Man hat einen tollen Ausblick von hier oben. Über die Straßenschluchten, die vielen Hochhäuser und Glaspaläste aus der Zeit des Wirtschaftsbooms, man sieht Parks, prächtige buddhistische Tempel, aber auch Elendsviertel. Alles wuselt durcheinander. In einem Porträt über Sie habe ich gelesen, dass Sie schon bei Ihrem ersten Besuch von dieser Stadt fasziniert waren, und dass Sie sich gewundert haben, dass es dort keine ausländischen Schriftsteller gibt. Die meisten Schriftsteller leben eher in anderen Metropolen wie London, New York oder Paris. Warum haben Sie sich entschlossen, ausgerechnet nach Bangkok zu gehen?
Was ich liebe ist über kulturelle Missverständnisse zwischen Ausländern und Thais zu schreiben. Wie diese Leute miteinander in Beziehung treten. Was also passiert, wenn Leute mit unterschiedlicher Muttersprache, Kultur und Geschichte zusammen kommen. Denn selbst wenn sie fließend Englisch sprechen, haben sie ja ganz andere Denkansätze und empfinden Dinge ganz anders. Wie man empfindet, das hängt ja davon ab, wie man aufgewachsen ist, mit welcher Kultur und welchen Traditionen. Diese Unterschiede überwindet man nie. Und ich versuche dann Situationen zu finden, wo sich diese Dinge aneinander reiben. Aneinander reiben wie die Kontinentalplatten der Erde. Wenn die Reibung zu stark wird, gibt es ein Erdbeben. Und bei mir passieren dann eben emotionale Erdbeben zwischen Leuten, die sich eigentlich alle Mühe geben, sich zu verstehen.
Und warum hängen Sie diese kulturellen Missverständnisse immer an Verbrechen auf? In Thailand ist das Genre des Kriminalromans nicht gerade populär.
Ich bin zum ersten Mal vor ungefähr 15 Jahren auf diese Idee gekommen. Da war ich in Phuket im Urlaub mit einem Freund und wir haben uns über Literatur unterhalten. Er meinte, es sei interessant, dass dieses Genre der Privatdetektiv-Geschichten, diese Raymond-Chandler-Tradition, eigentlich nie über den amerikanischen Einflussbereich hinaus populär geworden sei. Und da dachte ich, das wäre doch eine interessante Herausforderung, so eine Figur eines typischen amerikanischen Privatdetektivs zu entwickeln und den dann nach Südostasien zu verpflanzen.
Wie ist die Figur des Privatdetektivs Vincent Calvino entstanden?
Ich wollte eine zentrale Figur, die eigentlich selbst schon in zwei Sphären lebt. Also, sein Vater ist Jude und seine Mutter Thai und er wird als guter Amerikaner erzogen. Da haben Sie schon den multikulturellen Aspekt. Er musste sich vom ersten Tag seines Lebens mit unterschiedlichen Traditionen auseinandersetzen. Das macht es ihm natürlich leichter, an einem Ort wie Thailand zurechtzukommen, wo Anpassungsfähigkeit einfach ein Muss ist.
Muss sich der Privatdetektiv Calvino hier in Bangkok mit einer anderen Art von Kriminalität auseinandersetzen als in New York?
Sex and Crime sind ziemlich universell. Überall wo ich mal gelebt habe, in Toronto, in Vancouver, in London, in New York und später in Asien, habe ich immer die Chance genutzt, mit der Polizei auf Streife zu gehen. Besonders viel habe ich in den vier Jahren in New York gelernt, da habe ich sehr viel Zeit mit einem Privatdetektiv verbracht.
Und was haben Sie hier in Bangkok von der Polizei gelernt?
Ich habe Freunde bei der Polizei, die mir in vielen Detailfragen sehr geholfen haben. Und das ist ungeheuer wertvoll. Denn das erwarten die Leser von dir, dass die Details stimmen. Beschreib eine Uniform falsch und sie hassen dich. Und sie haben recht damit. Das ist deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, egal ob du deinen Helden in Bangkok auf die Straße schickst oder in New York oder Berlin. Die Details müssen stimmen.
Da müssen Sie doch jetzt über die Kriminalität in Bangkok gut Bescheid wissen. Welche Verbrechen geschehen hier am häufigsten?
Die Art von Verbrechen, an die ich zuerst gedacht habe, die passieren hier einfach nicht. Das sind diese Überfälle, die man aus nordamerikanischen Städten kennt, wo eine Gang wie aus dem Nichts über eine Oma herfällt, ihr den Schädel einschlägt und ihr den letzten Rentengroschen klaut. Natürlich gibt es hier auch Morde und Verbrechen, aber das sind nie solche Zufallsgeschichten. Die Opfer sind immer ganz gezielt ausgesucht, es sind eigentlich immer Verbrechen aus Leidenschaft. Jemand will Rache für einen Verrat oder Beleidigung oder so etwas. Das passiert hier oft, aber man versteht es auch woanders, denn Leidenschaften gehören einfach zum menschlichen Wesen.
