Mehr als zwanzig Jahre ist es nun her. Während die Weltgeschichte eine höchst unerwartete Wendung nahm und in der ganzen Welt die Schläge auf die Berliner Mauer widerhallten, erschuf ich die Figur des Mario Conde. Wie bei fast allen Neuschöpfungen (außer bei den ausgesprochen göttlichen) dauerte es einige Wochen, bis ich in der Lage war, die ersten Herzschläge zu verspüren, die der Figur Glaubwürdigkeit verleihen sollten. Herzschläge literarischer, konzeptioneller und biografischer Ansprüche, wie bei jeder Kreatur, die wachsen will, ans Licht will, unter der Sonne wandeln will.
Es war gegen Ende des Jahres 1989, als ich mich mit meiner geliebten Olivetti-Schreibmaschine – dieselbe, die noch mein Vater zum Schreiben seiner Freimaurerdokumente benutzt hat – an die Idee herantastete, aus welcher der Roman Ein perfektes Leben (1991) wurde. Mario Conde war geboren. Es war ein komplexes, schwieriges, auf lange Sicht aber fruchtbares Jahr, ein allzu historisches Jahr, in dessen Verlauf sich zu meiner Verblüffung die Welt und mein Bild von ihr veränderten. Diese äußerlichen aber auch persönlichen Veränderungen bahnten mir den Weg zum Schreiben des Romans, der auch mein Verhältnis zur Literatur verändert hat.
Für mich war 1989 vor allem ein Jahr der Identitäts- und Schaffenskrise. Die politische Unduldsamkeit in all ihren Ausformungen und die Macht, die die bürokratische Mittelmäßigkeit zuweilen auf Menschen und Schicksale ausübt, hatten mich schon seit sechs Jahren dazu verurteilt, für ein Blatt namens Juventud Rebelde (Rebellische Jugend) zu arbeiten, um meine ideologischen Schwächen zu sühnen. So wurde ich zum tagesaktuellen Nachrichtenschreiber. Was von den Herren des Schicksals als Strafe gedacht war, nämlich die Versetzung von einer problematischen Kulturzeitschrift zu einer gnadenlos linientreuen, geradezu proletarischen Tageszeitung, entpuppte sich für mich als das große Los. Denn statt einfach Journalist wurde ich eine Art Vorzeigejournalist, der bewies, was man mit Fantasie und mit dem Willen zur Grenzüberschreitung innerhalb der sehr engen Grenzen der offiziellen kubanischen Presse alles machen konnte. Ich zahlte einen hohen Preis für diesen »neuen« oder »literarischen« kubanischen Journalismus der 1980er-Jahre, der maßgeblich auf mein Konto ging. Aber auf lange Sicht zahlte er sich aus. Seit meinem Erstlingsroman (Fiebre de Caballos, geschrieben 1984, erschienen 1988) und den Erzählungen des Bandes Según pasan los años (1989 erschienen, auch sie ein paar Jahre früher verfasst) hatte ich praktisch nichts mehr geschrieben. Meine Arbeit als Journalist, die ausführlichen Recherchen und die sorgfältige Redaktion von Geschichten, die unter dem Rauschgold der Nationalgeschichte verloren gegangen waren, nahmen mich völlig in Beschlag. Dazu gesellte sich das vergeudete Jahr zwischen 1985 und 1986, in dem ich als Auslandskorrespondent in Angola um mein Leben zittern musste. Lauter Gründe, weshalb der junge Schriftsteller, für den ich mich 1983 hielt, sechs Jahre lang ohne nennenswerte literarische Abstecher als Journalist arbeitete. Und das Motiv für die Krise, in die ich 1989 stürzte und mich entschloss, dem Zeitungsjournalismus Lebewohl zu sagen. Ich brauchte ein Refugium, am besten ein dunkles, wo ich dank Zeit zur richtigen Geistesverfassung und damit zur Literatur zurückfände. Aber wie man weiß, überstürzten sich in diesem Jahr die Ereignisse. Der Sommer war für Kuba ein besonders »heißer« gewesen, weil gleich zwei historische Ereignisse in diese Monate fielen: die Akte 1 & 2/89. Auf deren Grundlage wurden mehrere Befehlshaber der Armee und ranghohe Mitarbeiter des Innenministeriums (das Ministerium selbst musste schließlich auch dran glauben) wegen Korruption, Drogengeschäften und Vaterlandsverrat vor Gericht gestellt, verurteilt und sogar erschossen. Bedeutend waren diese Urteile vor allem wegen des Ausmaßes an Korruption und der offenkundig gewordenen Abgründe, die die scheinbar unerschütterliche politische, militärische und ideologische Struktur Kubas in Wirklichkeit aufwies. Wie sich herausstellte, wimmelte und wimmelt es im Inneren dieses Gebildes nur so von korrupten Generälen, Ministern, Parteimitgliedern (gedacht hatten wir uns das schon) und sogar Drogendealern.
