Yasmina Khadra ist das Pseudonym des algerischen Autors Mohammed Moulessehoul. Der Offizier a. D. ist Verfasser zahlreicher Romane und einer Autobiografie. Seit Ende 2000 lebt er mit seiner Familie im Exil in Frankreich. Mit seiner Trilogie um den Kommissar Brahim Llob (Morituri, Doppelweiß und Herbst der Chimären) gelangte er zu internationalem Ruhm. Llob ist aber nicht nur Protagonist Khadras, der mit der Aufklärung einer Reihe von Kriminalfällen zu tun hat, Llob ist ebenso Sprachrohr für den Autor, der hingebungsvoll sein Land beschreibt, ein magisches Land (wie Khadra bemerkt), dessen Volk gegenüber seiner Herrscher in Lethargie und Ohnmacht versinkt. In seinem letzten Roman Wovon die Wölfe träumen (Aufbau Verlag) befasst sich Khadra mit dem »unbeschreiblichen« Prozess des jungen Algeriers Nafa Wallid, der in die innere Gedankenwelt des Islamismus gerät und diese für sich annimmt.
In diesem Interview spricht der Autor darüber, wie er das »Unbeschreibliche« in Worte fassen konnte. Khadra gibt hier seinen Einblick in die algerische Tragödie wieder und skizziert dabei politische Szenarien für Europa.
Wenn man Ihre Bücher liest, fällt einem als Erstes die Sprache auf. Einerseits ist Ihr Erzählstil stark metaphorisch, beinahe blumig, andererseits findet man immer wieder die Sprache der Straße in Ihren Büchern, eine grobe, direkte, ja brutale Sprache. Ein Stil, der nicht häufig zu finden ist.
Ich glaube, dass ich einen besonderen Stil habe, selbst für Algerier. Es ist ein neuer Stil, von dem man nicht sagen kann, dass man ihn jeden Tag in der literarischen Landschaft finden kann. Ich glaube, dass meine Art, die Dinge zu sehen, mich von meiner eigenen Komplexität entbindet. Ich war Soldat und bin jetzt Schriftsteller. Wenn es mir gelungen ist, diese beiden extrem gegensätzlichen Persönlichkeiten miteinander zu vereinen, kommt vielleicht genau das in meiner Schreiberei zum Ausdruck. Wenn ich schreibe, gut, dann bin ich Schriftsteller. Wenn es darum geht, eine Sache vorzustellen, oder zu beschreiben, oder poetisch zu sein - sofern es die Situation verlangt – und ich denke, gerade dann übergebe ich das Wort an meine Charaktere. Und jeder von ihnen hat seine eigene Sprache, nicht meine. Ich bin also demokratisch in meinen Texten.
Inwieweit beeinflusst die arabische Sprache Ihren Schreibstil, zum Beispiel die häufigen Metaphern?
Ach ja, ich denke, dass wir in der arabischen Literatur immer schon ähnlich wie Landschaftsmaler gearbeitet haben. Im Geist reflektiert man vor allem in Bildern. Ein Porträt erzählt mehr oder beschreibt ein Unglück besser, als Wörter es könnten. Deshalb ist eine Verbindung beider Ausdrucksmittel nur vernünftig. Gerade für uns arabische Poeten, denn für uns war es schon immer sehr schwierig, Tabus zu brechen, insbesondere wenn es um die Könige oder Monarchien ging. Wir wählten kleine Umwege oder verhüllten unsere Kritik in Bildern. Es war eine Unterwanderung der Realität, die uns erlaubte, unsere Ansichten zu äußern, ohne große Risiken fürchten zu müssen. Aber im Laufe der Zeit hat sich diese Technik in der arabischen Literatur weiter entwickelt und sich mit der modernen Literatur von heute verflochten. Was, wie ich finde, der arabischen Literatur sehr zugute kommt, und, um noch mal auf meinen Stil zurückzukommen, ein Stil ist, der die Araber genauso wie auch die Franzosen verblüfft.
