Mit Imani legt Mia Couto den ersten Band einer Trilogie vor, die die letzten Jahre Ngungunyanes beschreibt, einer legendären Figur der mosambikanischen Geschichte. Eine Figur, die schwer zu verstehen und gerade darum so verführerisch ist für ein literarisches Werk. Durch den Umfang und die Komplexität der gesichteten Quellen und Berichte wurde die Trilogie für Couto zum anspruchsvollsten Projekt der letzten vier Jahrzehnte. Dieses Interview führte Luís Ricardo Duarte, erschienen am 21.10.2015 im Jornal de Letras.
Jornal de Letras: Ist es einem Autor möglich, sich einer so komplexen und spannenden Figur wie Ngungunyane zu entziehen?
Mia Couto: Von Ngungunyane wird man in gleichem Maße angezogen wie befremdet. Er ist, im wörtlichen Sinne, ein Charakter, einer, der weit mehr ist als die diversen Mythen, die sich um ihn ranken. Während die Anziehung leicht zu erklären ist, funktioniert die Befremdung wie ein Alarmsignal. Erstere ist eine Einladung zum Schreiben, letztere eine »Ausladung«. Trotzdem gibt es viele Werke über ihn. Ich wusste davon, als ich mit der Recherche begann, aber die Masse an vorhandenen Dokumenten war mir nicht bewusst.
Hat sich dieser Roman deswegen zu einem jahrelangen Projekt entwickelt?
Ja. Mir wurde klar, dass ich aus zwei Sichtweisen recherchieren musste: aus der portugiesischen und aus der mosambikanischen – durch Zeugnisberichte und mündliche Überlieferungen. Dabei ist es spannend zu sehen, dass auf beiden Seiten Unwahrheiten und zweckgerichtete Versionen konstruiert wurden. In Portugal hatte sich das Bild einer Figur verfestigt, die mächtig genug war, um die Interessen des Landes gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu gefährden. Als die Portugiesen Ngungunyane schließlich besiegten, war er jedoch innerlich bereits verloren, ausgelaugt, leer. Ohne Zweifel war Mouzinho de Albuquerques Angriff auf ihn ein mutiger Schachzug, da er von dieser Schwäche nichts wusste. Tatsächlich wurde der Herrscher ohne jegliche Gegenwehr überwältigt. Alle Unterstützung und Loyalität war bereits weggebrochen. Portugal musste unbedingt seine militärische und politische Durchschlagskraft beweisen, um im Konflikt mit anderen Kolonialmächten nicht an Ansehen zu verlieren. Ngungunyane wurde deshalb überhöht dargestellt, Mythen und Legenden wurden über seine Person erschaffen. Je größer seine Macht, desto größer der heldenhafte Sieg.
Für einen Autor, der sich immer zwischen den Welten bewegt, ist das ja schon eine fast fertige literarische Figur …
Zweifellos. Und dann gibt es ja auch noch die mosambikanische Seite, die als Kontrapunkt dient. Nach der Unabhängigkeit brauchte es Helden des antikolonialen Widerstands. Auch hier wurde eine immense – eher ideologische als historische – Fiktion kreiert, eine Figur, die sich selbst als Nationalisten bezeichnete. Dabei hatte Ngungunyane niemals einen Nationalstaat namens Mosambik im Sinn. Ihm ging es um das sogenannte Gaza-Reich, im Süden des Landes. Wir haben es hier also mit einem doppelten Konstrukt zu tun. Die Ausgangslage ist also bereits Fiktion.
Und die wiegt genauso schwer wie historische Dokumente?
Ich habe diesen Roman im Dialog mit anderen Fiktionen geschrieben. Mir wurde bewusst, dass ich Distanz zu den historischen Quellen wahren musste, obwohl diese nicht immer nur falsch sind. Es gibt durchaus fundierte Berichte, die ich ernst genommen habe. Andere sind hingegen sehr merkwürdig. Unter den Büchern, die ich verwendet habe, ist die Sammlung der Korrespondenz zwischen damaligen Militärs und Politikern, zusammengestellt und kommentiert von Marcello Caetano (As Campanhas de Moçambique em 1895 Segundo os Contemporâneos). Darin kommen deutliche Konflikte zum Ausdruck, sehr verschiedene Haltungen und unterschiedliche Auffassungen portugiesischer Interessen. Wie immer gab es auf der einen Seite harte Militärs und auf der anderen Politiker, die eher an diplomatischen Lösungen interessiert waren. Da gab es Intrigen und vollkommen gegensätzliche Meinungen. Dies zu erkennen war sehr inspirierend für mich, denn ich möchte ja auch zeigen, dass »die« Geschichte, »die« Vergangenheit, aus zahllosen kleinen Geschichten zusammengesetzt ist. Und die sind es, die für uns Autoren interessant sind, und, wie ich glaube, auch für alle anderen Menschen. Durch die Brille der Gegenwart wird Vergangenheit neu interpretiert und neue Diskurse und Mystifikationen entstehen. Die Quellen haben mir geholfen, mich den »kleinen« Geschichten zuzuwenden, und gleichzeitig das festgeschriebene Gebilde der »Geschichte«, welches wir in der Schule gelernt haben, zu dekonstruieren.
Zwischen diesen beiden Polen der Aufklärung und der Mystifikation, was repräsentiert Ngungunyane in der heutigen mosambikanischen Gesellschaft? Kann man ihn als eine Figur bezeichnen, die für das Land identitätsschöpfend ist?