Im Oktober jenes Jahres kam noch ein sehr persönlicher, aber nicht weniger aufregender Grund dazu, der meinen Blick auf die Welt verändert hat – und meine Literatur. Ich reiste zum ersten Mal nach Mexiko, wohin ich kurioserweise zu einem Treffen von Krimiautoren eingeladen worden war, obwohl ich zwar bereits viele Kritiken und Artikel über dieses Genre, aber noch nie einen Kriminalroman geschrieben hatte. In Mexiko feierte ich nicht nur meinen vierunddreißigsten Geburtstag, sondern besuchte zielstrebig jenen symbol- und geschichtsträchtigen Ort, der für die Kubaner meiner Generation ein Buch mit sieben Siegeln war und ein gefährliches Tabu obendrein: das Haus in Coyoacán, in dem der »Abweichler« Leo Trotzki gelebt hatte und ermordet wurde.
Ich erinnere mich noch gut an die Rührung, die ich beim Besuch dieses festungsähnlichen Hauses, inzwischen ein Museum für Asylrecht, mit seinen gefängnisartigen Mauern empfand. Dort also hatte sich einer der Anführer der Oktoberrevolution selbst eingeschlossen, um sich vor Stalins Zorn in Sicherheit zu bringen. Doch Trotzki entging diesem Zorn genauso wenig wie die anderen zwanzig Millionen Sowjetbürger und Tausende von Menschen anderer Nationalitäten. Ja, wir alle hatten das geahnt, ohne aber gesicherte Informationen darüber zu haben. Aber am nachhaltigsten fuhr mir bei diesem Besuch des mausoleumshaften Hauses in die Glieder, dass das Drama, welches sich in dieser düsteren Umgebung abgespielt hatte, mir eine alarmierende Fragestellung einflüsterte: Braucht es erst die Verbrechen, den Betrug, die absolute Macht eines Einzelnen und den Entzug der persönlichen Freiheit, damit wir eines Tages alle Zugang zur so schönen wie utopischen kollektiven Freiheit erlangen können? Wozu können der Glaube an eine Ideologie und der Gehorsam ihr gegenüber einen Menschen treiben? Einige Zeit später habe ich versucht, diese Frage mit meinem Roman Der Mann, der Hunde liebte (2009) zu beantworten, der im Grunde Leo Trotzki und seinem Mörder Ramón Mercader gewidmet ist. Kurz nach diesem lehrreichen und einschneidenden Besuch, wieder zurück in Kuba, erfuhren wir das Unfassbare. Nie hätte ich das einen Monat früher im Hause Trotzkis, dieser Stätte des stalinistischen Triumphs, zu träumen gewagt: Friedlich und in einer Art Freudenfest der Freiheit hatten die Deutschen physisch und politisch die Berliner Mauer niedergerissen und proklamierten – wie erst danach klar wurde – das Ende des europäischen Sozialismus.
Das Zusammentreffen dieser Ereignisse gestaltete mein Leben in vieler Hinsicht eher unsicherer als sicherer. Doch ohne sie hätte ich mich vermutlich nie der Herausforderung – an meine literarischen Fähigkeiten und an mein Umfeld – meines ersten Kriminalromans gestellt, dessen erste Absätze ich in den letzten Wochen des Jahres 1989 schrieb.
