Schönheit ist eine Wunde wird einstimmig als Meisterwerk gepriesen. Der Roman erschien 2002 in Indonesien, vier Jahre nach dem Sturz von Suharto. Nachdem der 31-jährige Würgegriff des Diktators auf Indonesien gebrochen war, konnte Kurniawan die Geschichte seines Landes neuerzählen. Er hat einen unglaublichen Roman geschaffen, der das Schicksal von drei Generationen einer Familie erzählt – den Nachkommen der genialen Prostituierten Dewi Ayu. In dieser Geschichte verschmelzen Gegensätze: Grauen und Humor, Blasphemie und Glauben, Tod und Leben.
Jesse Ruddock: Trotz dem geschilderten Grauen ist die Lektüre von Schönheit ist eine Wunde eine Freude, man hat einfach Spaß beim Lesen. Hatten Sie auch Spaß beim Schreiben?
Eka Kurniawan: Schreiben ist immer sowohl befriedigend als auch quälend. Ich setze mir Ziele und habe bestimmte Maßstäbe. Wenn ich die nicht erreiche, kann das sehr frustrierend sein. Wenn ich etwas miserables oder klischeehaftes schreibe, werde ich ziemlich wütend.
Für Schönheit ist eine Wunde haben Sie keinen Plan erstellt, nur Dewi Ayu sollte sich im ersten Satz aus ihrem Grab erheben.
Ich schreibe eigentlich immer ohne einen festen Plan. Gewisse Situationen sehe ich voraus, zum Beispiel die letzten Momente eines bestimmten Charakters oder das Ende der Geschichte. Der Rest ist aber ein ziemlich verschwommenes Bild, mit unzähligen Möglichkeiten. Wenn der Schreibprozess mich selbst nicht überrascht, wie sollen dann andere beim Lesen überrascht werden?
Ihre Prosa ist voller Bilder und Metaphern. Als Dewi Ayu im Gefangenenlager Blutegel auf die Kühe setzt, fallen sie herab »wie reife Äpfel«. Haben Sie ein Notizbuch voller Bilder?
Viele Ereignisse sind bildlich in meinem Kopf abgespeichert. In meinem Notizbuch finden sich mehr Zeichnungen als Geschriebenes. Einige Cover meiner indonesischen Ausgaben tragen meine eigenen Illustrationen. Namen und Daten vergesse ich manchmal, aber ich kann mich immer daran erinnern, was und wie etwas passiert ist. Diese Bilder leiten mein Schreiben, um sie herum entstehen meine Geschichten.
Im Roman erinnern Sie an die Gräueltaten des 21. Jahrhunderts in Indonesien: die niederländische Kolonialherrschaft, die japanische Besatzung, den Unabhängigkeitskampf, den Massenmord an Kommunisten in den Jahren 1965-66. Sie beschreiben auch noch ein anderes, ein erfundenes Massaker: das Massaker der Hunde.
In der ersten Fassung handelte der Roman noch von Hunden. Der Titel lautete O Anjing (»O Hund«). In meinem Dorf haben viele Familien Hunde. Halbwilde Tiere, die frei in der Gegend umherstreifen. Sie werden für die Wildschweinjagd gezüchtet. Nur bösartige Hunde werden angebunden und eingesperrt. Lange Zeit habe ich in diesen Hunden eine Art Allegorie für unser Land gesehen. Sie sind Wachen, die manchmal ihre eigenen Herren verletzen, wie die nationale Armee, die das eigene Volk einschüchtert. In meinem Dorf lässt man die Hunde im Kampf gegen die Eber antreten. Meiner Ansicht nach symbolisiert das die Brutalität der indonesischen Geschichte.
In einer ihrer wissenschaftlichen Arbeiten argumentieren Sie für die Existenz von Außerirdischen, nun haben Sie zwei Romane geschrieben, die man als Geistergeschichten betiteln könnte. Glauben Sie an Geister?