Ach wirklich?
Ja, ich habe nie ein Studium der arabischen Literatur absolviert. Ich bin Autodidakt. Meine Lehrer waren die Schriftsteller, die ich gelesen habe, ihre Bücher, meine ich natürlich, nicht sie selbst. Und bei ihnen habe ich gelernt, dass jedem Brauch ein Ritus zugeordnet ist und jeder Mythologie ein Gott. Aber ich habe genauso die russische oder amerikanische Literatur gelesen, oder auch die Deutschen oder Franzosen und das alles hat meinen Stil geprägt, und Yasmina Khadra, was er heute ist, geformt und mitbestimmt.
Heute schreiben Sie Romane und auch Kriminalromane. Warum haben Sie sich irgendwann für die Form des Kriminalromans entschieden?
Eigentlich habe nicht ich mich für den Kriminalroman entschieden, vielmehr hat er sich für mich entschieden. Das war nach einem Schock. Einmal gab es einen Bombenanschlag auf einem Friedhof. Ich war von den Folgen derart schockiert, weil sich viele Kinder in der Trauergruppe befanden und getötet wurden. Dieses Attentat hat mich so sehr getroffen, dass ich praktisch einen Monat lang in einer Art Koma, einer Art Katalepsie, schwebte, an dessen Ende ich mich mit einem Krimi in meinen Händen wiederfand. Es war das passendste Genre für mich, alle Traumata loszuwerden, die während des Krieges in mir gewachsen sind. Um die Situation in Algerien zu beschreiben, hatte ich zuerst mal klassische Romane geschrieben. Aber für die ersten beiden Bücher habe ich keinen französischen Verleger gefunden, das heißt, ich hatte einen Verleger, aber der wollte mir so viele Einschränkungen aufzwingen, dass ich ihm absagte. Die Krimis hingegen fanden sofort großen Anklang, vor allem in Frankreich.
Vielleicht wegen der großen Tradition, die Krimis in Frankreich haben?
Nein, eher nicht. Ich habe wahrscheinlich eine sachgemäßere pädagogische Form gefunden, die Tragödie meines Landes zu erzählen, ohne dabei den Leser zu traumatisieren.
… der sich häufig die Frage stellt, inwieweit die Figuren Ihrer Bücher Ihrem realen Leben entstammen.
Sagen wir zu hundert Prozent wahrscheinlich.
Zu hundert Prozent??
Ja, zu hundert Prozent, denn nehmen wir Nafa Walid aus Wovon die Wölfe träumen: Nafa Walid ist der Prototyp für die Mehrheit der algerischen Jugend, die sich schon morgen mit einem Fuß in der Schlinge der Islamisten wiederfindet. (Khadra verwendet hier den Begriff Integristen, nicht Islamisten. Ein Begriff, der in Algerien ein abwertender Begriff für Islamiten ist. Ich habe ihn frei mit dem Wort Islamisten übersetzt. Das Wort Integristen wird bewusst als Provokation ihrer Gegner gebraucht, Anm. des Interviewers.) Man darf nicht glauben, dass die Islamisten eingefleischte Barbaren und Kriminelle sind. Sie sind genauso bewunderungswürdige, junge Menschen, wie die Jugendlichen in Deutschland. Sie hatten Träume und Sehnsüchte und ein »normales« Leben, aber im Laufe der Zeit entwickeln sich viele Jugendliche dahin, dass sie bereit sind, ihrem Nachbarn Unrecht anzutun … Bis sie dann irgendwann im Herzen eines Albtraums aufwachen, mit einer Axt oder einer Pistole in der Hand und töten. Diese Entwicklung wollte ich in Wovon die Wölfe träumen aufzeigen. Übrigens müsste es ein für einen Abendländer unerlässliches Buch sein, denn es behandelt die Frage, die heute im Abendland immer wieder gestellt wird: Was geht im Kopf eines Islamisten vor sich? Ich spreche nicht von Attentaten, und auch nicht von den Forderungen der Islamisten, sondern vom Islamist selbst, wie er in seinem Kopf funktioniert. Um zu verstehen, was wirklich relevant ist, muss man erst einmal verstehen, wer diese Forderungen stellt.