Zum Glück konnte ich schon Anfang 1990 – das historisch nicht weniger bedeutsam als das vorherige Jahr werden sollte – meine Arbeit bei der Zeitung definitiv beenden und wurde Redaktionsleiter der monatlichen Kulturzeitung La Gaceta de Cuba. Diese Stelle erlaubte mir drei bis vier freie Tage pro Woche und es war klar, dass ich diese Zeit meinem Kriminalroman widmen würde.
Einen Krimi zu schreiben, das kann ein rechter Brocken in Sachen Ästhetik, Verantwortung und Komplexität werden. Kein Wunder, bei einem literarischen Genre, das oft und zu Recht als reine Unterhaltungsliteratur angesehen wird. Doch ein Schriftsteller, der einen Kriminalroman schreiben möchte, hat immerhin verschiedene Varianten und künstlerische Wege zur Auswahl, und so wird er sich für diejenigen entscheiden, die ihm am liebsten sind und die seinen Fähigkeiten und seinen Vorsätzen entsprechen. Natürlich kann man zum Beispiel einfach einen Kriminalroman über die Aufdeckung der rätselhaften Identität eines Mörders schreiben. Man kann sich aber auch an die gründliche Erforschung der Umstände (Kontext, Gesellschaft, Zeitgeschichte) eines Attentats machen. Soll der Roman mit einer rein funktionalen Sprache, Struktur und Figuren ausgestattet werden? Oder soll man sich bewusst für einen Stil entscheiden, der über die rein faktische Aufklärung eines Verbrechens hinausgeht, mit psychologisch interessanten, eigenwilligen Charakteren, die für eine bestimmte soziale und historische Wirklichkeit stehen? Und dann kann es passieren – da es ja genauso zulässig ist, mit einem Krimi zu unterhalten und den Leser in die Irre zu führen wie zu ergründen, aufzuklären, zu enthüllen und die Gesellschaft und die Literatur ernst zu nehmen –, dass man am Ende sogar die Aufklärung des Verbrechens vergisst.
Angesichts des bedauernswerten Zustands der kubanischen Kriminalliteratur, die damals beinahe vollständig politisch willfährig und regierungsnah war, verfasst von Amateuren und ohne jede Spur von literarischen Ambitionen, kamen meine kubanischen Kollegen als Vorbilder nicht infrage. Vielmehr halfen sie mir, nicht in dieselbe Falle zu tappen wie sie. Denn es gibt eben auch den literarisch anspruchsvollen, gesellschaftskritischen Kriminalroman, wie ihn andere spanischsprachige Autoren längst vorgelegt haben, etwa Manuel Vázquez Montalbán, den ich bedenkenlos als Vorbild nennen könnte. In meinen Breitengraden wären höchstens die vorsichtigen Experimente Daniel Chavarrías zu erwähnen. Das waren Vorbilder, an denen ich mich messen wollte.
Nachdem ich die Grundzüge für den Plot meines Romans skizziert hatte – das Verschwinden eines scheinbar untadeligen, in Wirklichkeit jedoch absolut korrupten, hohen kubanischen Funktionärs, eines Zynikers und Opportunisten –, stellte sich die Frage nach dem wesentlichen Kniff, von dem letztendlich das Gelingen meines literarisch ambitionierten Unterfangens abhing: eine Figur zu schaffen, die die Geschichte tragen und den Leser für sich einnehmen sollte. Bevor sie mit dem Schreiben beginnen, haben einige Autoren die richtige Erzählstimme für ihren Roman »im Gefühl«. Andere Autoren haben sich schon lange vorab für die passende Erzählperspektive entschieden. Ich muss gestehen, dass es mir schwerfiel, die Erzählstimme zu wählen, für die ich mich letztendlich entschieden habe: eine dritte Person, die aufgrund ihrer Allwissenheit nur der Protagonist des Romans sein konnte, der daher ein aktiv Handelnder und gleichzeitig ein Urteilender und Zeuge der Vorgänge und der Taten des übrigen Romanensembles sein musste. Diese Vorgehensweise schuf außerdem eine Nähe zwischen Autor und Protagonist: Der auktoriale Erzähler wird damit praktisch zu einem versteckten Ich-Erzähler. Dank dieser Nähe konnte ich diese Figur zum Bindeglied zwischen meinen Ideen, Vorlieben und Phobien hinsichtlich sozialer und geistiger Fragen einerseits und der Gesellschaft, der Epoche und dem Umfeld der Figur andererseits machen. In gewisser Weise teilte mein Protagonist meinen Blick auf die Wirklichkeit des Romans, bei der es sich natürlich um die kubanische Wirklichkeit meiner Zeit handelte, meine Wirklichkeit. Seine Allwissenheit (mit gewissen Einschränkungen) bewahrte mich davor, den gleichen Fehler zu begehen wie andere Krimiautoren, einen Fehler, den vor langer Zeit auch schon Raymond Chandler kritisiert hat. Ihre Ich-Erzähler kennen jedes Detail der Geschichte, lassen uns aber, um die Spannung aufrechtzuerhalten, im Ungewissen über die wesentliche Frage, nämlich die, wer der Mörder war. In der Regel kennen wir ihn bereits aus dem Roman, und der Erzähler, ob Polizist, Detektiv oder ein anderer Ermittler, hat ihn schon viele Seiten vor uns ausfindig gemacht.
