Worum ging es in dem Krieg zwischen uns und den Palästinensern? Es ging um den israelischen Versuch, den letzten Rest von Palästina in vier Kantone aufzuteilen durch Errichtung von »Trennstraßen«, neuen Siedlungen und Grenzkontrollpunkten. Alles andere war Töten, Terror, Ausgangssperre, zerstörte Häuser und Propaganda. Die palästinensischen Kinder leben in Angst und Verzweiflung, ihre Eltern werden vor ihren Augen gedemütigt. Die palästinensische Gesellschaft wird eingeebnet, und die öffentliche Meinung im Westen macht dafür die Opfer verantwortlich – immer der einfachste Weg, dem Horror entgegenzutreten. Ich kenne das: Mein Vater war ein deutscher Jude.
Verheerenderweise ist die israelische Armee das Abbild des Landes. In den Augen der meisten Israeli ist sie ehrlich, makellos; und schlimmer noch: sie scheint über allen politischen Interessen zu stehen. Und sie will - wie jede Armee – den Krieg, zumindest hin und wieder. Aber während in anderen Ländern die militärische Gewalt durch zivile gesellschaftliche Institutionen oder staatliche Einrichtungen, durch Industrie, Banken oder politische Parteien ein Gegengewicht hat, gibt es in Israel keine derartige Balance. Die Armee hat keinen wirklichen Rivalen im Staat, nicht einmal, wenn ihr Vorgehen uns das eigene Leben kostet. (Das Leben der Palästinenser, geschweige denn ihr Wohlergehen und ihre Würde scheinen vom politischen Diskurs ja überhaupt ausgenommen.) Es gibt keinen Zweifel, dass Israels »Politik der Liquidationen«, das Töten von ranghohen Politikern, wie etwa Dr. Thabet Thabet aus Tulkarem oder Abu Ali Mustafa aus Ramallah, oder von sogenannten »Terroristen«, die manchmal erst nach ihrer Eliminierung als solche bezeichnet werden, nur Öl ins Feuer geschüttet hat. Man redet zwar darüber, jedoch hat bisher kein einziger Politiker der Rechten, der Mitte oder sogar der schrumpfenden zionistischen Linken es gewagt, dagegen Stellung zu nehmen. Und trotz kritischer Presseartikel macht die Armee weiterhin, was sie will. Nun haben sie das bekommen, worauf sie wirklich zugesteuert sind: einen massiven Totalangriff auf die West Bank.
Seit dem 11. September sind die Worte »Krieg gegen den Terror« sehr populär geworden, deshalb ist auch alles, was Israel macht, »Krieg gegen den Terror«, sogar die Plünderung des Khalil-Sakakini-Kulturzentrums in Ramallah. Ich bin auch gegen den Terror. Ich will nicht sterben, wenn ich mit meinem Sohn ins Einkaufszentrum gehe. Um genau zu sein: Ich gehe mit ihm überhaupt nicht mehr dorthin. Ich fahre nicht mehr mit dem Bus, und ich habe Angst, dass meine Familie an die Reihe kommen wird, aber ich weiß auch, dass unsere Generäle terroristische Attacken akzeptieren als »angemessenen Preis«, den es zu zahlen gilt, um zu einer Lösung zu gelangen. Was ist aber ihre Lösung? Frieden – natürlich! Frieden zwischen siegreichen Israelis und besiegten Palästinensern.
Die Rücksichtslosigkeit der Armee muss vor dem Hintergrund ihrer Niederlage im Libanon verstanden werden, wo sie nach vielen Jahren, während der sie einen schmutzigen Krieg führte, aus dem Land vertrieben wurde. Der Süden Libanons war verbrannt und zerstört worden von der Artillerie und von einer Luftwaffe, der keine terroristische Organisation hätte trotzen können. Dennoch haben dreihundert Partisanen – oder sollte ich sie »Terroristen« nennen? – uns, das heißt unsere Armee, zweimal vertrieben: Zuerst im Jahre 1985, zurück in die sogenannte »Sicherheitszone« (die ausländische Presse bezeichnete sie als »Israels selbst ernannte Sicherheitszone«); und dann vor zwei Jahren hinaus aus eben dieser Sicherheitszone. Die Generäle, die damals geschlagen wurden, führen auch den gegenwärtigen Krieg. Sie haben Tag für Tag diese Niederlage miterlebt. Und jetzt können sie »denen«, das heißt den Arabern, eine Lektion erteilen. Unsere Helden können bewaffnet mit Flugzeugen, Hubschraubern und Panzern Hunderte von Menschen verhaften, sie hinter Stacheldraht in Lagern gefangen halten, ohne Decken und Unterschlupf, sie können die Verwirrung ausnutzen, um noch mehr Häuser zu zerstören, Bäume fällen und noch mehr Existenzen auslöschen. Der Bulldozer – einst Symbol für den Aufbau eines neuen Landes – ist zum Monster geworden, welches den Panzern nachfolgt, und jeder kann zuschauen, wie eins nach dem anderen ein weiteres Familienhaus verschwindet, eine weitere Zukunft.
