Bill Moody lädt mich zu seinem allwöchentlichen Auftritt als Jazzschlagzeuger in Crockett ein. Dort könne ich ihn dann auch mit Fragen zur Übersetzung seines ersten Romans aus der Evan-Horne-Reihe, dem vorliegenden Solo Hand, löchern, verspricht er.
An einem Sonntagnachmittag fahre ich aus dem neblig kühlen San Francisco über die Bay Bridge nach Berkeley, von da auf dem Highway 80 weiter nach Norden. Mit jeder Meile, die ich mich vom Pazifik entferne, wird es heißer und trockener. Direkt hinter den Türmen einer Raffinerie kommt die Abfahrt Crockett, ein Dreitausenddreihundert-Seelen-Dorf mitten in den gelb verbrannten Hügeln Nordkaliforniens. Eine ewig lange, geschwungene Abfahrt, vorbei an der riesigen Zuckerfabrik der California & Hawaiian Sugar Company. Kaum ist man auf der Hauptstraße, ist das Dorf auch schon wieder vorbei. Doch der Valona Market Delicatessen ist nicht zu verfehlen. Bill Moody steht davor, raucht und weigert sich, beim kalifornischen Gesundheits- und Political-Correctness-Fanatismus mitzumachen. Drinnen gibt es eine Sandwichtheke, eine Wand voller Kühlschränke, Sierra Nevada-, Guiness- und Newcastle-Bier vom Fass. Ich bestelle mir ein Bier und ein Reuben-Sandwich – »Saurkraut, Corned Beef, Swiss Cheese, 1000 Island Dressing on grilled rye, 5.50 Dollar«. Der enorm sympathische Laden, in dem sich jeden Sonntag halb Crockett zum Jazzkonzert einfindet, gehört Nicky, der Frau des Pianisten. Sie und ihr Mann wurden Anfang der Siebzigerjahre wie viele Hippies aus Haight-Ashbury durch Zeitungsanzeigen – »Cheap rent. No police« – hierher gelockt und sind geblieben. Und nun wird hier seit acht Jahren jeden Sonntag gejammt. Die Musiker, die mit ihrem Vibrafon, ihrer Trompete oder Geige erscheinen, sind zumeist ältere Herrschaften, die Atmosphäre ist entspannt und familiär, jeder kennt jeden. Wenn der Laden ein bisschen düsterer und der Raum ein bisschen verqualmter wäre, könnte man sich in die Anfangszeiten des Jazz irgendwo in den Südstaaten zurückversetzt fühlen.
Bill Moody verlässt seit Jahren jeden Sonntag seine Autorenklause in einem kleinen Ort am Russian River nördlich von San Francisco, um hier Schlagzeug zu spielen. Vor seiner Karriere als Schriftsteller reiste er als Jazzmusiker um die Welt. Er verlegte sich mehr oder minder gezwungenermaßen aufs Schreiben, als er des beschwerlichen Lebens »on the road« überdrüssig wurde. Moody spielte viele Jahre lang professionell Schlagzeug, anfangs, als er aus der U.S. Airforce kam, auch mal für eine südkalifornische Surfband. Doch im Grunde hatte ihn der Rock’n’Roll schon immer kaltgelassen, selbst als Jugendlicher interessierten ihn die Jazz- und Rhythm-’n’-Blues-Platten seiner Mutter mehr als Elvis. Das Trommeln für die Surfrocker wurde ihm schnell zu langweilig, und er spielte im Laufe seiner Karriere für viele sehr gute Jazzmusiker wie Maynard Ferguson, Jon Hendricks und Annie Ross und später Earl »Fatha« Hines.
Nach Europa verschlug es ihn 1967, wo er vom Gustav Brom Jazz Orchester in Brno in der Tschechischen Republik gefragt wurde, ob er zwei Wochen lang bei Auftritten während des Prager Jazzfestivals aushelfen könne. Aus den zwei Wochen wurden drei, dann vier Wochen, schließlich ein ganzes Jahr. In dieser Zeit bereiste er als einziger Amerikaner mit der Band die Sowjetunion und die DDR. Zu den Auftritten beim (West-)Berliner Jazzfest musste er jeden Abend über den Checkpoint Charlie in sein Hotel im Ostteil der Stadt zurückkehren.
Das Ende des Prager Frühlings 1968 überraschte ihn auf einem Wochenendausflug nach London – im Fernsehen sah er die Sowjetpanzer in Prag einrollen, und es dauerte Monate, bis er zu seinem Schlagzeug und seiner Wohnung in Brno zurückkehren konnte. Mit Maynard Ferguson kam Moody noch einmal zum Prager Jazzfestival zurück, doch in dem dramatisch verschlechterten politischen und kulturellen Klima ließ es sich dort nicht mehr leben, und man konnte keine Musik mehr machen. Drei Jahre war er in Europa gewesen, hatte mit Peter Herbolzheimer bei einer Theaterproduktion in Hamburg gespielt und bei Lou Rawls’ Deutschlandtournee ausgeholfen. Als Rawls ihn als festes Bandmitglied anheuerte, kehrte er in die USA zurück, wo er mehrere Jahre lang mit ihm unterwegs war. Sie spielten in den großen Hotels amerikanischer Städte, in Las Vegas, in Japan und Australien.
