Das Examen ist vorbei. Stolz empfange ich das Diplom. Die Vorsteherin versucht, mich für das Schwesternheim zu gewinnen.
»Wir haben jetzt fünfundzwanzig Schwestern bei uns. Fast jede bewohnt ein eigenes Zimmer. Bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit sind Sie gesichert. Wir bezahlen fünfzig Franken monatlich und für jeden Arbeitstag fünfzig Rappen extra. Sie können sich nirgends besser stellen.«
Ich denke an die Arbeitslosigkeit nach Verlassen der Schwesternschule, und ich denke an meine Mutter. So wähle ich den Weg der sicheren Existenz und des geringeren Widerstandes und trete in das Heim ein.
Meine erste Privatpflege übe ich bei einem Securitaswächter aus. Er leidet an einer starken Influenza mit Begleiterscheinungen. Niemand weiß, wie man die Krankheit nennen soll. Sie zeigt ein völlig unbekanntes Bild. Ich schlafe im Zimmer des Patienten. Wenn ich mich morgens und abends wasche, dreht er sich rücksichtsvoll gegen die Wand. Bald geht es ihm besser, sodass seine Frau die Pflege wieder übernehmen kann.
Im Heim wird mir sofort eine neue Adresse übergeben und die Zeit der Abfahrt des Zuges ins Oberland mitgeteilt. Noch am gleichen Abend reise ich dorthin. Ich komme gerade zum Nachtessen. Zwölf Coiffeurgehilfen und zwei Coiffeusen sitzen um einen langen Tisch und essen eine dicke Kartoffelsuppe. Die Frau des Meisters leidet auch an der unbekannten Krankheit, von der sie sich aber bald erholt. Ihr Mann zeigt mir seine Schatzkammer, in der er für tausende von Franken Parfümerien gehamstert hat. Seine habgierigen Äuglein leuchten und sein selbstzufriedener Mund lächelt: »Damit werde ich noch ein Vermögen verdienen – ich habe jedes Fläschchen im Gedächtnis. Wenn es einer wagt, mir das Kleinste zu stehlen, werde ich es sofort merken.«
Ich gehe täglich mit der Patientin spazieren, habe wenig zu tun und werde unruhig. Das Anerbieten der Familie, ganz bei ihr zu bleiben, schlage ich ab und reise zurück ins Heim.
Eine gebildete, musikalische Pflegerin wird verlangt. Die Vorsteherin schickt, wer ihr zur Verfügung steht. »Wenn Ihre Pflege nicht streng war, können Sie gleich fahren«, schlägt sie mir vor.
Ich frage mich im Dörfchen nach dem Chalet des lungenkranken Deutschen durch. Seine Frau ist für drei Wochen verreist. Ein einheimisches Mädchen macht die Haushaltung. Die Pflegerin soll dem Patienten angenehme Unterhaltung verschaffen.
Das Chalet liegt etwas abseits von der Dorfstraße und ist von einem großen Garten umgeben. Drei Wochen sitze ich hier herum. Ich spiele kein Instrument, habe auch keine hervorragende Bildung genossen. So bin ich den Anforderungen nicht gewachsen und weiß mit dem anspruchsvollen Patienten nichts anzufangen. Trübe vergeht die Zeit. Die strahlenden Sommertage scheinen nicht für uns zu gelten. Da wird die Ankunft der Frau gemeldet. Ich bin erlöst. Die quälende Unruhe verebbt. Befreit vom Drucke singe ich in den Tag hinein und lache über die Worte des Patienten: »Sie sind mir ein Rätsel, Schwester. Ich erkenne Sie nicht mehr. Warum sind Sie nicht die ganze Zeit so fröhlich gewesen? Wie anders wären dann die drei Wochen vergangen …« Was kann ich ihm von meiner Unruhe, meinen unbewussten Wünschen erzählen?
Die unbekannte Krankheit hat einen Namen erhalten: Grippe. In der Stadt komme ich in einer Kaufmannsfamilie gerade noch recht, dem Vater die Augen zuzudrücken. Dann verbarrikadiere ich mich mit den zwei kranken Kindern in einem Zimmer und werde selber krank. Meine Fieber steigen auf vierzig Grad, und der Arzt rät: »Sie müssen sich ablösen lassen.«
»Das wird nicht gehen, Herr Doktor. Ich werde keine Ablösung bekommen. Wer wird die Kleinen pflegen? Ich will mich schonen, so gut ich kann.«
Und ich pflege die Kinder und mich gesund.
