Romane wollte der Lyriker Álvaro Mutis aus Kolumbien eigentlich nie schreiben. Doch Maqroll der Gaviero, des Autors Alter Ego, entwickelte eine derartige Dynamik, dass sein Schöpfer ihn aus dem Gehege der Poesie befreite und auf die freie Wildbahn der Prosa entließ. So erschien denn 1986 der Roman Der Schnee des Admirals. Mutis war damals bereits 63-jährig und gehörte längst zur ersten Garde der spanischsprachigen Lyrik. Bei dieser einen Exkursion ins Prosagenre hätte es gemäß dem Autor auch bleiben sollen. Doch den weiteren Verlauf der Dinge diktierte Maqroll el Gaviero. Sechs weitere Romane sind seither erschienen, der jüngste 1993. Sie alle sind Teil der Maqroll-Saga, deren Ursprung 55 Jahre zurückreicht, als Mutis einen Protagonisten erfand, der »mehr Erfahrung und mehr Leben« hatte als der damals 17-jährige Schriftsteller in spe. Sagahaft sind nicht so sehr die Proportionen dieses Zyklus (keiner der Romane erreicht 200 Seiten) als vielmehr seine Tiefe und Intensität, seine Dichte und Suggestivität. Dieses unepische Epos, bestehend aus Gedichten, Prosastücken und Romanen, ist Fragment. Das Lückenhafte, Episodische, Unchronologische ist wesentlich und verleiht den Abenteuern und Wanderungen des Maqroll, seinen Unternehmungen und (vor allem) Niederlagen ihre Rätselhaftigkeit, ihre träumerische Flüchtigkeit.
Maqroll: ein fremd klingender Name, nicht nur in spanischen Ohren. Mutis wurde verschiedentlich gefragt, was es damit auf sich habe. Er hat sich die Überlegungen der Eastman Company zu eigen gemacht, die ihre Erzeugnisse »Kodak« nannte, weil dieser Kunstname keinem Land und keiner Sprache zugeordnet werden kann und somit überall und nirgends heimisch ist. Maqroll hat kein Herkommen, er hat nur einen Pass: einen zypriotischen, den er irgendwann und irgendwie erworben hat, wahrscheinlich auf ungesetzlichem Weg. Maqroll ist nirgends zu Hause und ständig unterwegs. Dafür steht auch sein Spitzname. »Gaviero« ist ein nautischer Ausdruck für den, der im Mastkorb Ausschau hält. Damit sind auch Maqrolls Leidenschaften angesprochen: Schiffe, Häfen, Flüsse, das Meer.
In Der Schnee des Admirals macht Maqroll sich auf, um mit den Ersparnissen einer gewissen Flor Estévez am Oberlauf des Xurandó Holz zu kaufen. Maqroll reist auf einem jener rostigen, müden Kähne, die Mutis immer wieder und mit so viel Hingabe schildert, als seien sie lebendige Wesen. Die Geschichte spielt irgendwo östlich der Anden, denn der fiktive Xurandó mündet, wie es heißt, »in den großen Fluss«: Amazonas oder Orinoko.
Die Besatzung ist nicht eben Vertrauen erweckend: ein permanent alkoholisierter Kapitän, der sich während der Fahrt erhängt; ein einsilbiger indianischer Bordmechaniker; ein Lotse ohne Eigenschaften; ein blonder Hüne aus Estland, düster und schweigsam. Ein Wasserflugzeug landet, Soldaten verhaften den Lotsen und den Esten und fliegen wieder ab. Die monotone Fahrt geht weiter, und je mehr Schwüle und Insekten am seelischen Gleichgewicht nagen, desto gespenstischer erscheint Maqroll seine selbst auferlegte Mission. Beim Außenposten des Militärs erfährt er, dass der Lotse und der Este über den Wäldern abgeworfen wurden. Sie waren beschuldigt, Eingeborene massakriert zu haben. Summarische Justiz im Niemandsland. Der Fluss wird enger, Stromschnellen und ein frischeres Klima künden den Fuß der Kordilleren an. Als der Kahn endlich die Sägereien erreicht, stößt Maqroll auf hermetisch abgeriegelte Anlagen mit blitzblanken Maschinen, die nichts produzieren. Sie erscheinen in diesem Klima von Moder und Zerfall wie Halluzinationen, und der Ort verströmt einen Odem von Irrealität und Gefahr. Maqroll reist weiter ins Hochland, um Flor Estévez das Geld zurückzuerstatten. Doch deren Kneipe ›Der Schnee des Admirals‹ ist verödet, die Besitzerin verschwunden.
