Alf Mayer: Sie sind Thrillerautorin. Oder ist das eine Verengung?
Jeong Yu-jeong: Nein gar nicht. Ich denke, es gibt zwei Arten von Roman. Die eine bringt dich zum Nachdenken, die andere verschafft dir Erfahrungen. Romane, die zum Nachdenken bringen, sind philosophisch und eher offen. Für die zweite Art Roman ist es wichtig, dem Leser möglichst nahe zu kommen. Man muss ihn an die Hand nehmen, muss ihn in eine neue, ihm unbekannte Welt führen. Und dann die Tür absperren, damit er nicht entkommen kann. Immer schon wollte ich genau solche Romane schreiben. Bücher, denen man sich nicht entziehen kann. Ich will meine Leser in eine von mir gestaltete Welt holen und dann zu ihnen sagen: »Das ist es, wie ich die Welt, wie ich die Menschheit und wie ich das Leben sehe. Seht ihr das auch so?«
Warum die Form des Thrillers?
Weil der Thriller im Leser die Neugier weckt. Weil er ihn auf eine Reise schickt. Ich mag auch die Angst. Sie ist etwas Produktives. Als ich den Roman Shoot Me in the Heart geschrieben habe (2015 verfilmt von Mun Che- yong, d. Red.), bin ich beinahe ein Jahr lang oft nachts auf Wanderung gegangen. Ich wollte die Psychologie einer blinden Person verstehen. Ich kann Ihnen sagen, es ist schon angsteinflößend, nachts alleine auf einem Friedhof zu sein. Solch ein fröstelndes Gefühl möchte ich meinen Lesern verschaffen. Ich hoffe, meine Bücher haben etwas von dem aufregenden Gefühl, dass einen gerade etwas Kaltes gestreift hat. Oder dass man das Gefühl hat: Da ist jemand hinter mir.
Gibt es ein Rezept für einen Jeong-Thriller?
Es gibt Leute, die sagen, ich sei keine Autorin, die es ihren Lesern leicht macht. Ich verbiege mich auch nicht. Natürlich will ich, dass meine Bücher den Lesern gefallen, aber mein Rezept ist, dass ich selbst damit zufrieden sein muss – also schreibe ich sie letztlich für mich, wenn das nicht zu unhöflich klingt. Ich liebe meine Leser. In Korea habe ich schon in Fußballstadien gelesen. Über zu wenig Fans kann ich mich eigentlich nicht beklagen. (lacht)
Sie haben auch im Ausland Erfolg. Der gute Sohn erscheint, so viel ich weiß, in 18 Ländern. Beeinflusst einen das?
Ich denke nicht an ausländische Leser, wenn ich schreibe. Ich denke nicht einmal an einheimische. Ich erzähle mir selbst eine Geschichte, und ich möchte, dass sie so spannend und »chilly« ist wie nur möglich. Dass einen etwas aus unserem Unbewussten streift, etwas von unserer dunklen, etwas von unserer monströsen Seite.
Sie scheinen eine ziemlich unerschrockene Person zu sein. Zimperlich jedenfalls sind Sie als Autorin nicht. Hat das einen beruflichen Hintergrund?
(Lacht) Ich habe fünf Jahre als Krankenschwester in einer Notaufnahme gearbeitet. Dabei habe ich viel Blut gesehen. Ich denke, dabei hat sich meine Weltsicht ausgeprägt.
Und wie ist die? Kann ich fragen?
Wir leben nah am Tod. Er ist näher als wir denken. Näher, als es uns lieb ist. Aber den Kopf davor in den Sand zu stecken, das hilft nicht. Furcht vor dem Tod ist für mich ein wichtiges Thema. Ich würde ihm gerne ein wenig mehr Poesie geben. Das Schicksal kann gewalttätig sein, seine Macht kann überwältigen. Aber wir haben auch unseren freien Willen, der zeichnet uns Menschen aus. Auch wenn gerade die koreanische Gesellschaft eher Fügung und Passivität erwartet.
Gibt es eigentlich in Südkorea – Stichwort Donald Trump – die Angst vor einem Atomkrieg?
(Lacht) Nein. (Schüttelt den Kopf.) Das sind Mediengespinste. Das ist nicht, was die Menschen fühlen. Wir hoffen auf Wiedervereinigung. Ich bin da eher optimistisch. Sie in Deutschland haben uns das vorgemacht. Ich war schon zweimal in Berlin, ich habe mir Checkpoint Charlie angeschaut. Da spüre ich Emotionen.
Die spürt man auch beim Lesen ihrer Bücher.