Trotzdem ich nach dem zehrenden Fieber müde bin, drängt es mich wieder fort. Die Leute wollen mich noch nicht gehen lassen, doch in meiner Unruhe gebe ich zur Antwort: »Es gibt jetzt so viel Kranke, dass wir Pflegerinnen nur so lange bleiben können, als es unbedingt notwendig ist.«
Die nächste Adresse weist mich zu einer Arztfamilie. Die Frau und das Dienstmädchen sind krank. Die Mutter wurde gerufen, damit sie mich beobachte und darüber wache, dass dem kleinen Säugling nichts Schlimmes geschehe. Misstrauen tritt mir entgegen – das Herumstehen der kritisierenden Dame, die sich zu vornehm fühlt, um mitzuhelfen, regt mich auf. Sie hindert mich am freien Arbeiten. Da kommt der Arzt, der mich bei den Kaufmannskindern behandelt hat und begrüßt mich herzlich: »Guten Tag, Schwester Lisa, so, Sie sind da? Na, Frau Doktor«, wendet er sich dann zur Patientin, »da haben Sie aber Glück gehabt«.
Das Misstrauen ist verschwunden. Die alte Dame reist ab. Die Pflege wird ersprießlich.
Langsam führt mich der Zug zu neuer Arbeit. An jeder Station werden Milchkannen verladen. Eine Unendlichkeit dauert es, bis wir die paar Kilometer durchfahren haben und mein Bestimmungsort erreicht ist.
Ein Landarzt ringt mit dem Tode: »Schwesterchen, Sie können mir nichts vormachen. Sehen Sie die Flecken an meinen Schenkeln. Sehen Sie meine blauen Finger, meine blauen Lippen – Als Assistent hatte ich einst große Träume. Nun sterbe ich als einfacher Landarzt. Mein einziges bleibendes Werk ist das hiesige Krankenhaus.« Nachts steht er auf und deliriert: »Diese verdammten Mäuse muss ich erwischen, diese fatale Brut – da, da, ich werde euch schon kriegen –« Er zielt auf meine Jacke mit den weißen Knöpfen. Er ist ein großer, stämmiger Mann mittleren Alters. Ich bin allein mit ihm, aber es glückt mir immer wieder, den Aufgeregten zu beruhigen und ins Bett zu bringen. Der Krankheitsprozess geht rasch vor sich. Bald liegt der Mann bewusstlos da. Bei jedem Atemzug spritzen blutige, schäumende Bläschen aus Mund und Nase über sein Bett und meine Kleider. Ich schütze mein Gesicht mit einer Tüllmaske. Ein entsetzlicher Verwesungsgeruch verpestet das Zimmer, sodass ich beständig vom Bett zum offenen Fenster gehe, um frische Luft zu schöpfen. Die Nächte sind schon empfindlich kalt, und es friert mich. Die Familie hat sich ganz zurückgezogen. Niemand wagt sich in die Ansteckungsgefahr. Eine Ablösung ist für mich nirgends zu finden. So schlafe ich Nächte lang nicht, bis mich endlich der eintretende Tod des Arztes von meiner Pflicht erlöst. Beim Abschied rühmt die Arztwitwe: »Sie sind ein Genie der Krankenpflege.« Ich gehe über das Lob hinweg und habe nicht einmal ein konventionelles Lächeln dafür.
Im Schwesternheim muss ich das kranke Dienstmädchen ersetzen: Zimmer und Treppenhaus kehren, das Essen im nahen Spital holen, Geschirr spülen und Botengänge verrichten. Die Extrazulage für meine Dienstmädchentage fällt aus. Wohl empöre ich mich innerlich über diese Ungerechtigkeit, habe aber nicht den Mut, zu reklamieren.
