»Der Kriminalroman ist ein exzellentes Mittel, die komplexe Wirklichkeit in den Griff zu bekommen, ein perfektes Werkzeug, sie ins Licht zu rücken. Und Marseille ist eine schillernde Stadt, ein Knäuel von Phantasien und Lügen, Trugbildern und Täuschungen. Marseille gehört mit Haut und Haar zur Welt des Mittelmeeres. Ich habe viele Romane des großen sizilianischen Autors Sciascia gelesen. Er hat es verstanden, mit Hilfe des Spannungsromans Probleme des Südens offenzulegen. In aller Bescheidenheit möchte ich mich zu seinen Schülern zählen.
Ich bin in Marseille geboren, in einer proletarischen Familie, wie man früher sagte. Ich habe keinerlei Diplome, aber durch das Zaubermittel, das man Selbststudium nennt – ich bin Autodidakt – wurde ich in den 70er Jahren Journalist. Mein Leben war damals voller Widersprüche, aber ich hatte trotz allem immer das Gefühl, ich wüsste, wo ich zu Hause bin: Bei denen, die nichts als ihre Hände haben, um sich zu ernähren, und die in der Hoffnung leben, dass der politische Kampf vereinigt, verbindet und Kraft gibt. Später, in den 80er Jahren, nahm ich den Zug nach Paris, wie so viele andere Autoren auch. Ich wurde Chefredakteur bei Viva. Mit einem guten Team begann ich, das Magazin zu verändern, den Aktivisten näher zu bringen. Aber die politischen Auseinandersetzungen waren enorm: Ich wurde gefeuert.
Aber dann kamen die Bücher. Ich gehörte zu den Initianten der Europäischen Literaturtage in Straßburg (Carrefour des Littératures Européennes de Strasbourg), dann des Festivals der Reiseschriftsteller in Saint-Malo. Ich glaube, dass Autoren und Buchhändler kreativ werden müssen und Räume schaffen sollten, in denen sich Schriftsteller und Leser begegnen können. Keine kommerziellen Messen, sondern Orte, wo eine Auseinandersetzung von Ideen und Stilen stattfindet, Kolloquien der anderen Art für jene, die ohne das Schreiben und ohne das Lesen nicht leben können. Dies ist denn auch die Quintessenz meines Lebens: Das Lesen kann die Vereinzelung überwinden. Der Reichtum an Gedanken und Bildern ist in den Seiten der Romane zu finden.«
»Als ich mit dem Schreiben anfing, wusste ich, dass ich von Marseille reden wollte, aber ich wollte auch von dem Problem reden, das das symbolischste dieser Stadt ist: die Immigration. Ich wollte daran erinnern, dass es vor wenigen Jahren auch nicht einfacher war, aber in dem Maße, in dem man sich integriert, vergisst man die Beleidigungen und Diskriminierungen, die die Eltern haben ertragen müssen. In der Literatur ist es manchmal möglich, eine Situation überspitzt darzustellen. In Total Cheops lasse ich beispielsweise einen Armenier rassistische Äußerungen von sich geben. Dies ist Absicht, denn die Armenier haben den Völkermord gekannt, sie dürften normalerweise nicht vergessen, was es heißt, ein Fremder zu sein. Sie sind nicht die Einzigen, die etwas gegen maghrebinische Einwanderer haben, sie sind da wie die Italiener, wie die anderen. Auf jeden Fall liegt es mir am Herzen, von der Immigration in dieser Stadt zu reden.
Ich schreibe in der Ich-Person, und da denkt man immer, dass ich Biografisches einschließe. Das ist aber eine literarische Arbeit, ich war nie Polizist, ich habe nie eine Apotheke überfallen, wenn ich auch nicht weit davon entfernt war. Einen beträchtlichen Teil dieser Geschichte habe ich mir ausgedacht, und in all meinen Personen sind Teile meiner selbst, nicht nur in Fabio Montale.