So musste also die Figur, mit der ich arbeiten wollte und die die konzeptionelle und stilistische Verantwortung für meinen Roman trug, genug Körper und Seele haben, um nicht nur der Dirigent der Geschichte, sondern auch ein angemessener Interpret der besonderen Situation Kubas und Havannas zu werden. Menschliche Züge habe ich ihm durch eine so einfache wie logische Entscheidung verliehen. Der Protagonist des Romans ist ein Mann meines Alters, geboren in einem Viertel wie dem meinen, er hat die gleichen Schulen besucht und daher eine vergleichbare Lebenserfahrung auf dem Buckel wie ich: die des Lebens im Kuba einer Zeit, in der wir alle mehr oder weniger gleich waren. Nun ja – einige waren immer »gleicher« als die anderen.
Dieser »Mann« musste natürlich trotzdem noch ein weiteres Merkmal aufweisen, das rein gar nichts mit mir zu tun hatte und sogar eher abstoßend war: Er musste Polizist sein. Die Glaubwürdigkeit, die nach Chandler das Wesen eines Kriminalromans oder einer beliebigen realitätsnahen Erzählung ausmacht, verlangte das. Denn in Kuba wäre es völlig undenkbar, dass jemand auf eigene Faust Ermittlungen in einem Mordfall anstellt. Auf diese Weise wurde die Nähe zu mir (die mir den Rückgriff auf die Erzählstimme und die autobiografische Komponente erlaubte) durch eine Art zu denken und zu handeln, die ich weder kenne noch schätze, kompensiert und abgeschwächt.
Genau das hatte ich im Sinn, als ich Mario Conde zum Leben erweckte: Ich legte ihn als eine Art Antipolizisten an, einen fiktionalen Polizisten, der allein im literarischen Kontext glaubwürdig erscheint und in der polizeilichen Wirklichkeit Kubas völlig undenkbar wäre. Dieses Spiel lieferte mir die besten Voraussetzungen für meine Rolle als Autor, und ich gedachte, davon zu profitieren.
Dieser literarische Kniff war der Schlüssel, der mir beim Schreiben der ersten Abschnitte von Ein perfektes Leben, in denen der nach durchzechter Nacht furchtbar verkaterte Conde einen Anruf von seinem Vorgesetzten erhält, die Türen öffnete. Ich begann mit der sorgfältigen Konstruktion der Figur Mario Conde. Abgesehen von seinem Hang zum Trinken sollte er ein Liebhaber der Literatur sein, mit ausgesuchten ästhetischen Ansprüchen. Obwohl grundsätzlich Einzelgänger, sollte er zum Ausgleich einer Gruppe von Freunden angehören, in der er menschliche Wärme erleben und einen seiner Grundwerte ausleben konnte: das bedingungslose Pflegen von Freundschaft und Treue. Er sollte ein Nostalgiker sein, intelligent, ironisch, zärtlich, verliebt, frei von hohen materiellen Ansprüchen. Und ein betrogener Ehemann dazu. Und nicht zuletzt sollte er Kriminalinspektor sein und nicht etwa ein Agent der Repression, vor allen Dingen ein Ehrenmann, eine integre Person, wie man in Kuba zu sagen pflegt, von flexibler Moral, aber im Grunde felsenfest.