Nach diesem Intermezzo geht es weiter zu einer reichen Witwe außerhalb der Stadt. Ein Arzt hat mich ihr empfohlen. Nun hat sie zehn Tage auf mich gewartet. Sie wollte keine andere Pflegerin und ist allein gesund geworden.
Ich schlafe mit ihr im selben Zimmer, das zu ebener Erde liegt, und von dem zwei Stufen hinab zum großen Garten führen. Die Rollläden der Türe bleiben nachts zehn Zentimeter offen, damit die Katzen ungehindert durchgehen können. Sie kommen unaufhörlich, eine um die andere, vom Garten in das Zimmer, auf unsere Betten und bringen ihre gefangenen Mäuse. Manchmal leben die kleinen Tierchen noch und schlüpfen unter unsere Decken. Dann schreit die Rekonvaleszentin auf. Vielleicht sind das die einzigen Unannehmlichkeiten, die ihrem eintönigen Leben einen gewissen aufregenden Reiz geben. Mich reut der fortwährend gestörte Schlaf. Das Ganze widert mich an. Die blutigen Gedärme der ermordeten Tierchen, die am Morgen überall herumliegen, verursachen mir Ekel. Außer den Katzen, von denen sie mehrere Porträts malen ließ, hat die Frau die Ambition, teure Liköre und Parfümerien zu sammeln. Ihre Kästen und Truhen sind voll davon. Das Leben an der Seite dieser Drohne wird mir zur Qual. Aber alle meine Versuche, loszukommen, scheitern an ihrem Eigensinn. Sie hat zehn Tage auf mich gewartet, nun sollen auch andere auf mich warten.
Die Grippe greift immer mehr um sich. Wir Pflegerinnen bleiben keine Stunde im Heim. Oft kommen wir zwischen zwei Pflegen nicht einmal nach Hause. Telefonisch erhalten wir die nächste Adresse. Ich sitze bei der lungenkranken Frau eines bekannten Professors. Sie fürchtet sich unendlich vor der Grippe. Sie ängstigt sich auch, dass ihre Wohnung zum Teil beschlagnahmt werde. Die Wohnungsnot zwingt die Stadt, gewisse Maßnahmen zu ergreifen. »Ich könnte es nicht ertragen, fremde Menschen neben mir zu hören«, klagt sie. Ich verstehe, sie fühlt wie alle Lungenkranken das Damoklesschwert über sich und hat keinen Mut mehr, sich in einen Zwang zu finden. Sie war früher auch Pflegerin und kennt die Verhältnisse. Sie rät mir: »Machen Sie sich doch selbstständig. Gerade jetzt in der Grippezeit ist es günstig, anzufangen. Sie werden bekannt und verdienen gut. Hier arbeiten Sie nur für das Heim, ich kenne das.«
Ich muss ihr recht geben. Alles Unzufriedene, Unruhige stachelt sie in mir auf. Die Preise der Waren und Lebensmittel steigen fast täglich, aber unser Lohn ist derselbe geblieben. Ich muss ein Paar Schuhe kaufen. Sie kosten fünfzig Franken. Mein ganzer Monatslohn geht drauf. Womit soll ich meine Mutter unterstützen? Wohl bekommen wir für jeden Arbeitstag fünfzig Rappen extra. Das Heim aber verlangt acht Franken Taggeld für eine Pflegerin. Wir sind fünfundzwanzig Heimschwestern, die Tag und Nacht arbeiten und nicht fragen, wohin die 25 mal 7.50 Franken täglich verschwinden.
Die Unzufriedenheit ist in mir wach. Aber der Strudel der Arbeit reißt mich fort. Der gut gemeinte Rat der lungenkranken Kollegin bleibt unbefolgt. Aus Mangel an Entschlossenheit oder wegen zu großer Ermüdung treibe ich im gleichen Fahrwasser weiter.