Mich interessiert es sehr, wie es in meinen Figuren aussieht. Wie sie »ticken«, was ihre Psychologie ausmacht. Darauf verwende ich viel Arbeit. Ich will sie glaubwürdig. Ich will sie echt. Ich möchte einfach, dass meine Leser umblättern, dass sie neugierig sind auf das, was auf der nächsten Seite passiert. Und auf der übernächsten. Mir ist es wichtig, dass das Tempo nicht nachlässt. Da muss Bewegung sein. Dauernd. Ich bin Extremsportlerin, in meinen Büchern geht es sozusagen bergauf. Ich schicke meine Leser auf eine nicht ganz gewöhnliche Wanderung. Danach darf man schon etwas erschöpft und gerädert sein. Aber man ist ans Ziel gekommen. Man hat etwas erlebt, das man so noch nicht kannte. Das will ich herstellen.
Wie lange schreiben Sie schon?
Ich bin jetzt zehn Jahre Schriftstellerin, habe fünf Bücher veröffentlicht, sitze an meinem sechsten. Aber Schriftstellerin wollte ich schon mit acht oder neun Jahren werden. Meine Großmutter war Geschichtenerzählerin in einem Zirkus. Ich denke, das habe ich von ihr, dass das Erzählen so sehr Spaß macht. Ich bin zum Beispiel gerne ins Kino gegangen und habe danach die Geschichten dann Freunden erzählt.
Freundinnen?
(Lacht) Es waren eher Jungs. Ich war sehr wild als Kind. Der Weg zur Extremsportlerin war nicht weit. Boxen, Klettern, Schwimmen, Wandern. Ich war oft im Himalaya. 2014 habe ich darüber ein Buch gemacht. Der Titel ist sinngemäß Meine fantastischen Wanderungen im Himalaya.
Gibt es eine Thriller-Tradition in Korea?
Wir hatten eher 70 Jahre Dunkelheit, es gibt in dieser Hinsicht keine Tradition. Als Autor schreibt man bei uns lieber erst einmal Literarisches, sonst wird man nie ernstgenommen. Ich liebe Thriller. Ich habe immer schon Stephen King gelesen. Wenn jetzt manche Kritiken sagen, ich sei der koreanische Stephen King, ehrt mich das sehr. Ich denke, das ist ein großes Lob.
Wie arbeiten Sie? Was sind Ihre Methoden?
Sobald ich die Idee für ein Buch habe und ein Exposé schreibe, stürze ich mich in die Recherche. Ich lese Tonnen von Büchern, ich interviewe Leute, ich interessiere mich für Themen. Den Entwurf schreibe ich per Hand, in mein Notizbuch. Allmählich merke ich dann, was mir noch fehlt, und der Prozess geht weiter. Ich setze mich an den Laptop, ich beginne, Szenen zu schreiben, ich erfinde Details, ich mache die Szenen lebendiger und die Charaktere dreidimensionaler. Aber das ist immer noch die Rohfassung. Wenn davon mehr als zehn Prozent überleben und es in den Roman schaffen, halte ich ihn für einen Fehlschlag.
Wirklich? Warum denn das?
Ganz einfach. Ich denke, dass das, was mir zuerst einfällt, ziemlich an der Oberfläche meines Bewusstseins liegt. Also nicht dort, wo ich wirklich kreativ bin. Hier lasse ich mir nichts vormachen. Erst wenn die Oberfläche der Anfangsidee abgekratzt ist, kann die wirkliche Geschichte, die sich dort unten vor mir versteckt, nach oben gelangen. Deshalb schreibe ich wieder und wieder um, verwerfe alles, werfe es weg, schreibe alles wieder neu. Das mache ich mehrmals. Sie können auch sagen, bis zur Erschöpfung (lacht). Zuletzt lese ich das Manuskript von hinten her. Wenn ich 20 Kapitel habe, lese ich von 20 bis 1. Auf diese Weise kann ich die Löcher in der Geschichte aufspüren. Die zu füllen, ist dann mein letzter Job. Von all meinen Romanen ist Der gute Sohn am weitesten vom Anfangsmanuskript entfernt.
Das ist ja auch ein heftiger Stoff. Ein Sohn, der im Blut seiner toten Mutter aufwacht und sofort der Hauptverdächtige wäre, weshalb er den Fall schnell klären muss – und die ganze Zeit weiß er, oder wissen wir Leser nicht, ob er es nicht doch gewesen ist.
Mit Der Gute Sohn war ich schon etwas in Sorge, dass ich mich selbst zu einer Psychopathin entwickeln könnte. Das Buch ist mir selbst unter die Haut gegangen. Ich bin sehr gespannt, wie es in Deutschland aufgenommen wird.
Sie mögen auch Ray Bradbury, habe ich gelesen.
Oh ja. Seine Fantasie ist ziemlich ungezügelt. Ich mag dieses Zitat aus Fahrenheit 451: »Es muss etwas in Büchern geben, das wir uns nicht vorstellen können. Etwas, das eine Frau dazu bringt, in einem brennenden Haus weiterzulesen. Da muss es etwas geben, was wir nicht wissen. Man bleibt nicht für nichts sitzen und liest und liest.« – Diese Art Bücher möchte ich schreiben.
Dieses Interview erschien zuerst in den Literaturnachrichten 4/2018 der LitProm, anlässlich »Global Crime«.