Muss es denn gleich Goethe sein? Aber klar. »Es ist keine Kunst«, hat der als Feststellung über die Verbindungswege zwischen Leben und Literatur nachgelassen, »eine Göttin zur Hexe, eine Jungfrau zur Hure zu machen; aber zur umgekehrten Operation, Würde zu geben dem Verschmähten (…), dazu gehört entweder Kunst oder Charakter.« Gern auch beides, finde ich. Schließlich teilt die Kriminalliteratur mit allen anderen Literaturen eine Freiheit: die Freiheit zu entscheiden, ob sie Kunst oder Schund sein, Ideologiegetrübtes oder Wahrhaftiges erzählen will. Denn schließlich hat die Kriminalliteratur per definitionem so universale Banalitäten am Hals wie Gewalt, Verbrechen, Gut und Böse, Recht und Unrecht. Deswegen lesen wir sie, deswegen schreiben wir sie.
Es ist also nur logisch, dass die Verbindungswege zwischen Moral und Ästhetik heutzutage vor allem von Kriminalliteratur ausgeforscht werden. Mit Büchern natürlich, aber auch mit öffentlichem Streit. Bekanntestes Beispiel ist der Krach, den die große alte (und geadelte) Dame des britischen Konventionalkrimis, P. D. James, losgetreten hat, als sie vor ein paar Jahren über BBC World der ganzen Welt mitteilte, sie siedle ihre Verbrecher prinzipiell nur in den höheren Klassen an, da es sonst ja keine moralische Fallhöhe gebe. Im Klartext: Diejenigen, die sozial weiter unten leben (müssen), haben sowieso keine Moral. Es hagelte Konter. Etliche britische Kolleginnen und Kollegen schrieben Sturm gegen den innewohnenden Klassendünkel und Rassismus, gegen das Märchen von einer heilen Welt, in der sich anständig und unanständig noch säuberlich auseinandersortieren lassen. Die Geschichte der Kriminalliteratur ist eben immer auch eine Geschichte der Richtungskämpfe, und die sind bekanntlich nie zu Ende. Zwar scheint Raymond Chandlers alte Antithese zu den Killeridyllen von zum Beispiel Agatha Christie gerade heute wieder brauchbar. Er hatte gewissen »aufgeregten Damen« der Golden Era des britischen Krimis hingerieben, dass ein Mord »ein Akt von unendlicher Grausamkeit« ist und man damit nicht herumtändelt, und Hammett dagegen ins Feld geführt: Der habe »den Leuten den Mord zurückgegeben, die einen Grund dafür haben«. Dummerweise ist aber auch Chandlers Los Angeles der Vierzigerjahre doch sehr grellweiß geraten und nimmt die Anständigkeit seiner weiblichen Figuren doch sehr konventionell proportional zu ihrer (sexuellen) Selbstständigkeit ab. Und so was stößt mittlerweile auch Träumern säuerlich auf. Die Figur, die Chandler zum Prototyp ausgebaut hatte, ist damit nicht komplett gestorben: der Außenseiter, der im eigenen Namen und auf eigenes Risiko ein bisschen Gerechtigkeit zurück in eine Welt bringt, die vom Verbrechen ausgehöhlt ist, aus der er selbst nicht zu kommen scheint – aber der lonesome hero, sagen wir, smells a bit funny.
Einen außenseiterischen Aufklärer hatte auch Walter Mosley zunächst beschäftigt. Easy Rawlins ist Privatdetektiv und Hauptfigur eines Romanzyklus, der auf neun Bände hinauslaufen und die Geschichte von L. A. von den Vierzigerjahren bis heute aus der nichtweißen Perspektive erzählen soll. Aber plötzlich mittendrin – und nach ein paar anderen Büchern außerhalb der Serienlogik – radikalisiert Mosley die Perspektive noch einmal.
Dieses Buch, so könnte man sagen, berichtet von einem Mann, der aus dem Gefängnis, wo er wegen älterer Vorfälle saß, entlassen ist und in einer Stadt steht und wieder anständig sein will. Man hätte damit allerdings Alfred Döblin paraphrasiert, der so 1929 einen Roman eröffnet, der ihn weltberühmt und jene Stadt zum universalen Ort machen wird. Selbstverständlich ist Los Angeles/Watts in den Neunzigerjahren nicht Berlin/Alexanderplatz in den Zwanzigern. Aber ebenso sicher ist Socrates Fortlow eine universale Kunstfigur wie Franz Biberkopf. Beide sind Verschmähte und gerade deshalb für ihre Autoren Protagonisten des ewigen Kampfes um Würde, Überleben, Menschsein und Moral.
Weiter unten als Socrates Fortlow kann man in den USA kaum leben. Höchstens, wenn man obendrein noch ein illegal alien wäre. Mr Fortlow ist Bürger der Vereinigten Staaten, aber schwarz und gewesener Gewalttäter. Dafür hat er siebenundzwanzig Jahre in einer »Besserungsanstalt« im Staat Indiana abgesessen. Seitdem hat er statt eines regulären Ausweises eine staatliche Bescheinigung als Exzuchthäusler, was jedem Polizisten die Möglichkeit gibt, ihn für generell verdächtig, wenn nicht gleich schuldig zu halten: für was immer gerade passiert ist.
Eine schöne Ausgangsposition für Resozialisierung. Denn von Sozialisierung kann in Soccos Leben kaum die Rede sein. Er ist aus armen Verhältnissen, vom Land, Kind eines gewalttätigen Vaters und einer Mutter, die ihn aus Geldmangel nicht zur Schule schicken kann. Deshalb gibt sie ihm den Namen »von jemand Schlauem«, vielleicht färbt das ab. Er hat nichts gelernt und nie Arbeit gehabt, und eines Nachts ermordet er im Vollsuff seinen Kumpel, bevor er dessen Freundin vergewaltigt und auch umbringt. Die Morde sind ebenso bewusst- wie grundlos. Ein Mord wird nicht weniger grausam oder gar schöner, weil jemand »einen Grund dafür« hat. Aber kein Mord passiert ohne Voraussetzungen und Zusammenhänge, und hinter die zu kommen, wird Mr Fortlows »sokratisches« Projekt. Auch wenn er nicht weiß, wer dieser »mediterrane Typ« genau war.