Ich arbeite seit einiger Zeit an der Universitätspoliklinik. Wir sind drei Schwestern, die jede in ihrem Stadtteil die Patienten zu besuchen hat. Am Morgen ist Sprechstunde. Da ist immer großer Betrieb. Wir haben viel zu helfen und zu ordnen, sodass wir selten am Morgen schon wegkommen. Aber sobald wie möglich gehen wir, jede mit ihrer Tasche am Arm, in unsere Quartiere. Alkohol, Watte, Spritze, alles, was wir brauchen, schleppen wir täglich mit. Treppauf, treppab, in die elendesten Wohnungen führt uns unsere Pflicht. Die Grippe wütet unheimlich. Ganze Familien liegen krank. Wohnungen werden zu Lazaretten. Die Nachbarn helfen einander, bis sie selber krank sind. Samariter und freiwillige Helfer werden aufgeboten. Sie pflegen den ganzen Tag und wohl auch manche Nacht. So können wir Schwestern ruhiger weitergehen, durchs ganze Quartier, von einem Haus zum andern.
Krankheit, Not und Elend grinsen uns überall entgegen. Auf der Straße bittet mich eine alte Frau: »Kommen Sie einmal mit hinauf, ich glaube, der Albertli nebenan ist krank.« Sie führt mich in ein muffiges Zimmer. Auf einer schmutzigen, verwanzten Matratze ohne Bettzeug winselt zusammengekauert ein sechsjähriger Knabe. Aus seinem Ohr fließt Blut und Eiter. »Sein Vater trinkt, er ist selten zu Hause«, erklärt die Alte. Ich überlege, was sich für den Kleinen tun lässt. Dann telefoniere ich einem Arzt, dass er ihn in einem Spital unterbringe.
Aus einer armseligen, feuchten Wohnung unten am Fluss jagt mich eine verzweifelte Mutter fort: »Gehen Sie, Sie brauchen nicht mehr zu kommen. Ich lasse meinem Sohn keine Einspritzungen mehr machen.« Ich versuche etwas einzuwenden, aber sie schiebt mich hinaus: »Nein, nein, das gibt es nicht mehr. Ich lasse mir den Sohn nicht mit Euern Einspritzungen töten.« Drinnen im Zimmer höre ich das schwere Atmen des Fiebernden, zu dem mich meine Pflicht drängt. Aber die verzweifelte Mutter stößt mich hinaus. Sie will allein um das Leben ihres Sohnes ringen. Sie hat kein Vertrauen mehr zu uns, weil es dem Kranken täglich schlechter geht. Arme Mutter, wird deine Liebe stärker sein als der grausame Tod?
In einem Hause sind fast alle Bewohner krank. Sie helfen sich, wie sie können; eine Samariterin kocht für alle. Hier erntet der Tod unbarmherzig. Ein Grauen erfasst die Lebenden. Der Schmerz um die Toten ist unheimlich still.
Ein Vater atmet keuchend mit kranker Lunge. Blau und entsetzt sitzt er auf dem Bettrand und fleht: »Wenn nur die Mutter wieder gesund wird, dass sie bei den Kindern bleiben kann.« Still liegt die Mutter im Bett. Ein müdes Lächeln huscht ihr um den Mund: »Vater, wir werden schon beide durchkommen.«
Aber in der Nacht sieht der Vater, eine Stunde vor seinem Tode, die Mutter der Kinder sterben … was soll ich mit den Kleinen beginnen? Fiebrig heiß liegen die drei verwaisten Würmer in einem Bett. Den Verwandten schreiben? Der Gemeinde berichten? Wer findet die Zeit dazu? …
Andere Kranke, anderes Elend rufen mich. Ich steige in diesem Totenhaus hinauf bis in die Dachwohnung. Gestern habe ich veranlasst, dass die junge Frau ins Hilfsspital kommt. Der Mann jammerte: »Ein halbes Jahr sind wir glücklich verheiratet, nun wird sie mir weggenommen.« Er war verzweifelt, aber dann hoffte er doch, dass sie im Spital mit dem Kind im Leibe schneller gesunde. Nun will ich sehen, was er macht. Sobald er mich erblickt, schreit er auf: »So, nun weiß ich es. Es ist also wahr.« Wahnsinniger Schmerz steht in seinen Augen. »Guter Mann, was meinen Sie denn? Ich komme nur zu sehen, wie es Ihnen geht.« Er sitzt am Bettrand, den Kopf in die Hände gestützt. Leise berühre ich seine Haare: »Glauben Sie denn, dass es schlimm steht um Ihre Frau?«
»Jetzt, wo Sie kommen, weiß ich es. Sie wollen es mir nur nicht sagen.«
Ich versuche ihn zu beruhigen: »Nein, nein, lieber Mann, ich weiß nichts. Kommen Sie doch mit, dann können Sie sich selber überzeugen, dass es Ihrer Frau gutgeht.« Aber im Hilfsspital kann er seiner Gattin nur noch die Augen zudrücken. Man hat keine Zeit gehabt, ihn zu benachrichtigen.
