Liebe Leserin
Lieber Leser
Vor einigen Wochen stand ich in der Bibliotheca Bodmeriana, Genf, vor der Gutenberg-Bibel aus dem Jahr 1452. Welch eine Vollkommenheit schon in der Geburtsstunde des europäischen Buchdrucks! Der Mainzer Goldschmied Gutenberg übernahm mit Umsicht das Beste und Bewährte aus der traditionellen Buchkunst in die revolutionäre Technologie. Schönheit, Sorgfalt, Richtigkeit, Lesefreundlichkeit (heute: »User Experience«) waren von Anfang an selbstverständlich. Blitzartig erkannte ich in diesem Augenblick den tieferen Grund der Leidenschaft, die uns seit vielen Monaten umtreibt: Wir wollen E-Books so produzieren und gestalten, dass wir uns nicht blamieren vor den Generationen all jener Buchhersteller, denen Qualität eine Selbstverständlichkeit war. So selbstverständlich, wie Sie es bei den Büchern der folgenden Vorschauseiten erwarten.
Die Technologie hinter dem E-Book ist nämlich bis heute ein gigantischer, gedankenloser, liebloser Pfusch. Die meisten Ingenieure, die Lesegeräte und Software programmieren, scheren sich keinen Deut um jene Regeln, die jeder Hersteller im ersten Semester seiner Ausbildung lernt. Die Kindle-Entwickler halten zum Beispiel nichts von Silbentrennung, also wird der Satzspiegel immer wieder barbarisch zerrissen. Wenn ein Verlag sich an die geltenden Standards der E-Book-Spezifikation hält, wird er bestraft: Die Tolino-Entwickler etwa warnen dann, das Buch sei vielleicht nicht lesbar und fragen: Wollen Sie trotzdem lesen? Bei unzähligen Details muss der anspruchsvolle Gestalter sich mit Tricks und Kniffen behelfen: Dass ein Initial nicht davontanzt, dass Inhaltsverzeichnisse nicht über Seiten mit lauter schnöden Nummern langweilen, und Unzähliges mehr.
Drum hat der Unionsverlag zur Stunde noch kein einziges E-Book lieferbar. Rundum werden die Partner ungeduldig. Die Marketing-Cracks der Auslieferung Bookwire wollen loslegen. Auch unsere Finanzabteilung braucht die Umsätze, erst recht seit dem Währungsdebakel des Frankens. Aber wir arbeiten noch an einigen Selbstverständlichkeiten der klassischen Buchkunst: Dass für Minuszeichen, Bindestrich, Gedankenstrich, Streckenstrich beim Zeilenumbruch andere Regeln gelten. Dass bei einer Abbildung Überschrift, Bild und Legende nicht auf drei Seiten zerrissen werden. Dass auch Lesegeräte mit dummer Software nach einer Leerzeile keinen Absatzeinzug machen. Dass auch Leser mit einem veralteten Reader einen Schriftwechsel erkennen. Über solchen »Kleinigkeiten« kann man verzweifeln: Produziert die Lösung neue Fehler? Aber wir geben uns Mühe.
Bald ist es so weit. Dann purzeln die E-Books, digital produziert, zu Hunderten aus dem Konverter, den wir mit den Software-Kollegen von le-tex einrichten. Die Autorenbiografien sind tagesaktuell. Satzfehler können jederzeit korrigiert werden. Im Anzeigenteil ist auch das soeben erschienene neue Buch des Autors enthalten. Zusätzliche Bücher werden gezielt vom Verlag empfohlen. Bonusdokumente können nach Belieben hinzugefügt werden. Und wir haben das Wissen und die Produktionsmittel im Hause und müssen nicht Druckdaten nach Indien oder Rumänien schicken, wo sie seriell konvertiert werden mit Resultaten, bei denen sich der Verlag vor Gutenberg schämen muss.
Der Tag, an dem ich dies schreibe, ist der Welttag des Buches. Das E-Book ist nicht die ganze, aber ein Teil der Zukunft des Buches und des Lesens. Verlage und Buchhandlungen sollten auch hier ihre angestammte Rolle wahrnehmen: Der Leserschaft professionelle Qualität bei Inhalt und Darstellung in die Hand geben. Und wir sollten eine Gutenberg-Initiative gründen und mit gemeinsamer Branchenmacht allen Jeff Bezos’ dieser Welt und ihren Ingenieuren ein Sabbatical-Semester »Basiswissen Buchgestaltung und Typografie« verordnen.
Mit vielen Grüßen aus Zürich
Lucien Leitess