Der afroamerikanische Jazzsänger Lou Rawls diente in Ansätzen als Vorbild für die Figur des Lonnie Cole. Ähnlich wie Cole im vorliegenden Roman war auch Rawls ein sehr begabter und eigenwilliger Vokalist, der nach dem Wechsel des Plattenlabels und des Produzenten zum Popstar und Allround-Entertainer umgemodelt werde sollte. Wie Cole wurde auch Rawls von seinem Manager überzeugt, dass seine Texte und sein Sound zu anspruchsvoll und zu wenig teenagergerecht seien – bis Lou Rawls zwar leicht zu vermarkten war, aber seine Chance, ein wichtiger Jazzsänger zu werden, vertan hatte. Die weiteren unglücklichen Verwicklungen des Lonnie Cole sind natürlich frei erfunden.
Als Vorbild für die sympathische Hauptfigur der Evan-Horne-Serie hat Moody vor allem Bill Evans im Sinn gehabt, einen der ganz großen lyrischen Jazzpianisten der Sechzigerjahre. Der Ausverkauf der Kunstform Jazz an den Kommerz, der im Zentrum von Solo Hand steht, ist eines von Moodys Lieblingsthemen, das ihm die Zornesröte ins Gesicht steigen lässt. Oder wie er es in seiner typischen Art ausdrückt: »Je größer das Publikum, das man mit einer Musik zu erreichen versucht, desto verwässerter das Ergebnis – wie soll man einen guten Hamburger braten, wenn man acht Millionen Stück davon herstellt?«
Moody spielte und spielt Bebop, Neobop, Postbop, wie immer man es nennen will. Er ist dem Sound der Fünfziger- und Sechzigerjahre in vieler Hinsicht treu geblieben. Ihm ist das Wichtigste am Jazz das Improvisieren – es ist das Größte, in einem Club auf der Bühne vor dem Publikum zu stehen, mit anderen guten Musikern live zusammen zu spielen und gemeinsam aus dem Gerüst des Songs, der Harmonie, der Melodie und der Akkordfolgen Improvisationen zu entwickeln.
Das Schreiben seiner Romane empfindet er in vieler Hinsicht als vergleichbar. Er beginnt mit einer Grundstruktur und einigen grundlegenden Einfällen zur Handlung, doch von da an überlässt er sich der freien Improvisation – auch er weiß am Anfang noch nicht, wohin ihn seine Figuren führen werden. Das Live-Publikum vermisst er dabei nicht allzu sehr. Er schreibt die Bücher, die er selbst gerne lesen würde, hier kann er über Jazz und die Jazzszene schreiben, von Musikern erzählen, die vielen Leuten unbekannt sind, und hoffentlich informieren, ohne in irgendeiner Art und Weise belehrend zu wirken. Diese Begeisterung des Insiders, der Blick von der Bühne aus, ist es auch, der seine Bücher für sämtliche Leserinnen und Leser so spannend macht – Jazzfans werden viele geliebte Musiker und Themen wiederfinden, Nicht-Eingeweihte bekommen ein gutes Gefühl dafür, warum Jazz so faszinierend ist.
Nicht nur in Solo Hand schöpft Moody aus den eigenen Erfahrungen als Jazzmusiker. Death of a Tenor Man, der zweite Band der Reihe, spielt in Las Vegas, wo er zwanzig Jahre lang gelebt und als Musiker in den großen Kasinos und später als Dozent an der Universität gearbeitet hat. Evan Horne untersucht den Tod des fünfundzwanzigjährigen schwarzen Tenorsaxofonisten Wardell Grey, der 1955 im Moulin Rouge, dem ersten schwarz-weiß-gemischten Casino in Las Vegas, auftrat und kurz danach tot aufgefunden wurde – eine in Jazzkreisen weithin bekannte Legende, über die aber noch nie jemand geschrieben hat. Basierend auf diesem Roman hat Moody ein Drehbuch verfasst, dessen Verfilmung mit dem Regisseur Steve Jones derzeit anläuft. In Bird lives!, dem vierten Band, knöpft Moody sich wieder das Thema der Kommerzialisierung des Jazz vor: Eine Serie von Mordfällen schreckt L. A. auf, bei denen Musiker ermordet aufgefunden werden, die dem reinen Jazz abgeschworen und sich dem Geldverdienen mit verwässerter Mainstream-Musik hingegeben haben. Im fünften Band der Reihe, den er gerade abgeschlossen hat, steht Chet Bakers mysteriöser Tod durch den Sturz aus einem Fenster des ersten Stocks eines Hotels in Amsterdam im Mittelpunkt.
San Francisco, Oktober 2000