Kaum ein Roman könnte sich widerborstiger sperren, in gedrängter Form subsumiert zu werden, zumal in Form einer Inhaltsangabe. Laors hochkomplexes Kunstwerk ermöglicht es dem Leser nicht ohne weiteres, einen geordneten Handlungsstrang herauszulösen, auch nicht derer zwei oder drei. Vielmehr erinnert der Roman an ein pausenloses Abbrennen narrativer bengalischer Feuer, eine unüberschaubare Vielzahl angerissener, sich verbindender, überschneidender, widersprechender, gegenseitig ausschließender, revidierender Geschichten. Einer der – unisono begeisterten – israelischen Rezensenten des Romans fühlte sich an einen Versuch aus dem Chemieunterricht seiner Schulzeit erinnert, bei dem Holzstäbchen in hochkonzentrierte Säure gehalten werden und so kristalline Ausblühungen bilden. Man könnte in der Tat Laors Roman als work in progress lesen, wie ein roter Faden ziehen sich Bemerkungen durch das Buch, einzelne Charaktere könnten Stoff für einen Bestseller, eine Novelle, einen Dokumentarfilm oder auch nur eine Zeitungsmeldung liefern – sie werden dem Leser förmlich hingeworfen, um schon wenige Seiten später mit glitzernden Partikeln einer neuen Geschichte, eines neuen Handlungsstrangs überzogen zu sein.
Ironischerweise lassen sich jedoch bei all dem – wenn der Leser denn darauf besteht – Überreste filtrieren einer Story, die so etwas wie einen Anfang und ein Ende hat, ein grotesk entstellter Bestsellerplot, ein nahöstlicher Geheimdienstthriller um einen (Anti-) »Helden«: Vielleicht heißt der Mann Jizchak, Jizchak Kummer: Ein hochrangiger Offizier des Inlandsgeheimdienstes SHABAK, übergewichtig, mit Brille und Narbe hinter dem Ohr, der zum Islam übergetreten und von seinem letzten Einsatzort Gaza nichtabgemeldet verschwunden ist, nachdem ihm ein wichtiger palästinensischer Häftling, ein Informant, abhanden gekommen ist. Wie auch immer – Kummer verliert seine Identität, seinen Glauben, sein Vertrauen in die Menschen, vielleicht auch seinen Verstand. Mit Beginn des Libanonkriegs ist er in Tel Aviv und hält mit seinem Renault schrittfahrend eine Panzertransporterkolonne auf dem Weg zur Nordgrenze auf, bis er schließlich in eine landwirtschaftliche Siedlung im Zentrums des Landes gelangt, wo er eine Anstellung als Lehrer findet und die Suche nach seinem entkommenen arabischen Informanten, der ihn verraten hat und für einen Anschlag verantwortlich ist, fortsetzt. Vielleicht ist ja Nissim, der gebildete, belesene Schuldiener, sein Mann, ist er der »Stinker« Ismail, der seine Frau mit ihren drei Kindern in einem Flüchtlingslager zurückgelassen hat. Aber vielleicht ist er auch der Bruder des Lehrers, oder vielmehr sein Halbbruder wie der biblische Ismail ein Halbbruder von Isaak/Jizchak? Am Ende verschwindet der Lehrer, führt vielleicht als der Mahdi Muhammad Bashi Utrak (unter dem Namen des zum Islam übergetretenen falschen Messias Sabbatai Zwi) die Kinder der Flüchtlingslager zurück auf ihr Land, während Nissim in einem israelischen Gefängnis landet und seinen Mitinsassen aus »Kalila und Dimna« vorliest, einem persischen Heldenepos.
Vor allem jedoch liest sich der Roman wie ein Versuchslabor für die Willkürlichkeit der menschlichen Identität. Eine Vielzahl von Personen hören auf denselben Namen – zum Beispiel Gadi, der Sohn des Bankangestellten Schieber, der zu Beginn des Buches versucht, die Panzertransporterkolonne aus dem Stadtgewirr von Tel Aviv nach Norden, zur libanesischen Grenze zu dirigieren; oder der schöne Säugling gleichen Namens, Sohn oder Bruder von Shlomit, einer Schülerin des Lehrers in jener landwirtschaftlichen Siedlung, oder sogar der Sohn der Frau des örtlich Rabbiners; oder sollte Gadi der Sohn von Professor Gonen sein, einem Dozenten für Astrophysik an der Universität und aufgeblasenen Reservehauptmann; oder ist er Gadi, der Soldat, der mit Efrat zusammenlebt, die früher einmal Efraim war, ein ehemaliger Elitesoldat, der zurück zur Armee will, nachdem er sich selbst kastriert hat; um nicht zu reden von Gadi Ratner, dem Cousin von Willi, dem Viehzüchter, usw.
Andere wechseln ebenso ihren Namen wie ihr Geschlecht, ein literarisches Experiment, das seine Höhepunkte in Gefängnissen und Verhörräumen des israelischen Geheimdienstes findet, wo unter Folter Name, Identität, Lebensgeschichte und einfache, gewünschte Antworten geformt werden.
Bei all dem hat Yitzhak Laors Roman nichts von post-modernistischer Entfremdung – er kommt (überraschenderweise) immer wieder anrührend und geradezu sentimental daher, komisch, grotesk, nicht selten brutal und abstoßend obszön, doch immer schillernd bunt und gewagt.
Der Autor geizt dabei nicht mit kaum verhohlenen Anspielungen auf von ihm wenig geschätzte Protagonisten der jüngeren israelischen Geschichte – Militärs, Politiker, Autorenkollegen, Professoren, Richter etc. Laors Roman ist – wie schon sein erster Roman »Das Volk, Futter für die Könige«, seine Gedichtbände, sein Erzählband »Im Frühling, nach dem Reservedienst« und vor allem sein 1986 zwischenzeitlich verbotenes Theaterstück »Efraim kehrt zurück zur Armee«, das auch den Titel für eines der Kapitel des Romans liefert – ein politisches, beißend gesellschaftskritisches Manifest, eine Parabel auf die (nicht nur biblische) Vertreibung Ismails zugunsten Isaaks und ein bohrender Finger in etlichen der, nur ungern zur Sprache gebrachten, Wunden des israelischen Staates.
Und eine letzte Bemerkung zu einem auffälligen, vom Autor gewählten Stilmittel. Über dem gesamten Roman liegt wie ein Netz eine Vielzahl von Zitaten unterschiedlichster Herkunft (Kierkegaard, Ezra Pound, Nietzsche, Euripides, Celan), die zunächst beinahe abschreckend wirken, sich mit fortschreitender Lektüre – auch wenn der Leser die Mehrzahl von ihnen nicht kennt, nicht identifiziert? – jedoch ohne weiteres in den Erzählfluss einfügen und nicht selten in herrlich groteskem, nachdenklich machendem Widerspruch zur beschriebenen Szenerie stehen. Bei der Übersetzung dieser Stellen dürfte allerdings die tätige Mithilfe des Autors vonnöten sein.