Jedes chilenische Schulkind kennt seinen Namen. Mehr als eine Million Mal ist seit 1941 sein bekanntes Jugendbuch El último grumete de la Baquedano (Der letzte Schiffsjunge der Baquedano) verkauft worden. Vier Jahre nach diesem fulminanten Debüt folgte 1945 ein weiterer Abenteuerroman, Los conquistadores de la Antártida. Aus eigener Anschauung kannte Francisco Coloane den Südpol damals noch nicht. Das holte er zwischen Januar und März 1947 nach. Er beteiligte sich an der Errichtung der Antarktisstation Arturo Prat und ließ 1962 einen wesentlich umfang- und kenntnisreicheren Südmeerroman folgen, El camino de la ballena (Der Weg des Wals). 1964 erhielt Francisco Coloane den chilenischen Nationalpreis für Literatur. Mit Rastros del guanaco blanco legte der Autor 1980 seinen letzten längeren Prosatext vor.
Sein großes literarisches Talent aber konzentriert sich vor allem in seinen Erzählungen, die – ebenso wie seine Romane – allesamt Patagonien, Feuerland, die Inselwelt nördlich des Kap Hoorn oder die Antarktis zum Schauplatz haben. Publiziert wurden sie in den Bänden Cabo de Hornos (1941), Golfo de Penas (1945) und Tierra del Fuego (1956), später auch in anderen Zusammenstellungen unter anderen Titeln. Im vorigen Jahr gelang dem Autor, dessen Werke in mehrere Sprachen übersetzt worden sind, der große Durchbruch in Frankreich. Auf der Liste der meistverkauften Bücher stand die französische Übersetzung von Tierra del Fuego im März und April ’94 auf Platz 1 – vor John Grishams Die Akte, vor John Le Carré, Joyce Carol Oates und Kazuo Ishiguro. Kaum weniger erfolgreich war im vergangenen Jahr die französische Ausgabe seines Erzählungsbandes Cabo de Hornos. »Coloane ist groß in Mode«, titelte erst vor zwei Wochen der Mercurio in seiner Sonntagsbeilage. Liegt das daran, dass der Autor schon in den 40er Jahren alle die ökologischen Themen ansprach, die heute weltweit diskutiert werden: den Walfang, die Ausbeutung der Meere, die Abholzung von Urwäldern? Und nicht zuletzt die Menschenrechte: den Massenmord an den indianischen Ureinwohnern der südlichen Inselwelt und die Ausbeutung der Arbeiter auf den Estancias, die – wie Coloane – meistens von der Insel Chiloé stammten. Hängt Coloanes plötzliche Popularität mit den patagonischen Landschaften zusammen, die in diesen Jahren mehr und mehr touristisch erschlossen werden? Oder ist Coloanes Wiederentdeckung ein allmähliches Revival nach 17 Jahren Militärregierung in Chile, in denen er als Linker seine Schwierigkeiten hatte? Liegt es nicht zuletzt daran, dass sich nach seinem Erfolg als Jugendbuchautor endlich auch in »seriöseren« Literatenzirkeln die literarischen Qualitäten seiner Erzählungen herumsprechen?
Auch wenn seine Geschichten nicht mit spektakulären Ereignissen beginnen, baut sich in ihnen vom ersten Satz an eine unbegreifliche Spannung auf. Gefragt, wie er das hinkriege, zitiert der alte Seemann einen Satz von Tschechow: »Gebt mir einen Anfang und ein Ende, und ich schreibe die Geschichte.« Je kürzer, desto besser, fügt er hinzu.