Beim Auftauchen dieses Antipolizisten in Ein perfektes Leben hätten weder er noch ich uns träumen lassen, dass er einmal der Protagonist einer ganzen Serie von inzwischen sieben Romanen werden würde. Doch seit seinem ersten Seufzer trug er diese Widersprüche in sich, die ich mir literarisch auszufeilen gestattete. Denn im Grunde war Mario Conde nie mit Leib und Seele Polizist: Er war es nur dem Namen nach und ohne große Überzeugung.
Als der Roman 1991 in Mexiko erschien, erhielt ich ein paar Rezensionsexemplare, die ich an Freunde verteilte, und ich durfte feststellen, dass den meisten von ihnen der Roman gefiel und das vor allem wegen der Persönlichkeit seines Protagonisten. Dieser Zuspruch und mein Bedürfnis, dieser Figur mehr Profil zu geben, brachten mich auf die glückliche Idee, gleich drei weitere Romane mit Mario Conde in Angriff zu nehmen, ohne lange darüber nachzudenken, ob mir überhaupt ein zweiter gelingen könnte.
Blicke ich heute nach all den Jahren der Erfahrung als Autor und sieben Romanen darauf zurück, stelle ich fest, dass Mario Condes Entwicklung viel mit meiner eigenen Entwicklung seither zu tun hat. Im ersten Roman Ein perfektes Leben geht Mario Conde noch ganz in seiner Funktion auf, nach meinem Geschmack passt er noch zu sehr in das Raster des Polizisten. Beim zweiten Roman Handel der Gefühle (1994) hatte sein Profil bereits an psychologischer und geistiger Schärfe gewonnen, und ich wusste, dass ich ihn nicht mehr lange als Polizisten würde einsetzten können, nicht einmal als Antipolizisten beziehungsweise literarischen Polizisten, der er war. Die Beziehung zu seiner Umgebung, seinen Freunden, zur Liebe und den Frauen, seine Intelligenz und seine Leidenschaft für die Literatur, seine Unfähigkeit, sich den eisernen Rängen einer militärischen Struktur unterzuordnen und seinen zahlreichen Schwächen – das alles konnte sein Talent als Polizist und Ermittler nicht mehr lange aufwiegen. Nach Handel der Gefühle entwickelte sich die Figur weiter, und zwar in zwei Richtungen, die ich mir anfangs so nicht vorgestellt hatte. Erstens wurde Condes Charakter humaner und vitaler. Zweitens kam er mir näher und ich ihm, so weit, dass Mario Conde nach zwanzig Jahren literarischen Zusammenlebens, wenn nicht zu meinem Alter Ego, dann doch zur Verkörperung meiner Stimme und meinem Blick, überhaupt das Objekt meiner Obsessionen und Fürsorge geworden ist.
Es ist daher kein Zufall, dass Mario Conde nach Labyrinth der Masken und an dem Punkt, an dem er eigentlich in Das Meer der Illusionen, dem letzten Roman der »Jahreszeiten«-Trilogie – der obendrein in jenem entscheidenden Jahr 1989 spielt –, seinen letzten Auftritt haben sollte, den Beruf des Polizisten an den Nagel hängt. Das tut er pünktlich zu seinem Geburtstag, dem 9. Oktober, der nicht zufällig auch meiner ist. Just an diesem Tag wird Havanna von einem Orkan heimgesucht und verwüstet, wie von Mario Conde bestellt, alles, damit in den Ruinen der verdammten Stadt etwas Neues entstehen kann.