Im Anhang dieses Romans finden sich vier Kurztexte, die ursprünglich in den Gedichtbänden Caravansary (1981) und Los emisarios (1984) erschienen und Episoden aus Maqrolls Leben betreffen. Bemerkenswert ist insbesondere die Skizze El Cañon de Aracuriare. Denn während Mutis in der früheren Version den bevorstehenden Tod des Maqroll ankündigt, ist davon in der zweiten Fassung nicht mehr die Rede. Im Gegenteil, der Kapitän sagt: »Sie sind unsterblich, Gaviero.« Maqrolls Potenzial war offenbar größer, als dass Mutis sich seiner hätte entledigen können. Der Autor gesteht: »Maqroll und Mutis wurden sich ähnlicher, als mir lieb war.«
Das betrifft weniger die äußere Biografie, sieht man ab vom Hang zum Nomadentum. Álvaro Mutis wurde 1923 in Bogotá geboren. Als Sohn eines Diplomaten verbrachte er einige Kindheitsjahre in Belgien. Seine Liebe zu Schiffen und zum Meer wurde auf den Reisen zwischen Europa und Kolumbien geweckt, wo die Familie jedes Jahr einige Ferienwochen auf der Kaffeeplantage des Großvaters zubrachte. Als der Vater mit 33 Jahren starb, ließ sich die Mutter mit den Kindern 1932 in Bogotá nieder. Mutis war kein brillanter Schüler, und er wurde ein renitenter, uninteressierter Student. Mit 18 Jahren fand er Arbeit beim Rundfunk. Später besorgte er die Public Relations einer Versicherung, einer Fluggesellschaft und bei Esso. Das waren Brotberufe, die die eigentliche Leidenschaft ermöglichten: Mutis las die Russen, die Amerikaner, die Engländer und vor allem die Franzosen. Und er schrieb: 1948 erschien La balanza, sein erster Lyrikband.
1956 ließ sich Mutis in Mexiko nieder. In Kolumbien, wo inzwischen der Diktator Gustavo Rojas Pinilla die Macht ergriffen hatte, wurde Mutis in absentia wegen Betrugs verurteilt, man beantragte seine Auslieferung. Die mexikanischen Behörden verhafteten Mutis, er verbrachte fünfzehn Monate im berüchtigten Lecumberri-Gefängnis. Seine erste Prosaarbeit, Diario de Lecumberri (1960), lässt ahnen, wie hart und gefährlich (Drogen, Waffen, Geistesgestörte) jene Zeit war. Nach der Rückkehr zur Verfassungsmäßigkeit wurde das Urteil aufgehoben, doch Mutis kehrte nicht nach Kolumbien zurück. Er lebt seither in der mexikanischen Hauptstadt, wie sein Freund und Landsmann Gabriel García Márquez. Mutis arbeitete für Filmproduzenten und -verleiher in Mexiko, zuletzt bekleidete er einen hohen Posten bei Columbia Pictures. In dieser Funktion war er viel unterwegs, nicht per Schiff allerdings wie Maqroll, sondern im Flugzeug, und nicht wie dieser mit ungewissem Ziel, sondern mit klarem Auftrag.
Wie im ersten Maqroll-Band herrscht auch im zweiten, Ilona kommt mit dem Regen, eine Atmosphäre des Scheiterns und der Desillusion. Maqroll erreicht Panama an Bord des Tramp-Steamers Hansa-Stern, dessen Kapitän das Schiff seiner Schulden wegen verliert. Maqroll findet Unterschlupf in einer miesen Pension, der Besitzer verschafft ihm Arbeit als Hehler. Da taucht eine alte Freundin auf, Ilona, polnisch-triestischer Abstammung, die er einst liebte und mit der er jetzt ein Bordell eröffnet. Eine der Huren beginnt eine düstere Anziehung auf Ilona auszuüben, und schließlich fallen beide Frauen einem Unfall zum Opfer, der vielleicht auch ein Doppelselbstmord war. Maqroll beschließt einmal mehr abzureisen. Da taucht das Schiff von Abdul Bashur auf, Libanese und Freund Maqrolls, seit die beiden vor Jahren in Port Said erstmals Geschäfte miteinander machten. Bashur ist Maqrolls Spiegelbild, ein rastloser Wanderer ohne Bindungen, durchdrungen vom Bewusstsein der Vergeblichkeit, luzid in der Verzweiflung, stoisch angesichts der Absurdität und ausgestattet mit einem rigorosen Ehrenkodex und einem unverbrüchlichen Sinn für Freundschaft. Auch dieser Roman ist vernetzt mit früheren Maqroll-Texten. Da ist die Goldmine in Cocora aus Caravansary. Oder das Spital der Hochmütigen, eine Episode aus Maqrolls Leben, die bereits 1959 im Lyrikband Reseña de los hospitales de ultramar ein Prosapoem abgegeben hat.