Literaturkritiker haben ihn in ihren Rezensionen mit Jack London, Herman Melville, Robert Louis Stevenson, Joseph Conrad oder Ernest Hemingway aufs selbe Podest erhoben. Bei solchen Einstufungen winkt Coloane bescheiden ab: »Hemingway und Joseph Conrad sind zu große Namen, als dass ich mich mit ihnen vergleichen möchte.« Dennoch hat er diese Autoren gern gelesen. Befragt, welchen Einfluss seine Lektüre auf seine Literaturproduktion habe, kommt er vor allem auf Sachbücher, naturwissenschaftliche Studien und Expeditionsberichte zu sprechen: das Kap-Hoorn-Buch des Nordamerikaners Felix Riesenberg, die Werke des schwedischen Patagonien- und Polarforschers Otto Nordenskjöld und vor allem Charles Darwin, dessen poetische Prosa er liebt. »Soy Darwinista«, bekennt er frei heraus, »ich bin überzeugt, dass das Leben aus dem Meer kommt.« Er zeigt mir ein Stück von Picorocos (Entenmuscheln) besetztes Muskovit-Gestein. Als Chilote sei er, der schon als kleiner Junge auf dem Walfängerboot seines Vaters das Steuer hielt, dem Meer immer sehr verbunden gewesen. »Bei uns zu Hause essen wir viel Cochayuyo und Luche (Meeresalgen)«, fügt seine charmante Frau Eliana hinzu.
An dem Tag, als ich ihn besuchte, war in La Época ein Artikel über das deutsche Forschungsschiff »Sonne« erschienen, das den Meeresgrund vor Valparaíso erkundete: »37 unterseeische Vulkane, zum Teil 4.000 Meter hoch, haben die Forscher entdeckt – eine Kette aktiver Vulkane wie die Anden erhebt sich über dem Meeresboden. In meinem Haus in Quintero spüren wir ständig die Erdstöße.« Und Francisco Coloane fragt sich, was ein Jules Vernes aus einer solchen Entdeckung gemacht hätte.
Wann, frage ich, erscheint endlich die erste Coloane-Geschichte auf Deutsch? Sie sei bereits erschienen, meint Coloane – in einer Nazizeitung oder -zeitschrift während der Hitlerdiktatur! Ich blicke ihn erstaunt an, wissend, dass mein Gegenüber in seiner Jugend der Sozialistischen Partei beigetreten ist; noch im Interview mit mir bezeichnet sich der 84-Jährige als Leninist. Coloane erzählt mir die ganze Geschichte: wie ein chilenisches Boot, auf dem er arbeitete, schiffbrüchige deutsche Matrosen aufgefischt hat. Wie einer der geretteten deutschen Soldaten dann vermittelt habe, dass Coloanes Geschichte El vellonero in deutscher Übersetzung erschien. Der deutsche Titel, meint Coloane, laute Der Vellonär. Aber welcher Leser soll verstehen, dass diese Berufsbezeichnung von dem spanischen Wort für »Schaffell« abgeleitet ist! Coloane hat diese Veröffentlichung übrigens nie zu Gesicht bekommen und bittet mich, nach meiner Rückkehr in Deutschland danach zu suchen.
Dass seit dieser einen Erzählung vor ca. 55 Jahren von Coloane nichts in Deutschland veröffentlicht wurde, erscheint um so unbegreiflicher, als der Autor zeitlebens gute Verbindungen mit Deutschen pflegte. Ich bitte ihn, Namen zu nennen. Zuerst spricht Coloane über Gunther Plüschow, den »Flieger von Tsingtau« und späteren Flugpionier in Feuerland, der als Erster die Darwin-Kordillere, das Kap Hoorn und die Torres del Paine überflog und in den 20er Jahren zwei spannende Bücher über seine Erlebnisse im äußersten Süden Amerikas veröffentlichte, Segelfahrt ins Wunderland und Silberkondor über Feuerland. Coloane lernte ihn über Werner Gromsch kennen, einen Deutschen, der in Punta Arenas sein Geld als Englischlehrer verdient habe und der ein leidenschaftlicher Bergsteiger gewesen sei. Über Professor Gromsch lernte Coloane viele Deutsche kennen. Auch mit Albert Pagels sei er gut befreundet gewesen, derjenige, der das deutsche Kriegsschiff »Dresden«, das sich in einer Bucht vor den Engländern versteckt hielt, in riskanten Nacht- und Nebelaktionen mit Proviant und Kohle versorgte.
Über die legendären Namen, die mir nur aus der Lektüre bekannt sind, weiß Coloane seine Anekdoten zu erzählen, wie z. B., dass Pagels damals der Spitznamen Chucu chucu verliehen wurde, in Nachahmung des Motorengeräuschs seines Kutters. Dann erzählt mir Coloane einige »historische Tatsachen« über den Grafen von Spee, den Kommandanten der »Dresden«, von denen er meint, dass sie nicht in den Geschichtsbüchern stünden.