Ngungunyane stand an der Spitze eines Imperiums, dessen Erfolge, wie die aller Imperien, auf Blut und Massakern basierten. Daher existiert auch eine negative Wahrnehmung. Als unter Präsident Samora Machel versucht wurde, Ngungunyane aufzuwerten, geriet man bald in Schwierigkeiten, vor allem, da die Ereignisse noch nicht lange zurücklagen –in Mosambik ist nichts besonders lange her. Es gab Zeitzeugen, die sich an die Geschehnisse erinnerten, die sagten, dass es so nicht gewesen war. Es ist nicht leicht, Ngungunyane als Helden zu mystifizieren, ohne Widerspruch zu wecken.
Aber er ist dennoch sehr präsent?
Weniger als man denken mag. Er wird nicht, wie noch nach der Unabhängigkeit, überhöht. Das würde wohl auf einigen Widerstand treffen. Aber er ist nicht unbeliebt, Plätze, Straßen und Schulen sind nach ihm benannt.
Zurzeit werden auch andere afrikanische Persönlichkeiten wiederentdeckt, auch von Autorinnen und Autoren. Im portugiesischsprachigen Bereich etwa hat José Eduardo Agualusa über die Königin Ginga geschrieben.
Das ist sicher kein Zufall. Wir in Mosambik sind noch dabei, unsere Identität zu finden. Das ist nicht problematisch, es ist gut. Ich wünschte, es würde immer so bleiben. Man muss nur erkennen, dass jede Identität auch aus der Erinnerung und der Vergangenheit schöpft. Das sind zwei Beine eines Körpers: Einerseits das gegenwärtige Selbstverständnis, zum anderen ein Auswahlprozess der Erinnerungen, des Gedächtnisses. Da uns eine Vergangenheit vorgesetzt wird, die nur eine Lesart zulässt, drängt es mich, als Schriftsteller, verschiedene mögliche Vergangenheiten und Lesarten aufzuzeigen.
Obwohl der Roman von großen Figuren geleitet wird, ist die Handlung in einem kleinen Dorf angesiedelt. Warum?
Ich wüsste gar nicht, wie ich es anders machen sollte. Ich muss mich auf bekanntem Terrain bewegen, selbst wenn es nur um Fiktion geht. Ich könnte keinen historischen Roman im klassischen Sinne schreiben. Ich kreiere meine Geschichte im Dialog mit anderen Geschichten.
In diesem ersten Band vernimmt man die Bewegungen Ngungunyanes und der portugiesischen Krone eher als Echos.
Das ist der Aufteilung der Geschichte über drei Bände zuzuschreiben. Im zweiten Band tritt Ngungunyane bereits als Figur auf und kommt direkt zu Wort. Anfangs hatte ich geplant, alles in einem Roman zu erzählen. Aber die kleinen Geschichten in diesem großen Konflikt faszinierten mich so sehr, dass ich sie nicht wegstreichen konnte. Irgendwann wurde mir klar, dass dieses Buch viel zu dick werden würde.
Es ist sozusagen aus dem Ruder gelaufen?
Vollkommen. Doch dann reizte es mich, die Geschichte in mehreren in sich geschlossenen Teilen zu erzählen. Im ersten Band geht es um die Erde, den Erdboden. Natürlich sind es die Frauen, die hier erzählen. Sie verflüchtigen sich zu Asche, zu einem kaum greifbaren Material. Dennoch dominiert das Element Erde, bis sich die Figuren schließlich aufs Meer begeben, auf die Reise, die sie, zusammen mit Ngungunyane und den anderen Figuren, bis nach Portugal und schließlich auf die Azoren bringen wird. Die Erde war schon immer, schon in meinem ersten Roman, eine eigene Figur mit eigener Stimme. Sie ist ein lebendiges Wesen, sie besteht nicht gesondert vom Menschen, sie ist Teil unseres Körpers, unserer Geschichte, unserer Familie.
Sie haben für diese Arbeit viele Interviews geführt. War das Schreiben dieses Romans eine gänzlich andere Erfahrung im Vergleich zu Ihren früheren Werken?
Es war ein Kampf, eine neue Herausforderung, und anfangs hätte ich fast aufgegeben. Zum Schluss aber mochte ich es sehr. Ich mag jedes meiner Bücher, aber dieses ist vielleicht mein liebstes. Ich musste lernen, es zu schreiben. Als ich mit den Interviews begann, hatte ich bereits Dutzende Texte gelesen, ich wusste, wonach ich suchte. Aber die mündliche Überlieferung fügte Dimensionen neuer Fantasie hinzu. An diesem Buch könnte ich endlos weiterschreiben, mich von Erinnerung zu Erinnerung hangeln, von einer Geschichte zur nächsten.
In der Vorbemerkung zum Buch erwähnen Sie, dass manche Leute der Ansicht sind, die Gebeine, die Portugal 1985 nach Mosambik überführt hat, seien tatsächlich nur Sandklumpen. Was suggeriert Ihnen dieses Bild, das sie als Titel der Trilogie gewählt haben?
Es eine Metapher für ein Imperium. Man sagt: Ein Koloss auf tönernen Füßen … Hier ist es der Sand. Wie die Erde wahrt er die Erinnerungen an das, was wir waren, und an das, was wir sind.