Unheimlich ist die Stadt, voll Sterbender und Toter. Glaube ich einmal abends spät zur Ruhe zu kommen, klingelt das Telefon wieder und die Vorsteherin ruft: »Schwester Lisa, Ihr Quartier.« Gewitzigt durch die Erfahrungen, nehme ich heißen Tee oder Kaffee mit. Ich komme in so einsame, kalte Löcher und Dachkammern, wo kein Tropfen Wasser für die Fiebernden zu finden ist. Mit meinen Utensilien eile ich durch die Nacht und suche in den dunklen Straßen mit meiner Taschenlaterne die verwitterten Hausnummern. Oft begegne ich dem Securitaswächter, den ich zuerst gepflegt habe. Von Weitem tönen unsere Schritte uns entgegen und die Taschenlaternen leuchten auf. Dann kommt er mit seinem Hund freudig auf mich zu und begleitet mich, bis ich das Haus gefunden habe. Immer wieder beginnt er von seiner überstandenen Krankheit zu sprechen: »Nicht wahr, Schwester, das war auch Grippe? Damals wusste man es noch nicht. Ich war also gewissermaßen der Erste?« Das sagt er fast mit Stolz. Ich freue mich immer, wenn ich ihn oder seine Kollegen treffe. Sie sind gesunde Menschen, sonst besteht die Welt für mich nur noch aus Tod und Sterben.
Bis ein Uhr nachts bin ich bei einem alten Manne in einer trostlosen Dachkammer. Der Arzt hatte angeordnet, den Kranken etwas auszuschälen, damit er ihn am Morgen besser untersuchen könne. Der Mann trägt sechs Hemden und drei Paar Unterhosen auf sich. Offenbar sein ganzer Reichtum. Aber ich wage kein Stück von seinem im Fieber erschauernden Körper zu ziehen. Eisigkalt pfeift der Wind durch die Ritzen, kein Ofen ist da, um etwas Wärme zu geben. Gierig schlürft der Alte meinen heißen Tee. Dadurch wird er munterer. Er erzählt mir: »Als Geigenvirtuose bin ich in den größten Varietés der Welt aufgetreten. Das war ein anderes Leben als jetzt.« Es beruhigt mich, dass ich ihn zum Plaudern habe bringen können. So wage ich zu gehen und verspreche, am Morgen früh wieder zu kommen. Aber am Morgen braucht er mich nicht mehr. Der Tod hat ihn zu Boden geworfen, als er sich etwas holen wollte.
Die Grippe lässt kein Organ unangetastet. In Nase, Lunge, Gedärme, Gehirn nistet sie sich ein und zerstört sie. Im dunklen, mit Läden verschlossenen Zimmer sind alle Möbel ausgeräumt. Nur eine Matratze liegt am Boden. Es ist eine improvisierte Tobzelle für den Sohn der Fabrikarbeiterfamilie, dessen Gehirn von der Grippe zerstört ist. Die große Familie hat sich in den übrigen zwei Zimmern und der Küche verstaut und wartet, bis der Kranke in einer Heilanstalt Unterkunft findet. Die Leute helfen sich, wie sie können und tragen ihr Unglück, wie es geht. Mich aber erwarten sie immer mit Ungeduld; denn meine Tasche birgt die beruhigende Spritze, die das Schreien und Toben des Geisteskranken besänftigt.
