1979 war ein Jahr großer Nervosität, die vom islamischen Westasien ausging und auf andere Teile der Welt ansteckend wirkte. Das Jahr wurde so zu einem Scharnierjahr für die Gegenwart.
Einige wichtige Ereignisse fielen in dieses Jahr und beunruhigten die Welt, zumal die islamische: Im Februar 1979 gelang es dem iranischen Geistlichen Ajatollah Ruchollah Chomaini, den Schah von Iran, der bis kurz zuvor fest und von vielen Seiten gestützt auf dem Pfauenthron zu sitzen schien, von ebendiesem Thron zu fegen und in der Folge das Land grundlegend umzugestalten. Der Monarch, Mohammad Reza Pahlavi, der schon im Jahre 1941 die Herrschaft von seinem Vater Reza Schah übernommen und seither den Iran umgekrempelt hatte, eine Umkrempelung und »Modernisierung«, die auch viel Elend und Verunsicherung schuf, verließ, geschmäht, im Januar den Iran, vertrieben von einer religiös etikettierten Bewegung, und Chomaini richtete mit seiner Anhängerschaft einen »Gottesstaat« ein, das heißt, eine demokratisch strukturierte Staatsorganisation, der ein geistliche Führer vorgeordnet ist, der die demokratischen Prozeduren jederzeit aushebeln kann.
Schon das geschah vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Ende 1979 für die Muslime weltweit nicht nur ein neues Jahr, sondern auch ein neues Jahrhundert beginnen sollte, das 15. nach islamischer Zeitrechnung, die im Jahre 622 n. Chr. beginnt und Mondjahre zählt. Zeitstufen dieser Art sind nicht nur in religiös orientierten Gesellschaften Augenblicke erhöhter Nervosität, da verstärkt Endzeiten oder Verkünder von Endzeiten erwartet werden.
Endzeiterwartungen kennt die islamische Tradition ebenso wie die christliche und – in geringerem Ausmaß – die jüdische, und immer wieder sind es besondere Daten (zum Beispiel Jahrhundert- oder gar Jahrtausendwechsel), die die Erwartungen stimulieren.
Die Debatten um den Mahdi, das heißt um eine Person, die da kommen wird, um eine neue Zeit oder eben das Ende aller Zeiten einzuleiten, sind in der Geschichte der islamisch geprägten Welt zahlreich und vielfältig, wenngleich das Wort selbst im Koran nicht erscheint. Unruhen und Umstürze wurden häufig mit einer Mahdi-Gestalt in Verbindung gebracht. Zahlreiche Hadîthe, Prophetenaussprüche, mit unterschiedlichem Echtheitswert entstanden in solchen Kontexten. Und immer wieder wurde die erwartete Gestalt des Mahdi mit dem Propheten Muhammad, manchmal auch mit Jesus (im Islam ein Prophet) in Verbindung gebracht: Er müsse verwandt sein mit ihm, er werde aussehen wie er und seinen Namen tragen. So soll Muhammad gesagt haben: »Der Mahdi wird aus meiner Verwandtschaft stammen. Er wird eine hohe Stirn haben und eine scharf gebogene Nase. Er wird die Erde mit ebenso viel Liebe und Gerechtigkeit füllen, wie sie zuvor mit Ungerechtigkeit und Unterdrückung gefüllt war. Sieben Jahre wird er herrschen.«
Häufig wurden Prophetenüberlieferungen im Rückblick auf bestimmte Ereignisse oder Entwicklungen »eingeführt« und eine Person so mit einer Mahdi-Aura umgeben. Dafür boten sich besonders Personen an, die für sich in Anspruch nahmen, gekommen zu sein, um das islamische Gesetz ohne Wenn und Aber zu leben. Berühmt geworden in neuerer Zeit ist »der Mahdi«, jener Muhammad Achmad Ibn Abdallah, der in den frühen 1880er Jahren die Bevölkerung des Sudans zum Aufstand gegen die britisch-ägyptische Besetzung des Landes aufrief. Während jedoch die Vorstellung vom Mahdi, obwohl in weiten Kreisen der Bevölkerung verbreitet, bei den Sunniten nie Eingang ins eigentliche Credo gefunden hat, ist die Vorstellung bei den Schiiten Glaubensartikel geworden. Dort ging man noch einen Schritt weiter und bezeichnet, je nach Gruppe, die eine oder andere Führungspersönlichkeit (Imam) nach ihrem Verschwinden als »entrückt« und erwartet ihre Wiederkehr als Mahdi.
Die Unruhen, die es ebenfalls im Jahr 1979 im Osten der arabischen Halbinsel bei der schiitischen Bevölkerung gab, stehen in keinem nachweisbaren Zusammenhang mit den Ereignissen vom November und Dezember in Mekka.
Auch dem Begriff »Brüder« (Ichwân) haftet viel Tradition, Religion und, besonders in Saudi-Arabien, auch Politik an. Zunächst sind es Zusammenschlüsse wie Klostergemeinschaften, Gruppen, zusammengehalten u. a. durch gleiches Denken und gleiche Religion.
Berühmt in der islamischen Kulturgeschichte sind die »Brüder der Reinheit«, auch »Lautere Brüder« genannt, ein loser Zusammenschluss von Gelehrten in Basra (Mesopotamien) während der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, wo sie ihr enzyklopädisches und oft auch unorthodoxes Wissen in einer Sammlung von Episteln zusammentrugen. Bis heute ist ihr Name ein Begriff in der arabischen Kulturgeschichte.