Ich frage ihn, ob er auch Hugo Weber gekannt habe, Besatzungsmitglied der »Dresden«, der sich auf Feuerland niederließ, Fischotter jagte und später darüber das Buch Als Pelzjäger im Feuerland veröffentlichte. »Nein. Mit Fischottern kenne ich mich nicht aus. Aber ich weiß alles über Wale.« Und dann fährt er fort, über eine neue Erzählung zu sprechen, die er eines Tages veröffentlichen will: La ballena de Caronte (Der Wal Charons), und er erklärt, wie der Titel zustande gekommen sei: An einer der Meerengen der Magellanstraße gebe es eine Bucht, wo damals ein Wal gestrandet sei. Da die weißen Kolonisten und Goldsucher wussten, dass die Ona-Indianer das Fleisch des Wals essen, habe man es mit Arsen vergiftet. Die Onas seien massenhaft daran gestorben. Für jedes Paar Ohren eines toten Indianers zahlten die Estanciabesitzer ein Pfund Sterling. Auch dem Fährmann aus der griechischen Mythologie habe man für seine Dienste, den Menschen über den Styx zu befördern, eine Münze in den Mund jedes Verstorbenen gelegt.
Die Ausrottung der Indianer ist eines der wiederkehrenden Themen in Coloanes Werk. Ich denke an El témpano de Kanasaka, eine Geschichte, die in einer der Buchten des Beaglekanals spielt und mit dem Anblick eines auf einem Eisberg dahintreibenden toten Indianers endet, der seine starre Totenhand wie zur Warnung emporreckt: Weiße haben in dieser Bucht nichts zu suchen! Ich befrage den Autor nach seinen Kontakten zu Onas und Yámanas. Er habe damals viel Umgang mit ihnen gehabt, sagt er. Auch mit Alakalufes, den westpatagonischen Wassernomaden. Er erzählt mir, dass seine Cousine Ernestina in Punta Arenas ein Yámana Mädchen als Hausangestellte hatte, ein bisschen älter als er. Mit ihr habe er als 14- oder 15-jähriger Junge oft in den Sanddünen gespielt. »Alles völlig unschuldig!«, beteuert er, »nicht wie heute in all den Filmen, die voller Sex sind.« Ich frage Coloane, ob er literarische Abenteuergeschichten anderer Schriftsteller kenne, die sich jene südliche Region zum Schauplatz gewählt haben (wobei mir selbst – wenn man Memoiren beiseite lässt – aus dem deutschsprachigen Raum nur Friedrich Reck-Malleczewen einfällt). Aber Coloane hält sich mehr an das Authentische: Er habe Vidal Gormaz’ Geschichte der Schiffbrüche gelesen: »Es sind auch viele deutsche Schiffe vor dem Kap Hoorn versunken – Schiffe aller Größenordnungen«, fügt er mit einem Anflug von Sammlerstolz hinzu. »Schiffbrüche haben mich ziemlich geprägt; ich weiß sehr viel darüber.«
Ein volles, abwechslungsreiches Leben, diese 85 Jahre! Coloane erwähnt in unserem Gespräch auch seine Zeit als Landarbeiter auf der Estancia Sara auf Feuerland. Eine seiner Tätigkeiten bestand darin, mit seinen Zähnen junge Hammel zu kastrieren. Der Speichel enthalte einen Stoff, der die Wunden besser verheilen lasse. Denn wenn man die Tiere mit dem Messer kastriere, würden sie oft verbluten, erklärt er mir. Tausende von männlichen Lämmern habe er mit seinen Zähnen kastriert. Jetzt trage er eine Prothese, fügt er lachend hinzu.
Bevor ich mich verabschiede, zeigt mir der Capitán einige seiner Schätze: einen ausgestopften Magellanpinguin, ein Neruda-Porträt eines russischen Künstlers, das ihm Neruda selbst geschenkt hat, und ein Ölgemälde mit einem Schiff namens »Telmo«. Wir widmen uns gegenseitig je eines unserer Bücher und bekräftigen unsere neue Freundschaft mit einem Glas Pisco Sour.
© by Wolfgang Cziesla