Liebe Leserin
Lieber Leser
Tag um Tag schauen wir auf Zahlen, freuen uns über Zahlen, trauern, schimpfen, diskutieren über Zahlen. Dass hinter jedem verkauften Buch ein Mensch mit seiner Entscheidung für genau dieses (und kein anderes) steht, vergessen wir leicht. Dass der Strom des Umsatzes aus unzähligen Portemonnaies tröpfelt. Dabei spekulieren wir täglich in der Leserin und des Lesers Namen: Mit welchem Klappentext, Cover, Poster, Buchthema können wir sie und ihn gewinnen?
Da stehen sie nun um den Büchertisch am Zürcher 1.-Mai-Fest. Der Kunde, das unbekannte Wesen! O Rätsel Mensch! Sie blättern, überfliegen, legen es zurück auf den Stapel oder klemmen es sich nach kurzem Aufleuchten der Augen zum Kauf unter die Achsel. Warum bloß? Warum gerade dieses? Und das andere nicht? Oder gleich ein halbes Dutzend?
Manchmal ist es einfach. Eine Tamilin der zweiten Generation, die perfektes Schweizerdeutsch spricht, lässt sich mit dem liebenswertesten Roman aus ihrem Land überraschen. Einer Lehrerin ( »Was kann ich meiner Klasse zu lesen geben, wenn wir über Religion und Verschleierung diskutieren?«) kann geholfen werden. Auf die Frage: »Habt ihr auch Frauen?«, mit unüberhörbarem Anfangsverdacht geäußert, können wir mit einem stolzen Stapel antworten. »Mittelasien würde mich interessieren.« – »Ich fahre nächste Woche nach Marokko.« – »Ich lese gerade viel über buddhistische Spiritualität.«
Manchmal lastet die Verantwortung schwer. Ein Jüngling kommt herangestürmt: »Ein Buch, das die Frau begeistert, die ich heute besuche. Volles Vertrauen in Ihre Auswahl!« Ich erbleiche, weil ein falscher Vorschlag vielleicht ein Lebensglück ruiniert, und frage nach: »Lieben Sie sie?« Er zögert kurz, aber zu lange, um ihm unsere Klassiker für Liebende zu empfehlen. Also ein Fall für Mabel Stark, die Lebensgeschichte der legendären Tiger-Dompteuse, um die Empfängerin zu stärken. Er reicht eine Note: »Der Rest ist für Sie«, und flitzt davon.
Man findet neue Bücherfreunde und begegnet alten wieder. So Herr A., Türke, gigantischer Leser von Weltliteratur mit innerem Kompass für unsere Büchertische, taucht auf wie jedes Mal und sagt mit Wehmut: »Ein trauriges Jahr. Wir haben Lars Gustafsson verloren. Auch Imre Kertész haben wir verloren.« Mit diesem »Wir« hüllt er mich ein in die Weltgemeinschaft der Leser, während ich hilflos versuche, einem anderen Kunden auf eine Hunderternote das korrekte Wechselgeld hervorzuklauben.
Ein Kurde mit rotem Stern auf der Mütze und Peschmerga-Hosen winkt stolz ab, als ich Mehmed Uzun empfehle. »Ich lese das Original. Mehmed Uzun hat mich gelehrt, stolz auf die kurdische Sprache zu sein, auch wenn sie schwierig ist.« Aber den Roman von Bachtyar Ali, das kurdische Meisterwerk, wird er auf Deutsch lesen, denn es wurde in Sorani-Kurdisch mit arabischen Lettern geschrieben.
Am Abend ist der Kopf voll von Begegnungen und Geschichten. Und so viel gelernt! Der Büchertisch ist die Lackmusprobe des Büchermachens. Wer den Leser nicht ehrt, ist den Umsatz nicht wert und bekommt moralisches Berufsverbot.
So sollte es sein ...
Mit vielen Grüßen aus Zürich
Lucien Leitess