Er hat im Knast noch mehr Morde begangen, bewusst und mit Grund – entweder weil er die unmenschliche Tyrannei derer, die er umbringt, gegenüber Schwächeren nicht mehr erträgt oder um nicht selbst umgebracht zu werden. Diese Morde gibt es nicht, außer in Socrates’ Gewissen und Erinnerung. Für die Morde hat niemand Interesse, es sind only niggahs die Opfer, genauso wie seine Opfer draußen only niggahs waren. Weshalb er nicht wirklich lebenslänglich drin bleiben muss oder auf den elektrischen Stuhl kommt. Er geht sofort nach L. A. Dort gibt es keine Verbindung zu seinem früheren »Leben«, dort gibt es die Anonymität der Hektik, in der niemand Zeit hat, sich ein Gesicht zu merken. Er baut sich, nach und nach, seinen Kosmos. Er wohnt in einer sicher nicht legalen Behausung zwischen leer stehenden Abbruchhäusern, da wo Watts am »wattsten« ist. Er lebt zunächst von Pfandflaschen und -dosen und erzwingt sich schließlich einen Job – als Packer in einem Supermarkt im feinen Beverly Hills, wo er auch Lebensmittel nach Hause liefern darf. Er hat bald ein Netzwerk von (zumeist ebenso alten) Freunden, mit denen er Schach oder Domino im Park spielt, mit denen gemeinsam er die verrohte, zerstörte kleine Welt der Straßen von Watts in Ordnung bringt, wo es geht. Er erwischt einen Halbwüchsigen dabei, einen alten Hahn zu erwürgen, und statt ihn anzuzeigen oder zusammenzuschlagen – ein Impuls, der ihn immer noch als Erstes durchzuckt –, adoptiert er ihn, so gut er kann. Auch der Junge ist schon ein Mörder – er hat, genau so grund-, aber nicht voraussetzungslos, ein Kind mit umgebracht. Socrates stellt sich eine Lebensaufgabe: diesen Jungen zu retten vor dem, was »Watts« für seine Kinder zu bieten hat, den frühen Tod, die Gewalt der Gangs.
Socrates Fortlow ist knapp sechzig und hat immer noch die gefürchteten »Felsbrecherhände«. Er weiß, weil er auf Leute trifft, die mehr wissen, dass er praktisch nichts weiß, schon gar nicht von der Geschichte seiner eigenen Leute. Und dass diese Ignoranz und die alltäglichen Lügen der weißen Welt einen verdammten Zusammenhang damit haben, dass Leute wie er »einen Grund haben« – zur Verzweiflung, zur Gewalt.
Es ist ein durch und durch »falsches Leben«, was in den Ghettos gelebt werden muss. Es ist so markerschütternd falsch, dass kein Adorno es genau würde sezieren wollen. Und dennoch lässt sich das »sokratische« Projekt in Watts interpretieren als der ständig praktizierte Widerspruch gegen die Behauptung, es gebe kein »richtiges Leben im falschen«. Dabei würde dieser Socrates nicht einmal widersprechen, als er endlich sprechen lernt, öffentlich, aufrecht und klar. Er würde vermutlich, konfrontiert mit der These, sagen: Naw, man, but at least you try!
Wer redet, schießt/sticht/würgt (noch) nicht. Die Eroberung des Sprechens, des Mitredens, der Kommunikation ist der erste Schritt raus aus dem Gewaltzwang. Wer schlägt, hat das Reden nicht ge- oder verlernt. Nicht zuletzt, weil niemand zuhört. Socrates lernt in Watts sprechen, weil er bei allem, was er erlebt, nach etwas sucht: nach einer Wahrheit, einer Erklärung, nach Hoffnung. Die Sprache, aus der die Geschichten sind – oder vielmehr dieser fast klassisch-strenge Bildungs- und Entwicklungsroman des Socrates Fortlow –, ist selbstverständlich eine Kunstsprache. Gebaut für eine angeblich unmögliche Figur, jemanden, der höchste Moralität verkörpert und bespricht, selber aber in der Sprache lebt, die dem Herzen und dem brutalen nackten Leben am nächsten ist – Slang. Nichts an Walter Mosleys Kunstsprache ist »exotisch«, »hip« oder sonst besonders. Und das macht Socrates Fortlow zu einer so universalen Figur wie zum Beispiel Franz Biberkopf. Auch wenn Socco nicht vom Schicksal zurechtgebogen wird, sondern sich selbst zum anständigen Menschen biegt. Auch Socco »wohnt in einer Menschenhaut« und »verlangt vom Leben mehr als das Butterbrot«. Er verkörpert unser aller Bodensatz, überall auf der Welt, wir müssen nicht in Watts wohnen, schwarz oder männlich sein, um ihn zu kennen oder mit ihm verwandt zu sein.
Socrates Fortlow in Watts lehrt, indem er lernt. Man muss sich seinem jeweiligen moralischen Schluss nicht unbedingt anschließen, aber seine kompromisslose, glasklare Moralität ist faszinierend und attraktiv, denn sie dreht sich immer um handfeste, menschengroße Dinge: bad or good, right or wrong im Alltagsgeschehen. Es handelt sich um eine von ganz unten konstruierte Fallhöhe, die niemanden ausschließt – und niemanden verschont.