Das kann ich nicht ganz eindeutig beantworten. Über Geister sprechen ist wie über Gott sprechen. Entweder man glaubt daran, oder nicht. Ich bin fasziniert von allem, was nicht bewiesen werden kann. Philosophen können darüber spekulieren, Wissenschaftler daran forschen. Und Schriftsteller einen Roman darüber schreiben. Auf Fremdes und Unbekanntes reagieren viele Menschen ängstlich, aber auch neugierig. Geister schüren Angst, aber sie lassen uns auch einen Blick auf unsere Verletzlichkeit werfen, auf unsere Torheit, und auf das, was in unseren Seelen noch verborgen liegt.
Ihre Muttersprache ist Sundanesisch, Sie schreiben aber auf Indonesisch.
Als Kind habe ich Sundanesisch gesprochen und auch ein wenig Javanisch. Mit meiner Familie und einigen Freunden spreche ich diese Sprachen auch heute noch. Indonesisch habe ich in der Schule gelernt, wie fast alle hier. In Yogyakarta habe ich dann Studenten aus vielen verschiedenen Provinzen kennengelernt, die alle unterschiedliche Muttersprachen hatten. Um uns zu verständigen, mussten wir Indonesisch sprechen. Inzwischen lese und schreibe ich auf Indonesisch. Indonesisch hat dieser Nation unglaublich gutgetan. Früher war es eine Minderheitensprache, nun eint es uns alle. Ich glaube an die indonesische Sprache – politisch und ästhetisch.
Ist es leichter, nicht in der eigenen Muttersprache zu schreiben?
Anfangs war ich skeptisch. Ich vermutete, dass Indonesisch ärmer an Wörtern und Wendungen ist als Sundanesisch und Javanisch. Inzwischen akzeptiere ich Indonesisch so, wie es ist. Wo eine Lücke ist, nehme ich mir die Freiheit, sie zu füllen. Dadurch entdecke ich unglaublich viele, spannende Möglichkeiten.
Indonesisch hat einen faszinierenden Rhythmus, es klingt fast wie Musik. Hat Musik ihr Schreiben beeinflusst?
Sundanesisch und Javanisch sind noch viel melodischer! Neben der Melodie meiner Muttersprache höre ich aber natürlich auch sehr gerne Musik. Mein Vater, ein Imam, hat immer Deep Purple, Led Zeppelin, Dolly Parton und die Beatles gehört. Mein Onkel hat mir Genesis, Rush und Toto vorgespielt. Als Teenager habe ich mir von meinem Taschengeld Kassetten von Guns N’ Roses, Nirvana und Pearl Jam gekauft. Ich habe aber auch indonesische Musik gehört. Der bekannteste Sänger ist Iwan Fals, er ist unser Bob Dylan. Damals kannte ich mich mit Musik viel besser aus als mit Literatur. Ich wollte Musiker werden. Später habe ich dann aber gemerkt, dass ich überhaupt kein musikalisches Talent habe.
Ich habe gehört, die Figur von Dewi Ayu sei von Ihrer Mutter inspiriert. Stimmt das? In einem autobiografischen Artikel beschreiben Sie Ihre Mutter als tief religiös. Dewi Ayu ist eher das Gegenteil.
Meine Eltern sind beide religiös, aber nicht übertrieben streng. Ich musste beten und fasten, aber wir haben auch zusammen Hollywoodfilme geschaut und westliche Musik gehört. In dem kleinen Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gab es viele verschiedene religiöse Strömungen. Da hat man sich auch übereinander lustig gemacht. Vielleicht ist Dewi Ayu daraus entstanden. Auf Java koexistieren wundersamerweise verschiedene Religionen und auch Aberglaube – dazu zählt auch der Glaube an Geister und an das Übernatürliche. Das ist also keine schriftstellerische Freiheit, sondern gesellschaftliche Realität.
In Schönheit ist eine Wunde geschieht vieles aufgrund von Begierde und sexueller Gewalt.
Sexuelle Gewalt kann einen Menschen körperlich, geistig und gesellschaftlich zerstören. Indonesiens Geschichte ist durchzogen von sexueller Gewalt, in ihr zeigt sich die Brutalität unserer Männer. Die grausamen Vergewaltigungen in Schönheit ist eine Wunde sind Realität. Dass uns das abstößt, bedeutet, dass wir noch nicht verroht sind.