Die Israelis sind darauf aus, jeden zu bestrafen, der unser Selbstbild, Opfer zu sein, unterminiert. Niemand darf uns dieses Image wegnehmen, vor allem nicht im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Palästinenser, die einen Krieg gegen »unsere Heimat« führen, das heißt gegen ihre »Nicht-Heimat«. Als ein Minister des Kabinetts einer früheren sozialistischen Republik Yāsir Arafat mit Hitler verglich, wurde ihm applaudiert. Warum? Weil das die Art und Weise ist, wie die Welt uns sehen soll, auferstanden aus der Asche. Darum lieben wir Claude Lanzmanns Shoah (und noch mehr seinen ekelhaften Film über die Armee) und darum lieben wir Schindlers Liste. Erzähl uns noch mehr über uns selbst als Opfer, und warum uns jede Gräueltat, die wir begehen, vergeben werden muss. Wie meine gute Freundin Tanya Reinhart geschrieben hat, scheint das, was wir von der Erinnerung an den Holocaust verinnerlicht haben, die Tatsache zu sein, dass alles Böse, dessen Ausmaß geringer ist, akzeptabel sei.
Aber das »Böse der Vergangenheit« dringt auf ganz spezielle Weise in unser gegenwärtiges Leben ein. Am 25. Januar, drei Monate bevor die Armee grünes Licht zur Invasion der West Bank bekam, zitierte Amir Oren, angesehener Militär-Kommentator der Ha’aretz, einen ranghohen Offizier:
»Um den nächsten Feldzug richtig vorzubereiten, sagte vor Kurzem ein israelischer Offizier in den Territorien, sei es gerechtfertigt, ja geradezu notwendig, von jeder nur möglichen Quelle zu lernen. Wenn das Ziel also darin besteht, ein stark besiedeltes Flüchtlingslager zu besetzen, oder die Kasbah in Nablus einzunehmen, und wenn es die Pflicht des Offiziers sei, diesen Auftrag möglichst ohne Opfer auf beiden Seiten durchzuführen, dann müsse er zunächst die Erfahrungen früherer Kämpfe analysieren und verinnerlichen, sogar – wie schockierend das auch immer klingen mag – sogar das Vorgehen der deutschen Armee im Warschauer Ghetto.«
Der Offizier hat es tatsächlich geschafft zu schockieren, nicht zuletzt deshalb, weil er nicht der Einzige ist, der diesem Ansatz folgt. Viele seiner Kameraden stimmen überein, dass es, wenn man Israel jetzt noch retten will, durchaus legitim ist, auch Wissen zu benutzen, welches aus diesem schrecklichen Krieg hervorgegangen ist, und dessen Opfer die eigenen Verwandten gewesen sind.
Israel hat vielleicht keine koloniale Vergangenheit, aber auch wir haben unsere bösen Erinnerungen. Erklärt das, warum israelische Soldaten Identitätsnummern auf palästinensische Arme stempelten? Oder warum der vor Kurzem begangene Holocaust-Tag einen lächerlichen Vergleich zog zwischen denen von uns, die im belagerten Warschauer Ghetto waren, und denen von uns, die das Flüchtlingslager Jenin umstellten?
Die Befriedigung über den »Sieg« in Jenin war Teil dieser permanenten Lüge. Ungefähr zwanzig israelische Soldaten (die meisten von ihnen Reservisten) starben bei einem Feldzug, von dem angenommen wurde, dass er keine Opfer fordern würde, aber die Verteidiger des Lagers waren nur mit Gewehren und Granaten ausgestattet gewesen. Auf israelischer Seite dagegen waren, wie üblich, Spezialeinheiten im Einsatz, die von einer Gasse in die nächste vorrückten, unterstützt von einer unbemannten Drohne, einem Aufklärungsflugzeug, welches die Kommandeure mit detaillierten Informationen versorgte. Als auch das nicht funktionierte, wurde das Lager mit Granaten beschossen und dann kamen US-amerikanische Apaches zum Einsatz, um Häuser samt Dutzenden (oder Hunderten) von Bewohnern darin zu zerstören. War es ein Massaker? Wie immer in unserem korrupten Leben: es kommt auf die Anzahl der Toten an. Zehn tote Israelis sind ein Massaker, fünfzig Palästinenser lohnen das Zählen nicht.