Eines Tages sagt der Assistent zu mir: »Schwester, es ist besser, wenn Sie sich für ein paar Tage bei Meiers in der Jurastraße nicht mehr blicken lassen. Der Mann ist furchtbar empört über Sie.«
»Was ist denn los?«
»Ich denke mir schon, dass Sie es nicht so gemeint haben, wie es nun diese Leute auffassen. Der Mann sagt, die junge Geckin habe ihnen nicht zu befehlen, wie viel Kinder sie haben können. Er meint, wenn Sie ihm unter die Augen kommen, wolle er Ihnen schon … na, es ist also besser, Sie lassen sich vorderhand nicht mehr blicken dort.« Die Sache quält und beschäftigt mich. Ich rufe mir die Situation in Erinnerung: Die hochschwangere, lungenkranke Frau lag mit einer leichten Grippe im Bett. Sie war allein und klagte mir unter Schluchzen, wie schwer es sei, wieder ein Kind zu tragen. Der Lohn des Mannes reiche für die drei lebenden schon nirgends hin. – Hatte ich nicht die richtigen Worte gefunden, um sie zu trösten? Sie hat mir doch so leidgetan. Und ich hatte es bestimmt nicht bös gemeint, als ich ihr erwiderte: »Warum kann Ihr Mann nicht dafür sorgen, dass keine Kinder mehr kommen?«
War die arme Frau verletzt, dass sie es dem Manne klagte? Was hätte ich ihr sonst antworten können? Ich habe ja keine Erfahrungen. Ich weiß noch nicht, dass diese Frage für die Proleten ein zweischneidiges Schwert sein kann.
Unsinniges System, das die Pflegerin, die Beraterin der Armen zwingt, im Zölibat zu leben!
Revolution in Russland, Aufstände in Deutschland, Generalstreik in der Schweiz. Wer ist es, der die Welt aus den Fugen bringt? Ich höre sagen: das Volk. Die Arbeiter sind nicht mehr zufrieden. Sie wollen mehr Lohn und kürzere Arbeitszeit. Sonderbare Menschen, diese Arbeiter, die alles drunter und drüber bringen und einfach streiken. Einfach nicht mehr arbeiten, aber dafür Demonstrationen machen, dass die Soldaten aufrücken müssen, um Ordnung zu schaffen. Und dies alles in einer solchen Zeit. Während einer so jammervollen, todbringenden Epidemie …
Wir können nicht mehr Tram fahren. Die Wagen stehen in den Depots. Wir bekommen auch keine Taxi und keine Droschken mehr. Alles streikt. Müde schleppen wir uns in die Außenquartiere. Lang sind die Straßen, unendlich lang. Die Patienten sterben uns weg, ehe wir bei ihnen angelangt sind. Soldaten und Maschinengewehre stehen überall umher. Singende Demonstrationszüge ziehen durch die Straßen. Vom Brunnen herunter wird gesprochen. Aber plötzlich reitet Kavallerie in die Menschen hinein, scheucht sie auf und sprengt sie auseinander.
»Warum streikt Ihr?« Ich stelle die Frage einem Arbeiter, und er antwortet mir: »Schwester, verstehen Sie doch, wir haben das Recht zu leben, wie die andern; darum kämpfen wir um bessere Lebensmöglichkeiten. Wir können es nicht mehr zulassen, dass die Herren sich durch uns bereichern. Wir wollen eine sozialistische Gesellschaft erkämpfen, wo es keine Reichen und Armen, keine Herren und Knechte mehr gibt.«
Die Frau unterbricht ihn: »Hör auf, Hans. Hörst du, hör auf. Die Schwester versteht doch nichts von Politik – will sagen, das interessiert sie nicht. Lass sie jetzt gehen. Du sieht doch, sie hat schon den Mantel an.«
Warum hat der Mann so leuchtende Augen, ein so frohes Gesicht? Wie kann er nur begeistert sein, wenn rings der Tod so wütet? Nein, ich habe ihn nicht verstanden. Das ist etwas, das nicht zu mir gehört. Ich habe vergessen, dass ich Tag und Nacht arbeite für einen Monatslohn, der nur für ein Paar Schuhe reicht. Wie kann ich mich auch um solche Dinge kümmern, wenn ich täglich mit den Kranken um ihr Leben ringe.
Müde habe ich mich bis an den Rand der Stadt geschleppt. In einer Dachstube gegenüber der Fabrik kämpft eine Textilarbeiterin um ihr junges Leben. Wild bäumt sich ihr Wille, zu leben, ihr Verlangen, gesund zu sein. »Nein«, schreit sie in wahnsinniger Todesangst, »nein, ich will nicht sterben«.