Das Leben hier hat meine Schriftstellerei ausgelöst. Meine Mutter wurde nämlich hier im Panier-Viertel geboren, auf der Seite der Rue des Pistoles, die nicht mehr existiert. Als ich eines Tages durch die Rue des Refuges hier ankam, war ein ganzer Teil meiner Kindheit und Jugend weg, weil der Straßenzug niedergerissen worden war. Total Cheops fängt deshalb hier an, zwanzig Jahre später, als nur noch die Hälfte der Straße existiert. Für mich ist das ein wichtiger Ort, weil hier meine Großmutter wohnte, meine Cousins, ich spielte immer in diesem Viertel. Von hier aus gingen wir zum Baden an den Hafen; damals schwammen wir quer durch den ganzen Hafen.«
»Marseille ist nicht provenzalisch. Es ist es nie gewesen. Ganz ohne Romantik war und bleibt Marseille der Ort, an dem sich die Exilierten der Welt begegnen. In den meisten Restaurants isst man folglich einfach und für wenig Geld, Gerichte ohne künstliche Verwurzelung, nicht nach einer bestimmten Mode, sondern mit einem treuen Festhalten am Ursprung zubereitet. Andere haben schon gesagt: Die Küche hier erneuert sich nicht, sie ›mischt‹ sich nicht, sie bleibt bestehen. Sich an den Tisch zu setzen, im Restaurant oder zu Hause, mit der Familie oder unter Freunden, bedeutet in Marseille anzuknüpfen an die Vergangenheit, die Erinnerungen. Und wenn sich der Kreis öffnet – und Marseille ist eine offene Tür – dann um, mit einer hübschen Portion Stolz, zur Teilnahme an der Schönheit einzuladen, die dem Ort, an dem man lebt, eigen ist.
Ich werde also nicht über die provenzalische Küche sprechen. Um das deutlich zu machen, muss man die Zweifelhaftigkeiten herausstellen, die Marseille und seiner Küche innewohnen. Marseille ist eine Stadt, in der man, wenn nicht schlecht, so zumindest nicht sehr gut isst. Und in der es entschieden an Fantasie mangelt. Ich selbst konnte eines Tages lesen, dass man eine Tagine de Bouillabaisse erfinden müsse! Warum nicht, wenn es Abnehmer dafür gibt, aber ich musste ein wenig schmunzeln; wenn es das nicht gibt, dann ohne Zweifel deshalb, weil kein Grund dafür besteht.
Man verstehe mich nicht falsch: Ich liebe diese Stadt, und ich habe häufig mehr Freude daran, ein Stück Pizza zu essen, das ich bei Roger und Nénette gekauft habe, während ich auf einem Felsen sitzend das Meer beobachte, als mich vor einer Seezunge in Blätterteig mit Olivenjus in einem mit Filz ausgelegten Restaurant zu langweilen, das von Leuten besucht wird, die davon träumen, in einer anderen Stadt zu sein. Wo der Knoblauch geschickt gemieden wird, sogar beim Abendessen – diese berühmten Arbeitsessen, während derer man sich mehr herumstreitet als dass man isst. Wenn ich esse, liebe ich es zu fühlen, wie Marseille auf meiner Zunge mitschwingt. Einfach und gewöhnlich, wie etwa ein Barsch, eine Sardine oder gegrillte Seebarben in Fenchel, ein zartes, mit Olivenöl beträufeltes Filet bei Chez Paul oder L’Oursin sein können.
Es gibt Touristen, die all die Freude ignorieren, die man an panisses frites haben kann. Sie haben noch nie Weinbergschnecken in pikanter Sauce probiert, nie d'oursinade, ragoût de fèves fraîches oder pieds et paquets. Und sie gehen über das Glück einer soupe au pistou hinweg, richtig mild und im Schatten einer Kiefer gekostet. Es ist kein Zufall, wenn ich an diese Gerichte erinnere. Die Marseiller Küche beruht auf der Kunst der Zubereitung von Fisch und Gemüse, das damals von den reichen Bürgern und Schiffseignern verschmäht wurde. Auf diese Weise wurde die Bouillabaisse geboren, wegen des Fischs mit dem schrecklichen Maul, der Seekröte – unverkäuflich weil ungenießbar. Man könnte noch weitere Beispiele anführen.
Wenn ich ein Restaurant besuche, ist es in erster Linie die familiäre Atmosphäre, die ich suche. Nun gut, es stimmt, dass die Gerichte über kurz oder lang nicht so erstklassig sind wie bei Chez Etienne oder Panier. Aber das ist ein bisschen wie das Leben selbst. Man bereitet es alltäglich zu. Man weiß, dass eines Tages das Wunderbare zwangsläufig im Zusammensein zu finden sein wird. Und man wird sprachlos vor einer Portion Ravioli mit Olivenpüree sitzen oder vor ein paar Tintenfischringen mit Petersilie. So gefällt mir Marseille.«