Wie findet man solche Motive? Wie versteht man die Motivation für Verbrechen? Sie sprachen eingangs von den kulturellen Missverständnissen, welche Schwierigkeiten hatten Sie, sich in thailändische Täter, Opfer, deren Gefühle und ihre Motive hineinzuversetzen?
Die Schwierigkeiten entstanden immer, wenn ich versuchte, mich an Dingen zu orientieren, die ich kannte. Aber die Sprache, das Geld, selbst die Art einzukaufen sind so anders hier, da hast du nichts mehr, woran du dich festhalten kannst. Hier musst du dich in eine neue Kultur einfühlen und gerade das verstehen, was die Leute dir gar nicht erzählen. Weil sie damit aufgewachsen sind und es für selbstverständlich halten, und was man für selbstverständlich hält, erwähnt man nicht. Also muss man die Dinge erfragen. Und dafür musste ich erstmal die Sprache beherrschen.
Auch wenn Sie die Sprache jetzt können, das heißt aber noch nicht, dass Sie nicht selber auch kulturelle Missverständnisse produzieren könnten. Können Sie sich davor schützen?
Ich kenne viele Leute in allen möglichen Lebensbereichen, Priester in Slums, Entwicklungshelfer, Leute, die in Bars arbeiten und Imbissen oder in Botschaften oder für große Konzerne. Und so habe ich Zugang zu allen möglichen Sphären der Gesellschaft. Und das hilft mir, wenn ich genau zuhöre, herauszufinden, was wirklich passiert um mich herum. Und wenn man eine Zeit lang zuhört, spürt man den Herzschlag der thailändischen Gesellschaft. Man findet heraus, wovor sich die Leute fürchten, was sie glücklich macht, was sie aufregt. Und diese Gefühle sind die Zutaten für gute Geschichten.
Wenn man in Ihren Büchern viel über das Alltagsleben in Bangkok erfährt, dann könnten Ihre Leser die Calvino Romane ja vielleicht auch als einen etwas anderen Reiseführer benutzen.
Ich glaube es gibt Leute, die das so machen. Es gibt ja eine Menge Orte, die mit Calvino zu tun haben. Das Haus mit seinem Büro, dann wo er wohnt, die Slums, in die er manchmal geht. Und jemand, der meine Bücher gelesen hat und hierher kommt, der findet diese Orte. Und er wird dann vielleicht vertrauter mit der Stadt, als wenn er einen herkömmlichen Reiseführer benutzt, wo einfach nur drinsteht, wo die Sehenswürdigkeiten sind und was ein Zimmer kostet.
Wenn man wirklich an all diese Orte geht, an denen sich Vincent Calvino rumtreibt, in Slums oder Nachtclubs – das könnte doch gefährlich werden.
Gefahr ist wie die meisten Dinge des Lebens einfach eine Frage des Timings. Meistens des falschen Timings. Wenn du zur falschen Zeit am falschen Ort bist, kann dir immer was Unglaubliches passieren. Eigentlich ist das hier ein sicherer Ort. Ich habe kein Problem, hier um zwei oder drei Uhr nachts durch die Straßen zu laufen. Man wird hier nicht belästigt. Vor 50 Jahren mag das anders gewesen sein. Aber klar, wenn man Ärger sucht, und man geht in die falsche Bar und sagt ein paar falsche Worte, dann kann man ein Problem kriegen. Sehr wahrscheinlich sogar.
Ihr Held, der Privatdetektiv Vincent Calvino, der scheint ja Ärger immer zu suchen. Jetzt kennt er sich endlich in Bangkok gut aus und Sie schicken ihn nach Kambodscha. Und das in der Stunde null, damit ist die Zeit Anfang der Neunziger gemeint, in der die UNO-Truppen dort für Sicherheit sorgen sollten. Stunde null in Phnom Penh, das ist genau das Buch, für das Sie auch den Deutschen Krimi Preis gewonnen haben.
Das Interessante daran ist, Calvino wird von seinem Freund, einem thailändischen Polizeioffizier begleitet. Und der sieht seine Nachbarländer mit thailändischem Blick. Und der Leser erfährt dann die kambodschanische Realität mal aus der Sicht eines New Yorkers, eines Thais oder von Kambodschanern.
Wie haben Sie in einem so verschlossenen Land wie Kambodscha überhaupt recherchieren können?