Auf der Höhe dieser Verschmelzung von Mario Conde mit seinem Autor realisierte ich, dass es auch andere Wege gab, die Figur aufrechtzuerhalten, selbst als Aufklärer von Verbrechen, ohne dass er ein Angehöriger der Polizei sein musste. Ich beschloss also, Conde zu behalten und suchte ihm eine passendere Stelle. So wurde aus ihm ein Antiquar für Bücher aus zweiter Hand, wie es sie im Zuge der Krise im Kuba der Neunziger immer häufiger gab. Dieser Beruf gestattete der Figur zweierlei: nah am Volk zu sein und dabei gleichzeitig sehr nah an der Literatur. Darüber hinaus machte er in den Romanen Adiós Hemingway (2001) und vor allem in Der Nebel von gestern (2005) einen Zeitsprung, der die Geschichten in meine Gegenwart verlegte (was viel bedeutet in einer Gesellschaft, die so unbeweglich und dann doch wieder so veränderlich ist wie die kubanische) und der Figur dabei mein tatsächliches Alter und meine politischen Überzeugungen verlieh. Das ging so weit, dass er in diesen Romanen an mehr körperlichen Gebrechen und seelischen Enttäuschungen leidet als zur Zeit meiner Arbeit an Ein perfektes Leben, als ich ihm zum ersten Mal Leben einhauchte.
Das Verhältnis zwischen Mario Conde und mir ist im Laufe der Zeit sehr innig geworden, sehr abhängig (von meiner Seite). So sehr, dass ich ihn in Adiós Hemingway mehr als zur Lösung eines Kriminalfalls für die Bewältigung meiner eigenen literarischen und menschlichen Probleme mit diesem nordamerikanischen Autor eingesetzt habe – der mein erstes großes literarisches Vorbild gewesen ist. Und erneut berief ich Mario Conde ein, als es darum ging, durch einen komplexen und ambitionierten Roman zu navigieren, der sich stark von den vorangegangen Conde-Romanen unterscheiden sollte: Ketzer, der zwischen 2010 und 2013 entstanden ist. Darin tritt ein Conde in seinen Mittfünfzigern auf. Ein Conde, der dem in Der Nebel von gestern manchmal sehr und manchmal sehr wenig ähnelt: immer noch ironisch, zärtlich und beharrlich, aber mit mehr Selbstzweifeln, sozialen Frustrationen und politischen Phobien behaftet. Dieser Conde unterstützt mich dabei, eine Geschichte, die zeitlich und dramatisch bis ins Amsterdam des 17. Jahrhunderts zurückreicht, der Zeit von Rembrandt und Spinoza, ins Kuba des 21. Jahrhunderts zu transportieren und drei Jahrhunderte Geschichte zu überbrücken. Eine ihrer wichtigsten Episoden spielt sich im Jahr 1939 ab, am Hafen Havannas. Damals musste die S. S. Saint Louis mit mehreren hundert Juden an Bord nach Europa zurückfahren, weil man den Flüchtlingen die Landung in Kuba verweigerte. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dieser Tragödie tritt Mario Conde auf den Plan, als die Romanfigur Elías Kaminsky, dessen Großeltern damals an Bord der S. S. Saint Louis waren, von New York nach Havanna reist, um herauszufinden, was mit seiner Familie und einem Gemälde von Rembrandt geschah. Dank eines gemeinsamen Bekannten unterstützt Mario Conde Kaminsky bei dessen Nachforschungen. Das besagte Gemälde (eines von Rembrandts Jesusbildern) spielt eine zentrale Rolle in diesem Werk, wobei jedoch sein roter Faden in Wirklichkeit in der folgenden Frage besteht: Welchen Preis ist ein Mensch in verschiedenen, vielleicht in allen, Gesellschaften für seine Freiheit, für die Ausübung seines freien Willens zu zahlen bereit? In unser beider Gegenwart wird Conde zum Beobachter – oder zu einer handelnden Figur – dreier dramatischer Ereignisse, die mit diesem menschlichen Bedürfnis nach Freiheit zu tun haben. Und er nimmt dabei einen menschlichen, philosophischen und historischen Standpunkt ein, wobei er schwer an seinen reiferen Jahren trägt und den Ängsten eines Mannes, der seine Jugend schon fern und das Alter nicht mehr weit weiß.