In Ihrem Roman gibt es eine Szene, in der der Genosse Kliwon auf eine Zeitung wartet, die niemals kommt. Er realisiert nicht, dass die Zeitungen vernichtet wurden, und dass die Kommunisten dasselbe Schicksal erwartet. Wieso haben Sie ihn auf die Zeitung warten lassen?
Als Journalist habe ich viel zu den Ereignissen von 1965 recherchiert. Ich hatte eine Zeitung abonniert, und jeden Morgen habe ich danach Ausschau gehalten. Radio und Zeitung wurden von der Armee überwacht, im Radio wurde jeden Tag dasselbe gesendet. Jede Zeitung, die mit der Kommunistischen Partei in Verbindung stand, wurde verboten. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn meine allmorgendliche Zeitung auf einmal nicht mehr käme. Also habe ich Genosse Kliwon diese Erfahrung durchleben lassen. Das Ergebnis ist provokant, sowohl in psychologischer als auch in politischer Hinsicht.
In diesem Buch, das keine Wünsche offenlässt – fehlt da irgendetwas?
Wäre mein Anspruch gewesen, die indonesische Geschichte in einen einzigen Roman zu packen, gäbe es ziemlich viele Lücken. Ich habe jedoch von Anfang an gewusst, dass ich diesem Anspruch nicht gerecht werden kann und muss. Als Schriftsteller muss man wissen, wann man aufhört, was man auslässt, wann man ein Ende setzt.
Werden Sie jemals wieder so unbeschwert schreiben können wie an Ihrem ersten Roman, ohne Ruhm und Erwartungsdruck?
Beim Schreiben versuche ich immer, mich von Allem zu befreien, auch von meinen anderen Romanen. Das ist gar nicht so leicht. Der pragmatischste Ansatz ist da, einen Roman zu schreiben, der ganz und gar anders ist als die bisherigen. Ich versuche, ein anderer zu sein und eine Antwort auf meinen Vorgängerroman zu finden. So ist auch Tigermann entstanden.
Ihre Bücher wimmeln nur so von Figuren. Fänden Sie es spannend, ein Buch zu schreiben, in dem Sie selber der Protagonist sind?
Eher nicht. Alle meine Bücher sind sehr persönlich, auch wenn sie aus verschiedenen Perspektiven geschrieben sind. Im Kern drehen sie sich um meine Obsessionen, meine Bedenken, meine politischen Ansichten, und vielleicht auch um meine Unwissenheit. Mich aber als Protagonist vollkommen zu entblößen, das ist nicht meine Sache. Das würde ein ziemlich dünnes und langweiliges Buch werden.
Ihre Art, Geschichten zu erzählen, wird gerne mit dem Wayang verglichen, dem traditionellen Schatten- und Puppenspiel Indonesiens.
Als kleiner Junge habe ich Wayang geschaut, habe Wayang-Comics gelesen und hatte Sammelkarten der verschiedenen Puppen. Das habe ich aber seit fünfzehn Jahren nicht mehr gemacht. Man muss ja nicht ein Leben lang immer dasselbe anschauen. Trotzdem beeinflussen meine Kindheitserinnerungen mein Schreiben. Im javanischen Schattentheater haben mich vor allem die dramatischen und nachdenklichen Elemente fasziniert – zum Beispiel eine Kriegsszene und die Lehre, die daraus gezogen wird. Im sundanesischen Schattentheater mochte ich vor allem den Witz und die Abschweifungen der grotesken Charaktere.
In der amerikanischen Presse werden sie als Kronprinz der indonesischen Literatur gefeiert, als Nachfolger von Pramoedya Ananta Toer. Sehen Sie das auch so?
Pramoedya Ananta Toers Platz in der indonesischen Literatur wird niemals von jemand anderem eingenommen werden. Ich denke, in Indonesien würde mir da jeder zustimmen. Manche lieben mich, andere finden, ich sei fürchterlich. Und alle haben ihre Gründe dafür.
Werden Sie von Ihren Figuren heimgesucht, wenn Sie ein Buch fertig geschrieben haben?
Nein, die sind eher friedlich. Aber ich werde immerzu von den Figuren heimgesucht, die ich noch nicht geschrieben habe.
Dieses Interview führte Jesse Ruddock. Es erschien am 11.12.2015 im BOMB Magazine.