur machen. Seit vielen hundert Jahren ist sie immer noch auf der Suche nach ihrem Bräutigam. Dies ist ein großer, tragischer Stoff. Die Kräfte des Bösen haben die große Liebe zerstört, die zwischen zwei jungen Menschen war. Kurz vor der Hochzeit haben arglistige Dorfbewohner die Braut entführt, um das Glück zu vereiteln. Ihm sagten sie, das Mädchen sei mit einem Nebenbuhler durchgebrannt. Voller Verzweiflung ist er daraufhin in den Bergen verschwunden. Hinterher sahen die Leute ihren Irrtum ein und bereuten es. Zu spät. Dass dieser Mythos bis heute lebt, dass unsere Leute immer noch glauben, die Ewige Braut irre umher und suche ihren Bräutigam, dass Menschen in gewissen Nächten für sie Feuer anzünden, sogar Pferde für sie bereitmachen, zeigt, wie groß diese Reue und die Trauer sind. Es geht um einen Mythos, aber dieses uralte Gefühl der Schuld ist Teil unserer Realität. Diese Regung ist wie ein Innewerden des Schlechten, das in der Menschennatur zum Ausbruch kommen kann.
Der Schneeleopard hat seine Parallelfigur im Journalisten Arsen, der auf andere Weise auch in die Enge getrieben ist. In den ersten Jahren des Umschwungs hatte er große Hoffnungen, jetzt ist er enttäuscht, pessimistisch, zornig und aus der Bahn geworfen.
Arsen ist enttäuscht, denn er wollte etwas Grandioses schaffen: eine Oper über den Mythos der Ewigen Braut. Die talentierte Sopranistin Aidana, seine große Liebe, sollte darin die Hauptrolle spielen. Aber die Zeiten haben sich geändert, dieser Traum hat im heutigen Leben keinen Platz mehr. Aidana will von ihm nichts mehr wissen, die Karriere als gefeierter Popstar ist ihr wichtiger. Darum sein Zorn und seine tiefe Wunde.
Ist er ein Don Quijote? Er ist ja nicht nur eine tragische Figur, er macht sich auch lächerlich, und er weiß es. Widerstreitende Gefühle kämpfen in ihm. Und er hat eine zutiefst dunkle Seite: Er will den Oligarchen ermorden, der ihm seine Aidana abspenstig gemacht hat.
Ja, er hat Mordfantasien, aus Rache, aus Enttäuschung, aus Erniedrigung. Diese Regung steckt in der Tiefe jedes Menschen. Wenn etwas geschieht, das man nicht mehr ertragen kann, wenn man keinen Ausweg mehr sieht – wie leicht rutscht einem dann heraus: Ich könnte dich umbringen, zum Teufel mit dir! … Wenn er aber wirklich ein Mörder gewesen wäre, hätte er sich seinen alten Schulkameraden angeschlossen, als die planten, die arabischen Prinzen zu entführen und Lösegeld zu erpressen. Er hätte mit den Fanatikern gemeinsame Sache gemacht. Nein, er hat sich diesem Verbrechen in den Weg gestellt. Als er die Hauptstadt verlässt und ins vertraute Dorf kommt, um seinen Onkel als Dolmetscher für die reichen Jäger zu unterstützen, die die Schneeleoparden jagen wollen, erwacht er wieder zum Leben. Aber seine Tragödie ist unaufhaltsam.
Dieser Roman zeigt ein beunruhigendes Bild von Kirgistan. Auf dem Land, in den Bergdörfern scheinen die Lebensbedingungen katastrophal. In der Hauptstadt herrscht das Big Business und walzt alles nieder, so empfindet es Arsen. Die Verbitterung geht so weit, dass Dorfbewohner die arabischen Prinzen, die zum Jagen kommen, als Geiseln nehmen und Lösegeld erpressen wollen, um sich ihren Anteil am globalen Reichtum zu holen.
Ja, die Probleme sind groß. Die Hoffnung, dass sich durch das neue System auf einen Schlag alles zum Guten wenden würde, hat sich natürlich nicht bewahrheitet. Das konnte nicht anders sein, die alten Fragen von Gut und Böse stellen sich auch hier.
Die Leser haben lange auf diesen neuen Roman gewartet. Ihr letzter, Das Kassandramal, erschien 1994.
Es ist so viel geschehen in diesen Jahren. Aber ständig gingen mir Geschichten durch den Kopf. Ende 2005 habe ich mit der Niederschrift begonnen. Und dann war der Roman in kurzer Zeit auf dem Papier, denn in meiner Fantasie war alles schon fertig.
Sie haben die Schirmherrschaft der Vereinigung zum Schutz der Schneeleoparden übernommen. Was ist Ihre Rolle darin?
Die Initiative kam vom Deutschen Naturschutzbund, ich habe sie gerne unterstützt. Leider konnte ich außer dem Präsidium bisher nicht sehr viel zu diesen Aktivitäten beitragen. Nun habe ich vielleicht das Nützlichste getan, was ich als Schriftsteller tun kann: Über den Schneeleoparden schreiben.