Ich stelle mir vor, dass es sehr schwer sein muss, derartige Entwicklungen eines fremden Menschen zu verstehen.
Wissen Sie, in Algerien gibt es nicht das, was man bei Ihnen Psychologie nennt. Es gibt keine niedergelassenen Psychotherapeuten. In gewisser Weise ist man sich selbst überlassen, und wenn man einen Fehler macht, erkennt man ihn nicht, denn man hat weder die Mittel, noch die Reife, einen Fehler zu erkennen. Und ich hatte, im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern, die unglückliche Möglichkeit, im Krieg zu dienen, und dadurch in ein Umfeld getaucht worden zu sein, sozusagen mitten im Herzen des Problems zu stehen, welches mir die Möglichkeit eröffnete, den Islamisten sehr nahezukommen. Im Krieg habe ich mit ihnen gesprochen, ihnen zugehört, ihre Verzweiflung erlebt. Das machte es mir wiederum möglich, in ihre Köpfe einzudringen. Das heißt nicht, dass die anderen Schriftsteller so etwas nicht wiedergeben könnten, aber sie hatten nicht den Zugang, den ich hatte, um dieses Phänomen besser zu verstehen.
Wo wir bei einem sehr interessanten Punkt sind: Ihr Leben beim algerischen Militär. Welche Kompromisse mussten Sie in Ihrer militärischen Laufbahn eingehen? Zum Beispiel hinsichtlich der ›Konservativen‹ und der Dialogisten?
Ich glaube, dass das ein riesiges Trugbild ist. In der algerischen Armee gibt es weder Konservative noch Dialogisten. Algerien hat eine Armee, die einem inkompetenten politischen System dient. Und dieses politische System hat außeralgerische Interessen. Dieses politische System hat nie irgendeine Form der Opposition zugelassen. Also hat sich die Armee instrumentalisiert, und dann, als die Politiker die Armee vollkommen im Stich gelassen haben, war das Militär ganz auf sich selbst gestellt. Die Armee wünscht sich vielmehr als die Politiker das Ende des Krieges. Es ist die Armee, die in diesem Krieg engagiert ist, leidet, Verluste hinnimmt und jeden Tag Albträume erleben muss. Diese Ausdrücke, Konservative und Dialogisten, sind eine große Lüge, die von einem einfachen Trugbild der Medien herführt. Ich habe in dieser Armee gelebt und ich versichere Ihnen, dass wir es verdammt eilig haben, diesen Krieg zu beenden.
Das ist klar, aber mit Kompromissen meinte ich eher Situationen, die nur mit Ja oder Nein gelöst werden können, Situationen, in denen Sie sich fragen mussten, was mache ich jetzt, wie entscheide ich mich …
So gibt es das eher nicht! Es gibt täglich Attentate, täglich Gewalttaten, und täglich gibt es Zusammenkünfte der Islamisten, die sich nur treffen, um irgendwelche Massaker zu planen. Und auf der anderen Seite gibt es jeden Tag militärische Operationen gegen die Islamisten. Die wirklichen Mörder sind einzig die Islamisten. In den Jahren 1990 bis 1994 haben sich viele Dinge im Bereich des Islamismus (wieder ist Integrismus gemeint) ereignet. Es gab Attentate, zielgerichtete Morde, Menschen wurden nach einer Liste eliminiert. Diese Menschen wurden vielleicht nur deswegen beseitigt, weil sie Werte vertraten, die mit den Ideen ihrer Politiker nicht übereinstimmten. Man kann nicht behaupten, dass kollektive Massaker angeordnet wurden! Es liegt doch auf der Hand, was los ist: denn nur ein Islamist ist dazu fähig, ein Baby zu töten.