Mit Ein schönes Sterben schloss Mutis 1989 die Trilogie Empresas y tribulaciones de Maqroll el Gaviero ab. Einmal mehr ist der Gaviero »down and out«, er hat sich in La Plata verkrochen, einer Flusssiedlung im Dschungeltiefland. Er überlebt dank spärlichen Überweisungen einer Bank in Triest, und man erinnert sich an Ilona, die Maqroll wohl zu ihrem Erben gemacht hat. Als ein Ingenieur auftaucht, wendet sich das Blatt. Maqroll wird beauftragt, einige Kisten mit Baumaterial in die Berge zu schaffen, wo eine Eisenbahnlinie gebaut wird. Doch an der vereinbarten Stelle findet er keine Anzeichen irgendeiner Tätigkeit. Als er zurückkehrt, ist La Plata in der Hand der Militärs. Maqroll wird verhört und erfährt, dass er unwissentlich Waffen für die Aufständischen geliefert hat. Man schickt ihn als Köder mit einer zweiten Lieferung los. Bei seiner Rückkehr ist sein Vertrauensmann tot, er wird der Kollaboration verdächtigt und kommt nur knapp mit dem Leben davon. Der Romantitel Ein schönes Sterben ist einem Vers Petrarcas entlehnt (»Un bel morir tutta la vita onor«), ist aber nicht programmatisch zu verstehen. Denn obwohl die Trilogie komplett ist, lässt Mutis Maqroll entwischen. Vielleicht, um den Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, die ihm ein solcher Papiermord beschert hätte. Man erinnert sich an Conan Doyle, als dieser seinen Sherlock Holmes vor grandioser Alpenkulisse zu Tode stürzen ließ. Der chilenische Lyriker Gonzalo Rojas hat seinem Freund Mutis denn auch mit einer Strafanzeige gedroht, falls er es wagen sollte, sein Alter Ego aus dem Weg zu räumen.
Und so begegnet man dem Gaviero auch im Roman Die letzte Fahrt des Tramp Steamer, wenn auch nur als entferntem Bekannten des Ich-Erzählers. Dieser memoriert seine Erlebnisse mit der Alción, einem Tramp Steamer, wie jene kleinen Frachtschiffe heißen, die von Hafen zu Hafen kreuzen in Erwartung irgendeiner Gelegenheitsladung. Immer wieder und an den unerwartetsten Orten kreuzt dieser erbärmliche Kahn wie ein Geisterschiff die Wege des Erzählers. Im Baltikum, in Costa Rica, in Jamaika und ein letztes Mal im Orinoko. Jahre später lernt der Erzähler einen baskischen Kapitän kennen, und als dieser aus seinem Seefahrerleben berichtet, begreift der Erzähler, dass er den Kapitän der Alción vor sich hat. Der Tramp Steamer gehörte einer Schwester Abdul Bashurs, die das Schiff so liebte, dass sie es besuchte, wo immer auf der Welt es vor Anker ging. Doch eigentlich galt ihre Liebe dem Kapitän, und diese Liebe wuchs in dem Maße, wie der Tramp Steamer seeuntüchtig wurde. Der Bericht des Kapitäns mündet zum Schluss in die Erinnerungen des Erzählers: Im Delta des Orinoko sinkt die Alción während der Regenzeit in den trüben Fluten.