Der wichtigste Beweis für die Menschlichkeit Condes liegt nicht in seinem Entwicklungspotenzial, sondern außerhalb seiner selbst: darin nämlich, dass zahlreiche Leser sich mit Einem identifizieren können, der eine Zeit lang Polizist war und in seinem Privatleben für alle Zeit ein Versager sein wird. Menschlich im Rahmen der Literatur ist er interessanterweise vor allem deshalb, weil er sich von einer Romanfigur zu einem Menschen gewandelt hat und die Leser daher eine Empathie für diese Figur entwickeln, die sie real (und nicht nur wie einen Abglanz der Wirklichkeit) erscheinen lässt. Wie jemanden mit einem wirklichen Leben, echten Freunden, echten Lieben und einer möglichen Zukunft. Vor allem in Kuba, wo ich nicht nur meine ersten, sondern auch meine treuesten und besessensten Leser habe, hat diese Transformation Mario Condes in Richtung Wirklichkeit und Konkretisierung eines gezeigt: wie weit der Blick dieser Figur auf den kubanischen Kontext, seine Erwartungen, seine Zweifel und Desillusionierung bezüglich der Gesellschaft und des Zeitalters, ein Gefühl widerspiegelt, das im ganzen Land vorherrscht (zumindest bei den Menschen, die all die Jahre in diesem Land gewohnt haben). Die Literatur bietet in diesem Fall Denkprozesse an, die es in der kubanischen Wirklichkeit sonst kaum oder gar nicht gibt. Und mit diesem menschlichen Wesen Mario Conde, einem Vertreter, einem Zeugen und zuweilen einem Opfer dieser Wirklichkeit, identifizieren sich die Leser. Sie brauchen diesen alternativen Blick (der weder offiziell noch optimistisch ist) auf die Gesellschaft, in der sie leben oder vor der sie als verzweifelte Exilanten zuhauf Reißaus nehmen. Ich meine, dass die Fähigkeit Mario Condes, mit mir zusammen zu leben und zu denken, ihn heute und in Zukunft literarisch lebendig hält (und mir weiter dabei helfen wird, ihn noch humaner und lebendiger zu machen). Wenn diese Figur mir in den ersten Romanen dazu diente, nicht nur ein Verbrechen aufzudecken, sondern die Wirklichkeit Havannas und des ganzen Landes abzubilden, hat seine Funktion im Laufe dieser Jahre an Profil und Vielschichtigkeit gewonnen. Er ist dafür zuständig, und mit jedem Mal mehr, die Entwicklung und die verborgenen Seiten dieser Wirklichkeit, in der er und wir uns befinden, zu erhellen: die Wirklichkeit der Jahre, an denen Körper und Geist schwer zu tragen haben, die Wirklichkeit der Jahre, die auf der Insel und auf der Welt vergehen.
Und so standen und stehen die Conde-Geschichten weiterhin mehr oder weniger kriminologisch eingefärbt, aber – im Fall von Der Nebel von gestern und Ketzer – zunehmend soziologisch und reflexiv im Dienst meines Entwurfs einer Chronik des Lebens im modernen Havanna und in Kuba, mit seinen Fort- und Rückschritten. Diese Chronik ist aus meiner Sicht geschrieben, die weder die einzige noch die wesentliche ist, aber meiner Vorstellung von der Wirklichkeit entspricht, in der ich mich täglich bewege.
Doch ich betone, dass diese Figur mit jedem Mal größere Verantwortung zu schultern haben wird. Während er statt meiner und mit mir reift und altert, hat Mario Conde auch die Mission, die Unsicherheiten und Ängste, die meine Generation umtreiben, zu teilen und zu überliefern, in all den Details, in denen sie uns begleiten und auflauern; vom Gefühl des persönlichen Scheiterns, der gesellschaftlichen Frustration, der Unmöglichkeit, in dieser Welt mit ihren besonderen moralischen und wirtschaftlichen Ansprüchen seinen Ort zu finden, bis hin zu den traumatischen Ausdrucksformen der wachsenden Angst vor dem Unausweichlichen: dem Alter und dem Tod.
Mantilla (Havanna), Oktober 2009 bis Juli 2013
Aus dem Spanischen von Karin Betz