Die Unschärfe der Grenze zwischen Fiktion und Realität gehört neben Vielstimmigkeit und Eklektizität zu den von türkischen Literaturkritikern und Literaten am häufigsten aufgezählten Merkmalen, wenn es gilt, die türkische Kurzprosa der letzten zwanzig Jahre zu beschreiben. Einige, wie die 1924 geborene Nezihe Meric, die selbst in den Fünfzigerjahren als Autorin realistischer Kurzgeschichten und Erzählungen gefeiert wurde, meinen dies durchaus als Kritik. Sie empfinden das Nebeneinander von vielen Literaturstilen und Themen, die Überschreitung der Genregrenzen und der Grenzen zwischen Realität und Fiktion, die experimentelle Sprache vieler junger Autoren und Autorinnen als »Chaos«, das sie negativ als Zeichen nachlassender Bildung, des Verlusts von Werten, kurz, von »geistiger Verrohung« werten. An der zeitgenössischen türkischen Erzählung scheiden sich die Geister: Während die einen ihre Autoren als »uninteressiert an gesellschaftlichen Themen«, »ohne Sprachgefühl«, »nabelschauerisch«, »apolitisch«, »eitel«, »wurzellos« und »geschwätzig« bezeichnen, loben andere den experimentellen »postmodernen« Mut junger Autoren, die über die von der realistischen Literaturtradition gesetzten Grenzen hinaus in neue, unbekannte Gefilde vorstoßen.
Seit dem Militärputsch am 12. September 1980 hat sich vieles in der Türkei grundlegend verändert. Dies hat zum einen innenpolitische Gründe, die mit dem wirtschaftlichen und kulturellen Kurswechsel der Türkei in der Özal-Ära zusammenhängen, der eine größere Pluralisierung und Liberalisierung der Gesellschaft bewirkte. Zum anderen sind aber auch in der Türkei seit den Achtzigerjahren die Auswirkungen der Globalisierung deutlich spürbar geworden. Die Wolkenkratzer internationaler Konzerne gehören längst zur vertrauten Kulisse der Fünfzehn(?)-Millionen-Stadt Istanbul, McDonald’s und Burger King finden sich in vielen Stadtvierteln an jeder Straßenecke, Geschäfte internationaler Ketten bieten Markenware an, in den Kinos laufen fast nur noch internationale Filme etc. Für die Literatur besonders folgenreich sind die Veränderungen im Kommunikationswesen: Die verstärkte Medialisierung der Gesellschaft durch das Fernsehen und vor allem das Internet haben die Printmedien zwar nicht verdrängt, doch erzwingen sie einen neuen Umgang mit ihnen. Dass Form wichtiger wird als Inhalt, »gesehen werden« wichtiger als »sehen«, wie beispielsweise die Autorin Sema Kaygusuz zu der Autorengeneration der Neunzigerjahre kritisch anmerkt, ist sicherlich weniger eine Folge der besonderen Eitelkeit heutiger Autoren als ein durch die Konkurrenzsituation zu anderen Medien gegebener Zwang. So spielt die Optik – das Cover und die Papierqualität eines Buches, das Foto und nicht zuletzt das Aussehen einer Autorin oder eines Autors und ihr/sein Vermögen, sich durch eine möglichst breite Medienpräsenz in Zeitungen, Film und Fernsehen in Szene zu setzen – im Zeitalter der Massenkommunikation eine nicht zu unterschätzende Rolle für den Verkaufserfolg eines Buches.
Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund, dass sich die türkische Kurzprosa trotz dieser Schwindel erregend schnellen Veränderungen einen Raum bewahrt hat, wo sie jenseits aller Aufgeregtheiten des modernen Lebens gedeiht. Eines nämlich hat sich nicht geändert: Für das Schreiben einer Geschichte braucht man eine Idee, und es erfordert Zeit, erfordert die Versenkung der Schreibenden in die Welt ihrer Fantasie. Und Fantasie, das zeigen die Geschichten, haben zeitgenössische türkische Autoren reichlich. Der fantastische Realismus, der sich seit dem Ende der Siebzigerjahre mit Autorinnen wie Latife Tekin und Nazli Eray – letztere hier mit der Erzählung »Die Landkarte« vertreten – einen wichtigen Platz in der türkischen Literatur erobert hat, hinterlässt seine Spuren in den Werken von vielen der hier vorgestellten Autoren. Seltsam schlafwandlerisch und traumhaft bewegen sich einige der Protagonisten dieser Geschichten durch das Leben – so, als wollten sie dem hektischen Heute durch betonte Langsamkeit trotzen. Mehmet Acars »Anarchische Ermattung« deutet dies schon im Titel an: Die flimmernde Welt der globalen Marken, Texte und Bilder in der Metropole Istanbul bildet die Realität des jungen Ich-Erzählers, aus der er sich manchmal in einen Traum von der »Stadt am roten See« zurückzieht. Auch die junge Ich-Erzählerin in Sebnem Isigüzels »Der Mond wird über deinem Haus aufgehen« ist wie Mehmet Acars Held eine »trotzige Verweigerin«, die sich dem modernen Alltag durch den Rückzug in ihre Tagträume zu entziehen versucht: Während nebenan ihre Eltern und Geschwister den Mittagstisch abdecken, das Fernsehen wie immer lautstark dröhnt und sich keiner darum kümmert, dass es leiser gestellt wird, sieht sie schlaglichtartig – wie in einem Film, dessen Bilder schnell wechseln – Vergangenheit und Gegenwart an sich vorüberziehen, wechselt zwischen Traum- und Wachzustand hin und her. (Alb-)Traum und Wirklichkeit sind denn auch nicht mehr zu unterscheiden, als das Mädchen langsam in den Schlaf hinübergleitet, während die Großmutter am Bettrand sitzt und ihr das Schicksal aus dem Kaffeesatz liest. Die Siebzigerjahre sind die Zeit, an die sich die Erzählerin von Müge Iplikcis Erzählung erinnert: Damals, in ihrer Kindheit, die von Armut, familiären Problemen und dem türkisch-griechischen Konflikt auf Zypern geprägt war, träumten sie und ihre Kusinen sich im Spiel auf einem alten Lastwagen in einen »anderen Süden«, wo das Paradies an einem Meer aus Milch liegt …
Kindheitserinnerungen, persönliche Erlebnisse und psychische Probleme … Die genannten Texte deuten es schon an: Sehr oft werden Geschichten heute aus der Ich-Perspektive erzählt, manchmal mit starken autobiografischen Bezügen. Die Erzählung von Mario Levi »Nicht in eine Stadt fahren können« ist ein weiteres Beispiel für diese Tendenz. Aus der Perspektive eines jungen Mannes, der – auch wenn er dies nicht explizit erwähnt – ein in der Türkei lebender Jude zu sein scheint, wird von der unerfüllten Sehnsucht erzählt, einen Ort zu besuchen, zu dem aufgrund der eigenen Lebensgeschichte eine starke emotionale Bindung besteht. Levi, selbst Istanbuler Jude, schreibt seit Mitte der Siebzigerjahre Texte, die sich in einer für den Leser nicht immer einfachen Sprache mit der Situation der nichtmuslimischen Bevölkerung in der Türkei auseinander setzen. Das Interesse an dem Leben der Nichtmuslime in der Türkei, das sich auch in dem Erfolg eines Autors wie Levi spiegelt, ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Gestiegen ist auch das Interesse von Autoren wie Lesern am Schicksal gesellschaftlich marginalisierter Gruppen wie Homosexuellen, Prostituierten oder psychisch kranken Menschen – Beispiele dafür sind die Erzählungen von Nalan Barbarosoπlu, Nedim Gürsel und Cem Mumcus Prosaminiaturen. Neu ist bei Nedim Gürsels Erzählung Die Hasen des Kommandanten, dass er einerseits ein Tabuthema aufgreift, sich andererseits aber an klassischen realistischen Vorbildern orientiert. Nalan Barbarosoglu versucht indes in »Das kostümierte Gespenst« auch in der Form innovative Wege zu gehen: Elemente der Populärkultur – in diesem Fall des Thrillers – werden in ihrer Geschichte zum Aufbau einer ganz eigenartigen, expressionistisch angehauchten, düsteren Spannung verwandt.