»Ich lege mir keinen Plan zurecht. Jeder Roman ist das Ergebnis einer Notwendigkeit, des Drucks, den die Romanfiguren auf mich ausüben. Sie selber sind es, die ihr Schicksal gestalten, ihre Reisen, die Begebenheiten, und ehe ich mich versehe, halte ich einen Roman in Händen samt Materialresten für einen nächsten.« Eine solche Arbeitsweise schafft die idealen Voraussetzungen, damit der Maqrollsche Erzählzyklus, der allmählich mythische Dimensionen annimmt, weiterwuchert. In Das Gold von Amirbar knüpft Mutis an jener anderen Ecke seines literarischen Universums an, das nichts mit Meer und Schiffen zu tun hat: den Andentälern Kolumbiens, die immer wieder, und sei es auch nur flüchtig, in seinen Gedichten und Romanen auftauchen. Das Gold von Amirbar ist dem Großvater gewidmet, auf dessen Besitz im Departement Tolima Mutis als Kind Eindrücke empfangen hat, die derart stark waren, dass sie bis heute den Angelpunkt seiner Existenz bilden, wie er sagt. In eines dieser fruchtbaren, üppigen Täler steigt der Gaviero hinab, um eine verlassene Goldmine unweit des vertrauten Cocora zu reaktivieren. Doch alles, was er dort findet, sind die Toten eines Massakers, ominöses Mahnmal der »Violencia«, die Kolumbien, nie namentlich genannt, aber unverkennbar präsent, seit Jahrzehnten verheert. Mithilfe eines lokalen Führers öffnet Maqroll eine andere Mine, deren Eingang an einer senkrecht abstürzenden Felswand liegt und die er »Amirbar« tauft, weil das die Laute sind, die er im heulenden Wind zu hören glaubt. Der Gaviero ist auch in der Liebe ein Vagabund, doch diesmal hinterlässt er nicht einfach ein gebrochenes Herz, sondern bezahlt seinen hemmungslosen Freiheitsdrang beinahe mit dem Leben. Und die politische Situation wird ihm fast zum Verhängnis. Die Guerilla hat Pipelines gesprengt, und das Militär beargwöhnt den fremden Goldsucher. Maqroll verschenkt das wenige geschürfte Gold und flieht über die Kordilleren hinab an die Pazifikküste, wo er einmal mehr ein Schiff besteigt.
Mutis’ Geschichten sind eingebettet in eine ausgefeilte Rahmenhandlung; sie sind als Erinnerungen angelegt und werden von einem Ich-Erzähler rapportiert, der Mutis aufs Haar gleicht. Im Falle von Das Gold von Amirbar hält sich der Erzähler in Los Angeles auf, wo er ein Filmstudio besucht. Im Hotel erreicht ihn eine Nachricht des Gaviero, der in einem schäbigen Motel malariakrank darniederliegt und seine Geschichte erzählt. In Abdul Bashur und die Schiffe seiner Träume sind es die Briefe Bashurs an seine Schwester, die nach dessen Tod den Erzählmotor in Bewegung setzen. Bei diesem Band handelt es sich um eine Sammlung von Materialresten, die Mutis zu Erzählungen ausbaut. Man erfährt, wie der Gaviero und Abdul Bashur vorübergehend Millionäre werden. Man liest die Liebesgeschichte Abduls und Ilonas, die dem Roman Ilona kommt mit dem Regen vorausgeht. Man liest über Bashurs und Maqrolls Fährschiff, mit dem die beiden muslimische Pilger nach Mekka transportieren, unter ihnen auch das kroatische Paar, in dessen Motel der Gaviero in Das Gold von Amirbar Unterschlupf findet. Die wohl stärkste Geschichte betrifft Bashur, diesen »Träumer von Schiffen«, der um die halbe Welt reist, um einen Tramp Steamer namens Thorn zu kaufen, dabei einer Inkarnation des Bösen begegnet und beinahe das Leben verliert.
Die Würde, die Mutis’ Figuren auch in der Niederlage bewahren, rührt daher, dass sie im Bewusstsein der Nutzlosigkeit ihre Aufgaben nach bestem Wissen und Gewissen ausführen. Maqroll hat erfahren, dass Träume sich in Luft auflösen, sobald man sie zu verwirklichen sucht. Was bleibt, ist das Verlangen. Mutis’ Figuren sind Besiegte. Doch was wäre ein Sieger? Dies sind für Mutis höchst relative Begriffe. Ist nicht auch ein Gewinner letztlich ein Verlierer? Nichts dauert, der Tod macht jeden Triumph zunichte. Im besten Fall kann ihm etwas abgerungen werden: Darauf verweist der Vers von Petrarca. Oder das Zitat von Pierre Reverdy in Das Gold von Amirbar, wonach der Mensch den Tod zu seinem Verbündeten macht und fest damit rechnet, dass dieser ihm den Ruhm verschafft, den ihm das Leben vorenthalten hat. Das ist die einzige und die letzte Hoffnung des Gaviero, dessen Wanderungen im Grunde Ausdruck einer unstillbaren Sehnsucht sind.
Über Maqroll den Gaviero sagt Mutis: »Der Ärmste nimmt alles auf sich, was ich gern gewesen wäre, was ich hätte sein müssen und wozu ich nicht fähig war.« Als Leser darf man darüber froh sein, denn sonst hätte Mutis kaum Anlass gehabt, die Welt dieses romantischen Abenteurers zu erträumen, in der kurzes Glück und Skepsis, Sensualität und Desillusion, Suchen und Verlangen, Hochherzigkeit und eine unheilbare Melancholie eine singuläre Verbindung eingehen.
Erstmals erschienen in: Neue Zürcher Zeitung. Alle Rechte beim Verfasser.