Die Zerstörung des Lagers – sei sie nun spontan oder vorsätzlich eingeleitet worden von Sharon & Co – reflektiert die Entschlossenheit der älteren Offiziere, ihren Militärdienst mit einer wirklichen Errungenschaft zu beenden: mit der Eliminierung der palästinensischen nationalen Bewegung unter dem Deckmantel des »Kriegs gegen den Terror«. Aber so wird der Terror niemals besiegt, im Gegenteil. Eine Nation zu versklaven, sie in die Knie zu zwingen, funktioniert einfach nicht. Es hat noch nie funktioniert. Die lange Belagerung der Geburtskirche in Bethlehem hat bewiesen, dass die Bezeichnung »israelischer General« nicht mehr einen Mann meint, der imstande ist, strategisch zu denken. Israelische Generäle mögen einige schwierige Schlachten geschlagen haben in den Jahren 1967, 1973 oder sogar 1982, aber in Bethlehem haben sie zweihundert junge Palästinenser für mehr als drei Wochen eingekesselt, und haben der ganzen Welt ihre Verbohrtheit und sinnlose Grausamkeit gezeigt. Wieso, könnten Sie fragen, folgt eine so wenig unterwürfige Nation wie Israel so töricht einem höheren Kommando?
Im Folgenden vielleicht der Ansatz einer Antwort auf diese Frage. Während noch die Leichen in Jenin verrotteten, und kleine Kinder nach etwas Essen und nach ihren vermissten Eltern suchend umherliefen, als noch die letzten der Verwundeten verbluteten, und die Armee verhinderte, dass Hilfsgruppen und UNO-Vertreter das Lager betreten durften (was gab es zu verbergen?), da gab das Bildungsministerium eine Anweisung an alle Schulen heraus, dass die Kinder Pakete für die Soldaten mitbringen sollten. »Das Wichtigste«, sagte der Lehrer meines siebenjährigen Sohnes, »ist ein Brief an die Soldaten«. Hunderttausende Kinder schrieben solche Briefe, als der Krieg gegen eine zivile Bevölkerung gerade auf einem Höhepunkt stand, unter der kritischen Beobachtung durch alle Medien der Welt. Man stelle sich nur die Ideologie vor, nach der diese Kinder sich in Zukunft orientieren werden. Das ist nur ein Aspekt unserer oppositionsfreien Gesellschaft.
Das israelische »Imaginaire« gründet vor allem auf dem Glauben an die israelische Vormachtstellung. Wenn ein grausames Selbstmordattentat in einem Hotel in Netanja passiert, antworten wir darauf mit einem noch größeren Gegenschlag, mit einem terroristischen Anschlag wiederum auf sie, egal, ob das den Tod und Hunger von zwei Millionen Menschen nach sich zieht, die mit dem Terrorakt nichts zu tun hatten, egal, ob das tausend weitere Märtyrer dazu veranlasst, sich gemeinsam mit ihren Opfern in die Luft zu jagen. Die militärische Logik hinter diesem Verhalten besagt: »Wir haben die Macht und wir müssen sie einsetzen, sonst ist unsere Existenz bedroht.« Aber die einzige Gefahr wäre, den Palästinensern gegenüberzutreten. Gaskammern sind nicht die einzige Möglichkeit, eine Nation auszulöschen. Es reicht aus, ihr soziales Gewebe zu zerstören, Dutzende von Dörfern verhungern zu lassen oder eine hohe Kindersterblichkeitsrate zu verursachen. Die West Bank macht eine GAZA-isierung durch. Bitte zucken Sie nicht mit den Achseln. Eine Möglichkeit, die dazu beitragen könnte, den allgemeinen Konsensus in Israel zu verändern, wäre verstärkter Druck des westlichen Europa, von dem die israelische Elite in mehrfacher Hinsicht abhängig ist.
London Review of Books, 9.5.2002