Mein Leben ist eine Erzählung. Eine Erzählung ist eine wahre Geschichte, die gerade so gut eine Lüge sein könnte. Solange es nicht umgekehrt ist …
Ist er ein Abenteurer, ein Ethnologe, ein Schriftsteller, ein Weiser oder ein Verrückter, mit seiner natürlichen Eleganz, dem erstaunlich klaren und reinen Blick – dieser schalkhafte und verführerische dreiundsechzigjährige Däne, Autor von vierzig Werken? Mit 18 Jahren hat sich der junge Riel in Richtung Nordost-Grönland eingeschifft, um sich von seiner Familie und seinem Land zu befreien, denn das alles war für seinen Geschmack allzu konservativ. An diesem verlassenen und eisigen Ende der Welt macht er meteorologische Erhebungen, mit dem kaum älteren Eskimo Ugge als einzigem Gefährten. Zwischen den beiden Jungen wächst eine solide Freundschaft, gebaut auf Stille … Sehr schnell lernt Riel die Sprache der Eskimos und übersetzt für Ugge einige technische Zeitschriften, die in ihrer Hütte zu finden sind. Diese Lektüre ist schnell aufgebraucht, und so beginnt er, zu seinem Vergnügen die verrückten und seltsamen Geschichten festzuhalten, die sich die Bären- und Robbenjäger seit jeher bei ihren seltenen Besuchen zu erzählen pflegen.
Zuerst waren die Fallensteller still, sie mußten die Sprache wieder neu finden. Nach einigen Tagen in der Gemeinschaft waren sie dann nicht mehr zum Schweigen zu bringen. So sind meine Geschichten entstanden. An jedem Samstagabend las ich Ugge vor. Wir nannten das unseren literarischen Salon!
Riel strahlt diese stille Kraft aus, welche Menschen eigen ist, die an die eigenen Grenzen gestoßen sind. Er, der sechzehn Jahre in Grönland gelebt hat, erzählt ein bißchen wehmütig von seiner ersten Erfahrung absoluter Einsamkeit:
Auf dem Qaqatoqaq bin ich elf Monate allein mit fünf Hunden geblieben, um die Bewegungen eines Gletschers zu studieren. Die ersten drei Monate ging alles gut. Dann kam der Winter, Tage so schwarz wie die Nacht. Nach und nach hatte ich den Eindruck, Stimmen zu hören, hatte das beängstigende Gefühl, belauert zu werden. Ich habe mich mit den Hunden unter dem Zelt vergraben, habe mein Radio umgebaut und Kontakt hergestellt zu einem Zahnarzt in Hawaii. Ihm erzählte ich von meinen Halluzinationen. ›Komm zu mir‹, befahl er mir, ›und sag mir, was du gesehen hast.‹ Ich rannte rund um mein Zelt herum wie ein Verrückter, begleitet vom aufgeregten Gekläffe meiner Hunde, bis ich ausser Atem und geheilt war. Ich hatte begriffen, dass Einsamkeit nicht das ist, was einem umgibt, die Unermesslichkeit, die Stille. Einsamkeit ist etwas, was man in sich drin trägt. Zähmt man sie, erlangt man Frieden und Freiheit.
Eine Zeitlang war Riel engagierter Beobachter der Vereinten Nationen in Afrika und Asien, Südamerika und Indien. Dann zog er wieder alleine los: Er durchquerte Sumatra zu Fuss in elf Monaten, entdeckte und studierte einen Stamm der Irian Jaya in Neuguinea, der noch im Steinzeitalter lebt. Dabei begleitete ihn immer das Schreiben, dieses unerwartete Geschenk. Als unersättlicher Reisender, der nichts fürchtet oder bereut, interessiert an allen Menschen und Kulturen, bereiste er die ganze Welt. Von Grönland bis Thailand hat er fünf Kinder gezeugt, mit seinen zahlreichen Enkeln spricht er Eskimo oder Thailändisch. Obwohl er in Malaysia lebt und daran denkt, sich in Frankreich niederzulassen, behält er im Innersten eine tiefe Sympathie für die Arktis und deren Einwohner; sie bleiben die unerschöpfliche Quelle seiner Erzählungen und Romane.
Ich habe viel gelernt bei den Eskimos. Sie meistern ihr Leben stolz und beharrlich. Sie haben mich ihre Fröhlichkeit, ihren Optimismus, ihren Sinn für Feste und die Kunst des Teilens gelehrt. Ohne es zu wissen, sind sie die ersten Kommunisten dieser Welt. Ihre Kultur verändert und entwickelt sich und bleibt trotzdem stark.
Télérama, 14.12.1994