Als ich nach Phnom Penh kam, war ich Reporter. Ich sollte über die UNTAC-Truppen berichten, also über die UNO-Truppen, die den Bürgerkrieg beenden und freie Wahlen durchsetzen sollten. Da hatte ich das Glück, von einem irischen und einem malaiischen Cop unter ihre Fittiche genommen zu werden. Ich war eine Zeit lang mit ihnen unterwegs und bekam auf diese Weise eine Menge Insiderinformationen über die UN. Das war ja ein bunt zusammengewürfelter Haufen damals, Japaner, Indonesier, Malayen, Inder und auch ein paar deutsche Sanitätssoldaten waren dabei. Und dieser zusammengewürfelte Haufen kam in ein Land, das völlig zerrüttet war vom Bürgerkrieg. Und keiner von diesen UN-Soldaten konnte sich wirklich vorstellen, was dieser Bürgerkrieg angerichtet hatte. 1,7 Millionen Menschen waren umgebracht worden, also fast ein Fünftel der Bevölkerung. Und die Überlebenden waren völlig traumatisiert.
Und kann man dieses Trauma beim Lesen von Stunde null in Phnom Penh verstehen?
Ich hoffe es. Calvino schafft es im Zuge seiner Ermittlungen zu verstehen, wie die Menschen überhaupt überleben konnten. Menschen, die alles verloren hatten, ihre Familie, ihr Land, einfach alles, und die jetzt versuchten, die Trümmer ihres Lebens wieder aufzubauen. Und er muss ja einen Kriminalfall lösen und deshalb zurückgehen in die Vergangenheit. Und so steht er praktisch vor zwei Welten: Vor der vom Krieg total zerrütteten Welt der Kambodschaner und der Welt der UN-Soldaten, von denen jeder mindestens 160 $ am Tag verdiente, was für die Kambodschaner eine unglaubliche Summe war damals, damit hätten sie ihre Familie ein Jahr lang ernähren können.
Bis jetzt sind drei Calvino Romane in Deutsch erschienen, Stunde null in Phnom Pen, Haus der Geister und Nana Plaza. Im Moment wird Ihr neuester Roman übersetzt, Pattaya 24/7. Pattaya liegt etwa eine Stunde südlich von Bangkok und ist vor allem durch Sextourismus bekannt geworden. Worum geht es in diesem Buch?
Im Grunde geht es, wie immer, um die Ängste, die die Gesellschaft in dem Moment beschäftigen, in dem ich schreibe. Und die große Angst in der Zeit von Pattaya 24/7 war, dass Terroristen aus dem Ausland einsickern könnten und einen ganz dramatischen Anschlag verüben. Der Kern der Geschichte ist, dass Terroristen beschließen, sie zünden eine Bombe in Pattaya, genau in dem Moment, wo ein hoher thailändischer Militär dort ist anlässlich eines Manövers, das sie dort jedes Jahr zusammen mit den Amerikanern abhalten. Also wenn alle möglichen hohen Tiere und Militärs in Pattaya sind. Und plötzlich geraten Calvino und sein Freund Colonel Pratt in diese Geschichte, obwohl sie eigentlich nur in einem lokalen Mordfall ermitteln wollen. Aber dann merken sie, dass dieser Mord mit den Plänen der Terroristen für einen großen Anschlag zusammenhängt.
Vincent Calvino hat sich, so wie sein Schöpfer auch, in den unterschiedlichsten Welten herumgetrieben. Er lebt schon sehr lange in Bangkok und kennt diese Riesenstadt wie seine Westentasche. Er kennt aber auch Phnom Penh, Saigon oder New York. Gibt es einen Ort, den er am liebsten mag?
Calvino bevorzugt wahrscheinlich Orte, die man nicht unbedingt geografisch festmachen kann, sondern die mehr mit einem bestimmten Lebensgefühl zu tun haben. Und das sind Orte, wo er ein Lebensgefühl finden kann, das von einer gewissen Friedfertigkeit geprägt ist. Also er sucht eigentlich einen Schutzraum vor all diesen schrecklichen Dingen. Aber trotzdem gerät er eben immer wieder in Gefahr, denn er ist halt auch ein typischer New Yorker, ein Typ mit Ecken und Kanten. Und vor allem hat er sich einen starken Gerechtigkeitssinn bewahrt. Einen Sinn für soziale Gerechtigkeit. Und was ihn wirklich aufregt ist, wenn gesellschaftliche Systeme versagen und Menschen darunter leiden müssen.
Ist Calvino so gesehen ein Alter Ego des Autors Christopher G. Moore?
(lacht) Ich bin kein Privatdetektiv. Aber meine Tantiemen sind genauso bescheiden wie Calvinos Honorare.