Mmh …
Und wenn man ein Kleinkind auf dem Gewissen hat, ist es praktisch unmöglich für den Mörder, sich in die Gesellschaft wieder einzugliedern und ein »normales« Leben aufzunehmen. Verstehen Sie? Es ist doch die unerbittliche Art, die Morde der Islamisten, die den Alltag bestimmen.
Sie, als Mitglied des Militärs, sagen also: »Ich erledige meinen Job, oder …«
Es ist nicht mal unser Job! Wissen Sie, die Militärs denken nicht, jetzt muss ich professionell reagieren, denn sie werden ja bedroht. Als die Islamisten ihren Krieg ausriefen, haben sie ganz klar gesagt: Jeder, der eine Uniform trägt, wird exekutiert, also das Militär, die Polizisten, die Agenten und sogar die Briefträger sind in den Augen der Islamisten zum Tode verurteilt. Diese Drohung hat das Militär völlig in die Enge getrieben. Und dann kam es auch so. Am Anfang des Krieges wurden hauptsächlich die Militärs getötet. Und dann folgten nach und nach die Intellektuellen, die Beamten und schließlich die Politiker. Es gab demnach Prioritäten. Dieser Umstand, der die Armee vor vollendete Tatsachen stellte, ließ keinen Verhandlungsspielraum zu, es blieb der Armee nichts anderes, als sich zu wehren.
Dann will ich jetzt über das Mittelmeer, auf die andere Seite wechseln. Sie leben heute mit Ihrer Familie in Frankreich. Sie sind algerischer Ex-Militär und ein bekannter Autor in der arabischen Gemeinde, sowie in Europa …
Und langsam auch in den Vereinigten Staaten von Amerika! Die Medien dort interessieren sich allmählich für mich. Es gab schon mal in der New York Times und im Guardian Artikel über mich. Zwei meiner Bücher sind ins Amerikanische übersetzt. Eins ist vergriffen, weil es vor zwei Jahren auf den Markt kam. Und Wovon die Wölfe träumen erscheint demnächst.
Gratulation.
Danke.
Beschreiben Sie doch Ihre Situation in Frankreich.
Meine Situation ist äußerst schwierig. Die Mehrheit der Franzosen glaubt an mein Talent und an meine Aufrichtigkeit. Für die Menschen allerdings, und ich verstehe sie ganz gut, bleibe ich einfach nur eine Medienidee, ein außergewöhnlicher Fall, einzigartig. Manchmal bin ich dazu geneigt, ihnen dafür zu verzeihen. Wäre ich nicht so isoliert, hätte ich die Courage oder Nachsicht, ihnen zu verzeihen, aber momentan bin ich sehr frustriert. Ich versuche einfach nur verständnisvoll zu sein, und die Menschen kapieren nicht, wie sie mich nehmen sollen. Verstehen Sie? Die Menschen haben Angst, sich in mir zu täuschen. Sie engagieren sich nicht oder, besser gesagt, helfen mir nicht. Noch vor einigen Jahren war ich es ihnen nicht Wert und in einigen Monaten stellen sie fest, dass ich ihrer Hilfe nicht würdig war. Sie sind in einer Erwartungshaltung. Verstehen Sie? Es gibt nur sehr einseitige Beziehungen mit Algerien. Frankreich unterhält nur sporadisch Beziehungen zu Algerien. Und die Algerier haben gelernt, den Franzosen zu misstrauen. Die Algerier werden weiterhin den Franzosen was vormachen. Und weil ich ein Algerier bin, werde ich mit allen Anderen in einen Topf geworfen. Wir Algerier waren es doch zu keinem Zeitpunkt wert, unterstützt zu werden oder Anteilnahme für unseren Sache zu erhalten. Und ich muss all das akzeptieren, aber ich bin optimistisch, weil ich davon überzeugt bin, dass ich mit dem letzten Buch auf einiges Unbeschreibliches aufmerksam mache. Und jetzt muss ich nur noch beweisen, dass ich nichts weiter als ein Schriftsteller bin.