Aufgeregt geht sie im Zimmer umher. Ihr Atem ist rasch und oberflächlich. Ihre Lippen und Fingernägel sind schon blau.
»Fräulein Müller, ich bitte Sie, der Arzt wird gleich kommen mit dem Sauerstoff. Wir haben nur einen Wagen. In diesem Streik bekommen …« Sie ist plötzlich beruhigt. Still setzt sie sich ins Bett, ringt die Hände, und ihre Lunge pfeift.
»Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt. Da drüben arbeite ich seit drei Jahren. Da hab ich meinen Schatz kennengelernt. Nächsten Monat wollten wir heiraten. Ich war so glücklich.«
Sie wird wieder aufgeregter. »Nun bin ich krank, und er ist nicht da. Beim Militär geben sie ihm keinen Urlaub, dass er zu mir kommen kann. Allein muss ich krepieren … Ich will nicht sterben, will nicht sterben.«
Sie ist wieder aufgestanden. In ihrem lebenshungrigen Kampf gegen den Tod fühlt sie ihre Schwäche nicht. Sie kann kaum mehr atmen. Jedes Wort ringt sie ihrer verpesteten Lunge ab. Endlich kommt der Arzt. Der Sauerstoff bringt ihr etwas Erleichterung. Sie wird zu Ader gelassen. Der Arzt tut, was er kann, um ihr junges Leben zu retten. Aber der Tod ist stärker als alle menschlichen Anstrengungen. Sie stirbt in der Nacht, in den Armen ihrer Schwester.
Die Straßenbahnen fahren wieder. Der Streik ist beendigt, das Militär zurückgezogen. Die Zeitungen melden von den Errungenschaften der Arbeiter. Von der Achtundvierzig-Stunden-Woche, den Teuerungszulagen und besseren Arbeitsbedingungen. Wir Heimschwestern aber gehen nach wie vor vierzehn und sechzehn Stunden treppauf und treppab. Wenn wir müde nach Hause kommen, sitzen wir hungrig vor Kriegsrationen.
Ende des Monats erhalten wir eine Teuerungszulage. Wir unterschreiben auf unsern Lohnquittungen zwanzig Franken mehr und wissen nicht, wer das angeordnet hat.
Das Weltbild hat sich verändert. Die Ordnung ist wieder hergestellt. Die Grippe flaut ab. Der Tod hat seine Blutgelüste befriedigt. Ich bin wieder in Privatpflege. Das rasende Tempo der Epidemie beherrscht mich noch. Sobald ich irgendwo untätig sitze, kommt meine Unruhe wieder. Anders als früher, nimmt sie jetzt bestimmte Formen an. Sie verlangt nach einer Zufluchtsstätte, nach einem Heim, nach dem Manne, bei dem ich Ruhe finden kann.
Wenn ich von einer Pflege zur andern wandere, ständig das gepackte Köfferchen bei mir, nirgends ein Plätzchen, das mir Ruhe und Geborgenheit gibt, immer einsam und fremd unter fremden Menschen, mit einem angelernten Lächeln im Gesicht und der brennenden Unruhe im Herzen, dann ist es mir, wie wenn ich durch Dornen und Gestrüpp gehetzt würde. Mein Mund spricht mechanische Worte, und meine Hände führen automatische Bewegungen aus. Was kann chi den Kranken noch sein, da ich keinen Anteil mehr an ihrem Leben habe?
So schleppe ich mich von einer Pflege zur andern. Die Menschen sind gut zu mir. Die Natur zeigt sich mir im sonnigsten Winterkleide. Aber nichts berührt mich. Kalt und abwesend schreite ich an den freundlichen Menschen und der schönen Natur vorbei. Mein ganzes Wesen ist nur ein Schrei, ein Schrei nach Ruhe und nach Liebe.
Aber für uns erschöpfte Frauen gibt es keine Ruhestätte. Nirgends können wir hingehen und sagen: Bitte, wir sind müde. Nehmt uns auf, bis wir wieder neuen Mut und neue Kräfte geschöpft haben.