Krimi, Thriller, Science-Fiction, historische Erzählung, erotische Literatur: Populärliterarische Genres sind heute auch in der Türkei zu einem von der etablierten Literaturkritik wahrgenommenen Bestandteil des literarischen Lebens geworden. Zwei Beispiele für die immer beliebter werdende Science-Fiction sind die Texte von Izzet Yasar und Gürsel Korat in diesem Band: Yasar, der zu Anfang der Achtzigerjahre als Autor von satirischen Kurzgeschichten bekannt wurde, in denen Intertextualität als Stilmittel eine wichtige Rolle spielt, persifliert in der hier vorgestellten Science-Fiction-Geschichte »Astra« einen der ganz großen Autoren der türkischen Literatur, Yasar Kemal: Eine kleine grüne Marsfrau, die mit ihrem Raumschiff in der von dem aus Kemals Roman »Memet mein Falke« bekannten Cukurova landet, verliebt sich in einen anatolischen Bauern und siedelt sich als »fremde Braut« in einem anatolischen Dorf an. Auch die Science-Fiction-Erzählung »Metamorphose« von Gürsel Korat, einem für seine in seldschukischer Zeit spielenden historischen Romane bekannten Autor, nimmt Bezug auf die literarische Tradition Kleinasiens: Aphrodite ist die Heldin seiner Erzählung, die im letzten Jahr des dritten Jahrtausends nach Christus in der Ägäisstadt Assos spielt.
Die Postmoderne, die die Grenzen zwischen Hochkultur und Populärkultur durchlässiger machte, hat in die türkische Literatur spätestens mit den Werken des bekannten Autors Orhan Pamuk zu Anfang der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts ihren furiosen Einzug gehalten. Literatur wird heute von vielen Autoren als ein Experimentierfeld verstanden, auf dem generische Hybridität, Metafiktionalität und intertextuelle Verweise eine große Rolle spielen und Tradition und Moderne, »Eigenes« und »Fremdes« zu neuen Sinnhaftigkeiten verknüpft werden. Der lokale Kontext der türkischen Volksliteratur und Poesie wird da beispielsweise aufgebrochen – wie es in der poetischen Geschichte »Lebensbedrohliche Verabredung« von Faruk Duman geschieht – durch Elemente von Kriminalliteratur und fantastischer Literatur, die längst über die Grenzen ihrer Entstehungsorte hinaus zu Genres der Weltliteratur geworden sind.
Ein anderes interessantes Beispiel für einen unbefangenen Eklektizismus, der Elemente östlicher und westlicher, zeitgenössischer und klassischer literarischer Populärtraditionen miteinander verknüpft, sind die Geschichten von Cem Mumcu: Mumcu wurde vor wenigen Jahren als Autor eines Bändchens von Kurzgeschichten bekannt, das den Titel »Die Schöne von Seite Drei« trägt und der erste Band einer von ihm als »Geschichten von 1001 Menschen« konzipierten Serie ist. Die oft aus nur wenigen Sätzen bestehenden Geschichten, die streng durchnummeriert sind, beschreiben die Seelenzustände psychisch Kranker, und in sie sind laut Mumcu seine Beobachtungen als Arzt in einer psychiatrischen Klinik eingeflossen.
Der Serientitel des Buches verweist auf eine andere literarische Tradition weit in der Vergangenheit, auf die »Geschichten aus 1001 Nacht« des Orients: Der Autor selbst nimmt hier den Platz der Scheherezade ein, die die Geschichten erzählt. Die Rahmenhandlung in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht – Scheherezades prekäre Lage, die sie durch ihr Geschichtenerzählen zu kontrollieren versucht – ist bei Mumcu in eine nicht-textuelle Wirklichkeit mit autobiografischem Hintergrund verlagert.
Wie Mumcu überschreiten auch eine Reihe anderer zeitgenössischer türkischer Erzähler fast die Genregrenze zum Roman, indem sie Geschichten in einen thematischen, örtlichen, zeitlichen oder symbolischen Zusammenhang stellen: Tahsin Yücels Erzählung »Das Geheimnis« stammt aus einer Sammlung, deren Geschichten alle am selben Ort, einer kleinen Stadt namens Ötegece, angesiedelt sind und deren Figuren in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder vorkommen. Auch der als »moderner Sait Faik« gepriesene Cemil Kavukcu verwendet einmal geschaffene Charaktere gerne wieder: Seine beiden hier vorgestellten Kurzgeschichten »Meine große Schwester« und »Verwelkt« über die unglückliche Liebesgeschichte einer Frau aus der Provinz bringen auf sensible Weise die rapide Veränderung zu Bewusstsein, die die türkische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat.