Welche Rolle denken Sie nimmt Algerien in Europa und in der algerischen Gemeinschaft in Frankreich ein?
Seit dem 11. September haben sich viele Dinge in Europa geändert, in den USA und in Asien, aber nichts hat sich in Algerien geändert. Auf eine gewisse Weise wird dadurch meine Frustration bestätigt. Wir hätten gerne gesehen, dass sich, nach diesem eklatanten Beispiel, welches die Gefährlichkeit der Islamisten demonstriert hat, das Augenmerk auch ein wenig auf die algerische Tragödie richtet, aber das Abendland scheint zu ignorieren, dass Algerien darum kämpft, sich vor ihnen zu schützen. Außerdem übersieht man häufig, wie sehr sich Algerien bei diesem Kampf auch für Europa einsetzt. Stellen wir uns doch mal für einen Moment vor, dass Algerien die Hauptbasis für die Islamisten wird. Sehen Sie ihren Handlungsradius? Die Manövrierfähigkeit, die dieser Basis geboten wäre. Europa ist nur einen Katzensprung entfernt, es wäre also einfach zu unterwandern, wenn es sich gegen den islamistischen Einfluss nicht wehrt. Ein Land wie Algerien ist von seiner geostrategischen Lage bestens geeignet. Algerien ist die Tür nach Afrika. Algerien liegt im Zentrum des Maghreb-Raums und gleichzeitig öffnet es sich nach Europa. Ich glaube, dass unser Land sehr gut vertuschen kann. Bei den Taliban ist ihre Schuld bewiesen. Sie haben in den Augen des Abendlandes für einen Moment lang die schockierendste und frustrierendste Form von Barbarie verkörpert, aber das ist nichts im Vergleich mit der G.I.A. (Groupe Islamique Armé, Bewaffnete Islamische Gruppe) in Algerien, und auf die guckt niemand. Ist Algerien nicht besonders gut im Vertuschen? Es unterdrückt sein Volk, das im Stillen leidet und in totaler Gleichgültigkeit versinkt.
Wie arbeitet die G.I.A. denn genau? Agieren sie auch schon in Frankreich?
Ja, selbstverständlich. Die G.I.A. hat überall Verbindungen. Seit dem 11. September hat sich Europa darum bemüht, seine inneren Angelegenheiten besser zu organisieren, vor allem hinsichtlich der Netzwerke der Islamisten. Vor einigen Jahren konnten sie noch völlig frei agieren, aber jetzt hat Europa entdeckt, dass diese Bewegung sehr unangenehm ist. Und die Islamisten richten sich gegen die Länder, die sie aufnehmen und schützen. Es sind Männer, die keine Skrupel kennen. Sie schrecken vor nichts zurück. Und sie sehen in dir, selbst wenn du ein Freund von ihnen bist, selbst wenn du sie ständig unterstützt, in ihren Augen bleibst du immer einer aus dem Abendland. Du bist ein Christ und daher ein traditioneller Feind des Islam. Verstehen Sie? Und in Algerien warten wir die ganze Zeit, dass sich das Abendland ein wenig ändert und hinsieht, unter wem ein so magisches Land wie Algerien untergeht.
Was halten Sie davon, einen Gedenktag zum Ende des Algerienkriegs in Frankreich einzuführen?