Bekannt aus neueren Entwicklungen islamischer Länder sind die »Muslimbrüder«, die konservative Gemeinschaft, die als Antwort auf Verwestlichungstendenzen, Modernisierungsängste und Imperialismusdruck Ende der 1920er Jahre in Ägypten gegründet wurde, um islamisch verstandene Traditionen zu bewahren, und die seither vielfältig die ägyptische und, durch Ableger, auch die Politik anderer Länder der Region bestimmt. Viele aus Ägypten vertriebene oder geflohene Muslimbrüder fanden Aufnahme und Arbeit in Saudi-Arabien und entwickelten gemeinsam mit saudischen Rechtsgelehrten das fundamentalistische Credo weiter.
An Name und konservatives Religionsverständnis – nicht aber an das Interesse an Beute – schlossen in den 1960er Jahren und dem Einfluss raschen sozialen und kulturellen Wandels neue Gruppen im Land an. Sozusagen eine Generation später führten sie die fundamentalistisch-puritanische Lehre der früheren »Brüder« weiter und riefen zu einem rigorosen »Islam« auf. Ein Zweig dieser Bewegung ist die Gruppe um Dschuhaimân, der ursprünglich Schüler einiger angesehener saudischer Religionsgelehrter war und der in seinen Sieben Episteln einen Aufruf gegen die politische, soziale und religiöse Ordnung samt ihren Vertretern formuliert, verbunden mit präzisen Vorstellungen von einem wahrhaft islamischen Leben. Er präzisiert darin seine Vorstellungen vom »geraden Weg, dem Muslime zu folgen haben«: von der Vielgötterei, derer sie sich schuldig machten usw., aber auch vom nötigen Umgang mit der nicht-islamischen Welt oder von der islamischen Notwendigkeit, das Radio und das Fernsehen, jegliche bildliche Darstellung, außerdem Musik, Zigaretten, Alkohol, aber auch das Fußballspiel zu verbieten.
All das zu Verbietende sind für ihn Zeichen des Daddschâl, des falschen Messias, des großen Betrügers, der ebenfalls vor dem Jüngsten Tag erscheinen wird und deswegen in der islamischen Tradition häufig zusammen mit dem Mahdi genannt wird.
Auch diese Figur speist sich aus christlichen Traditionen und besonders apokalyptischen Visionen, wie sie im Neuen Testament und bei frühchristlichen Theologen zu finden sind: »Denn es werden falsche Christi und falsche Propheten aufstehen und große Zeichen und Wunder tun, dass verführt werden in den Irrtum (wo es möglich wäre) auch die Auserwählten. So heißt es bei Matthäus 24, 24 und fast gleichlautend Markus 13, 22 und in Einzelheiten, zum Beispiel der Erwähnung eines »Zauberers und falschen Propheten« (Vers 6), im dreizehnten Kapitel der Apostelgeschichte.
Die islamischen religiösen Traditionen haben sich, neben der Figur des wiederkehrenden Erlösers, des Mahdis, auch derjenigen des Menschenverführers bedient, der am Ende der Zeiten diesen Erlöser »ankündigen« wird. Das Wort Daddschâl, vom Arabischen aus dem Syrisch-Aramäischen übernommen, bezeichnet eigentlich einen Lügner, nämlich einen »lügnerischen Messias«, der am Ende der Welt für vierzig Tage oder ebenso viele Jahre über eine Menschheit herrscht, die sich schließlich in toto zum Islam bekehren wird.
Der Koran kennt diese Gestalt nicht, aber schon in den kanonischen Sammlungen der Prophetenaussprüche (Hadîth) aus dem 9. Jahrhundert wird sie ziemlich detailliert dargestellt, mit allen ihren zu erwartenden Aktivitäten, samt den falschen Wundern, mit denen sie die Menschen irreleitet. Diese falschen Wunder können beispielsweise auch weltlichen Herrschern angelastet werden, die dadurch den Ruch auf sich ziehen, Verkörperung des Daddschâl zu sein, dessen Untergang durch die Hand des Mahdis erfolgen wird.
Ein weiterer historischer Paukenschlag schloss das Jahr 1979 ab: Am 25. Dezember besetzten sowjetische Truppen Afghanistan, um dort ein sowjetgefügiges Regime einzusetzen. Durch dieses Ereignis wurde der Dschihadismus, »der Kampf auf dem Wege Gottes« bzw. im Interesse des Islams, auf einen neuen Kampfplatz verlagert, der endzeitliche Kampfeifer gegen die Ungläubigen, die den Islam angreifen, in eine neue Bahn gelenkt. Glaubenskämpfer aus aller Welt strebten zum Hindukusch und ließen so manche Herrscher in anderen islamischen Ländern aufatmen. Unterstützt wurden diese Kämpfer von den USA und Pakistan, finanziert großzügig aus Saudi-Arabien, dessen Regierung sich so zum Bannerträger der sunnitisch-islamischen Welt machte und gegen die neue schiitisch-islamische Regierung in Iran Boden gutmachen konnte.
Das Mobilisierungspotenzial eschatologischer, chiliastischer und dschihadistischer Lehren erhielt im Jahr 1979 einen neuen Schub in der islamischen Welt. In diesem Zusammenhang ist auch die Besetzung der Großen Moschee in Mekka zu sehen.
Hartmut Fähndrich