Kavukçus Geschichten sind ebenso wie die Geschichten von Leyla Ruhan Okyay, Erendiz Atasü und Mehmet Zaman Saclioglu Zeugnisse dafür, dass die realistische Erzähltradition der türkischen Kurzgeschichte mitnichten abgebrochen ist. Allerdings ist sie eben nicht mehr die einzige Erzählrichtung, mit der sich ein moderner Kurzgeschichtenautor heute auseinander setzt. Wie Cemil Kavukcu, der auch als Autor fantastischer Erzählungen bekannt ist, experimentieren viele Schriftsteller mit zahlreichen Möglichkeiten, ohne sich ganz festzulegen.
Nicht abgebrochen ist auch die Vorliebe türkischer Autoren für Humoristisches und die Satire. Beispiele für diese Vorliebe, die seit den Anfängen der modernen türkischen Literatur im 19. Jahrhundert immer bestand, wird der Leser in vielen der Texte hier finden. Die düstere Endzeitstimmungsmentalität, die der heutigen türkischen Autorengeneration manchmal unterstellt wird, sieht man hier nicht als Grundtendenz bestätigt. »Orientierungslosigkeit«, »verzweifelte Sinnsuche«, »Bruch mit der Vergangenheit« – an diesen Begriffen, mit denen auch in der Türkei heute gerne der Zeitgeist beschrieben wird, mag etwas dran sein. Begegnet wird der weltweit verbreiteten postmodernen Sinnsuche jedoch oft – wie beispielsweise Hakan Senocaks Erzählung »Davon wie ein weißer Vogel« über den zahnkranken Raci es zeigt – mit einer ordentlichen Portion Humor, an den man sich durch alle postmodernen Stürme als rettende Planke klammern kann.
Der Titel dieser Erzählsammlung lautet »Liebe, Lügen und Gespenster«. Er spielt damit auf die oben beschriebene enge Verknüpfung der heutigen türkischen Literatur mit dem Irrealen, Irrationalen, Fantastischen an, auf das Zusammenrücken von Fakt und Fiktion. Er spielt aber auch an auf drei ewig wiederkehrende Motive der Weltliteratur, die Liebe, den Verrat, den Tod. Der Mensch steht im Mittelpunkt der hier vorgestellten Geschichten, doch tut er dies nicht mehr, wie es bei den Autoren des sozialen Realismus der Fall war, als Teil eines übergeordneten Kollektivs, sondern als Einzelner, dessen Leiden – und dessen Schuld auch – zuallererst individuell sind. Die Verlogenheit in den zwischenmenschlichen Beziehungen – sei es in dem Verhältnis zur Familie, der (ehelichen) Beziehung oder zu Freunden und Bekannten – ist dabei ein großes Thema, ein anderes ist die Sexualität. Nicht mehr schamhaft versteckt kommt sie daher, sondern offensiv und manchmal geradezu schockierend direkt. Diese Direktheit rührt vielleicht auch daher, dass die Protagonisten alten Werten mit großer Skepsis begegnen – sie glauben nicht mehr ohne weiteres an traditionelle Werte wie die Familie oder Institutionen wie die Ehe und sind auf der Suche nach neuen Lebensformen. Dabei überschreiten sie schon einmal Grenzen, die bisher als normativ galten, und verletzen Tabus.
Die meisten der Erzählungen hier sind in den letzten zehn Jahren entstanden. Alle der hier vorgestellten Autoren sind derzeit in der türkischen Literaturszene aktiv. Der Band bietet damit einen Querschnitt durch die heutige türkische Kurzprosa, der die Leser neben einigen im deutschen Sprachraum schon bekannten Autoren insbesondere mit einer ganzen Reihe von Autoren bekannt macht, die für diesen Band erstmals ins Deutsche übersetzt wurden. Sie alle sind Zeugen und Akteure des kulturellen Wandels, der in der Türkei von der Zeit nach 1980 bis heute stattfindet.
Börte Sagaster
Nachwort zu »Liebe, Lügen und Gespenster«
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