Es kommt auf die Absichten an. Welche Symbolik will man diesem Tag verleihen? Wenn dieser Gedenktag erreicht, dass die beiden Länder, die Krieg gegeneinander geführt haben, und dadurch entsetzliche Einschnitte hinnehmen mussten, näherbringt, ist das gut. Wenn dieser Gedenktag bewirkt, dass die beiden Länder sich erinnern, in engerer Verbindung zu stehen, und die Feinde von gestern einander näherzubringen, dann ist das gut. Aber wenn dieser Gedenktag nichts anderes bewirkt, als in alten Wunden herumzustochern und jeden an seine Fehler zu erinnern, dann hilft er nichts. Ich beobachte natürlich die Debatte, die darüber gerade in Frankreich geführt wird. Frankreich hat den Mut, sich diesem Krieg zu stellen, der das Land während der Jahre zugrunde gerichtet hat, und Frankreich schreibt sich in dieser Debatte immer die Schuld zu. Nun, heute geht es nicht darum, die Schuld zu beleuchten, sondern vielmehr darum, Aufklärung zu betreiben, ganz ohne Schuldgefühle, denn in diesem Krieg waren beide Seiten ungerecht. Die F.L.N. (Front de Libération Nationale, Nationale Befreiungsfront) war nicht zimperlich mit der französischen Armee und diese nicht mit dem algerischen Volk. Deshalb sollte man die Geschichte nicht vergessen. Dieser Krieg, der eine Monstrosität war, sollte uns eine Lehre sein und uns heute wieder näherbringen.
Ich bin deshalb auf diesen Punkt gekommen, weil die Presse den Franzosen ab und zu vorwirft, allzu locker ihre Vergangenheit zu bewältigen.
Ja … Es ist äußerst schwierig, als Teil seiner Geschichte zu leben. Ich glaube, dass gerade die Deutschen gut verstehen, Geschichte zu leben. Aber, Dinge sind nun mal passiert und man kann sie nicht reparieren. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Und es bleibt immer ein wichtiger Punkt, dass die fürchterlichen Tragödien der Geschichte dazu dienen, die zukünftigen Generationen davor zu bewahren, in die gleiche Falle zu treten. Man sollte deshalb die Geschichte eher als etwas Lehrreiches betrachten als als etwas Nostalgisches. Die Geschichte sollte eine Projektion für die Zukunft sein, keine verhängnisvolle Rückkehr in die Vergangenheit.
Ein guter Aspekt. Zum Schluss möchte ich noch mal auf Sie zu sprechen kommen. Wann waren Sie das letzte Mal in Algerien?
Ich war im letzten Sommer dort, aber ich bin nicht zu mir nach Hause gefahren. Ich musste bei meinen Eltern wohnen. Das heißt aber nicht, dass ich mich sehr stark bedroht gefühlt habe. Ich musste nur einige Vorsichtsmaßnahmen treffen. Ich lehne es ab, mit der Angst im Nacken zu leben. Niemand hat gefragt, als ich zu schreiben begann. Ich wollte einfach nur berichten und meine Sicht der Dinge erzählen, die vielleicht am nächsten an der Realität ist. Ich übernehme die Verantwortung dafür und verbiete mir selbst, Angst zu haben, weil die Angst ist der Lebensraum für den Terrorismus. Man sollte ausgeglichen sein. Und man sollte zum Ziel haben, mit seiner Verantwortung leben zu lernen und nicht mit den Risiken, die das Leben mit sich bringt.
Aber sensibilisiert Angst nicht auch?
Ja, aber die Kraft, die dahinter steckt, immer wach und aufmerksam zu sein, bringt das Risiko mit sich, dass es umkippt und man dann in Paranoia verfällt. Und das akzeptiere ich nicht. Ich weiß, was ein normales Leben ist, und ich führe ja auch ein normales Leben. Und kaum einer fühlt mit mir mit. Ich hätte am liebsten, dass man mich als Schriftsteller beurteilt, nicht als lebende Bedrohung … (zu sich) Nein. Ich will einfach nur, dass man meine Bücher nach den literarischen Qualitäten beurteilt. Ich habe doch nicht das Mitleid der anderen nötigt. (Lacht)
Das Interview wurde von Roland Oßwald geführt. Der Verlag dankt Roland Oßwald für die Überlassung dieses Interviews.