24. Mai 2012, Neue Zürcher Zeitung
Von Mansura Eseddin
Während der letzten Wochen und Monate gab es in Ägypten praktisch kein anderes Thema als die anstehenden Präsidentschaftswahlen. Alle blickten gebannt auf das bevorstehende Ereignis, sogar diejenigen, die von vornherein an der Korrektheit des Wahlgangs zweifelten. Millionen Zuschauer verfolgten die spannenden Fernsehsendungen und die zahllosen Werbespots im Vorfeld der Wahlen.
Ja, die Ägypter, die vor der Revolution einen so ausgeprägten Widerwillen gegen die Politik hegten, sind zu wahren Paradeexemplaren des zoon politikon geworden. Praktisch alle haben jede Drehung und Wendung jedes Kandidaten genau verfolgt; wer in ein anderes politisches Lager wechselte, hatte zuvor sorgfältig die Verlautbarungen des betreffenden Kandidaten und deren Übereinstimmung mit seinem Handeln geprüft.
Viele hoffen, dass die Präsidentschaftswahlen dem Land wieder ein Mass an Stabilität und Sicherheit bringen werden. Andere haben ihre Erwartungen zurückgesteckt, weil das Militär nach wie vor alle Fäden zieht und – wie schon beim Parlament geschehen – den künftigen Präsidenten zu einem Strohmann degradieren könnte. Aber sogar diese Pessimisten anerkennen die Bedeutung des Wahlgangs als Schritt zur Schaffung eines politischen Handlungsraums, dank dem das Land – wenn auch vielleicht erst in fernerer Zukunft – aus dem politischen Vakuum, dem Chaos und der Instabilität befreit werden kann, die aus der Misswirtschaft des Militärrats in der Übergangsperiode resultierten.
Das Eigenartige an diesen Präsidentschaftswahlen ist allerdings, dass sie im Endeffekt die politischen Affiliationen der Bevölkerung wohl gar nicht den Tatsachen gemäss reflektieren werden. Denn das Wahlverhalten wird oft nicht etwa von Entscheiden bestimmt, in denen sich tatsächliche politische Standpunkte ausdrücken, sondern vielmehr von Kompromissen und der Furcht vor möglichen Albtraum-Szenarien. So unterstützen zahlreiche Liberale und Linke die Kandidatur des Islamisten und ehemaligen Muslimbruders Abdel Moneim Abul Fotouh, weil sie in ihm einen potenten Kandidaten sehen, der einen moderateren Islam vertritt als die Muslimbrüder und der stark genug ist, den Anwärtern aus dem Umfeld des alten Regimes – nämlich Amr Moussa und Ahmed Shafiq – Paroli zu bieten. Und so finden wir gestandene Gegner von Nasserismus und Nationalismus, die dennoch auf den Nasseristen Hamdin Sabahi setzen, weil sie die Islamisten ebenso fürchten wie die Veteranen des Mubarak-Regimes und weil kein Kandidat, der ihrem Standpunkt entspräche, im Wahlkampf eine reale Chance hat. Das Bestürzendste allerdings ist die Tatsache, dass sogar unter den Trägern der Revolution und eingeschworenen Gegnern der Regierung Mubarak manche beschlossen haben, ihre Stimme Amr Moussa oder gar Ahmed Shafiq zu geben – aus schierer Furcht vor dem Schreckgespenst eines islamischen Gottesstaats.
Infolgedessen kommt es nicht selten vor, dass jemand sagt, er sei zwar hundertprozentig überzeugt vom Programm dieses oder jenes Kandidaten, werde aber nicht für ihn stimmen, weil der Betreffende von vornherein keine Chance auf den Sieg habe. Besonders häufig hört man dies im Zusammenhang mit dem Kandidaten der Revolutionäre, Khaled Ali. Als Aktivist und Direktor des Zentrums für wirtschaftliche und soziale Rechte steht er dem Geist und den Prinzipien der Revolution am nächsten; gleichzeitig verzichtet er in seiner – mangels Geldmitteln sehr bescheidenen – Kampagne auf jeglichen Personenkult und fokussiert ausschliesslich aufs Programm. Das ist rar in einem Wahlkampf, in dem die meisten Kandidaten vor allem die eigene Person ins Zentrum setzen und sich als charismatische Führergestalten präsentieren wollen; als Ausnahme in dieser Hinsicht wäre nebst Ali noch Mohammed Morsi zu nennen, der wenig populäre Kandidat der Muslimbrüder, dessen Chancen vor allem darin liegen, dass er die bestorganisierte und in der Bevölkerung am solidesten verankerte Gruppierung repräsentiert.
Von denen, die unverbrüchlich an den Träumen der Revolution festhalten, werden die einen und anderen trotz allem die Stimme für Khaled Ali einlegen, weil sie in ihm eine Verkörperung der Visionen und Hoffnungen sehen, welche die Revolte von Anfang an getragen haben. Aber die Unterstützer Alis sehen sich nicht selten mit der Missbilligung ihrer Weggefährten konfrontiert, die ihnen nahelegen, doch lieber Abul Fotouh oder Sabahi zu wählen, statt das Stimmenpotenzial der Revolutionäre auf mehrere Kandidaten zu verzetteln. Die Ursache dieses Problems liegt aber vor allem darin, dass die Amtsanwärter aus dem Umfeld der Revolution es in den vergangenen Monaten nicht fertiggebracht haben, ihre Reihen zu schliessen und sich untereinander auf die Unterstützung eines einzigen Kandidaten zu einigen.
Unter den Präsidentschaftskandidaten stellt Abdel Moneim Abul Fotouh einen eigentlichen Sonderfall dar. Seine Anhängerschaft reflektiert fast das gesamte politische Spektrum Ägyptens und führt Leute zusammen, die ihr Heu schwerlich auf derselben Bühne haben. Er ist der einzige Kandidat, hinter dem sich gleichzeitig militante Salafisten und gemässigte Muslime, Liberale und Linke scharen, die ihre ganz unterschiedlichen Zukunftshoffnungen auf ihn setzen; und der seinerseits mit diesen unterschiedlichen Partnern zu flirten weiss, indem er die Sprache jedes einzelnen spricht.
Die Liberalen und die Linken scheinen Abul Fotouh bedingungslos zu unterstützen – jedenfalls insofern, als sich unter ihnen kein Konsens abzeichnet, wie man ihn auf einen Kurs verpflichten könnte, der zivilgesellschaftlichen Interessen mehr Rechnung trägt und die Religion nicht mit der Politik vermischt. Aber die Waagschale von Abul Fotouhs Überzeugungen scheint zunehmend den extremeren religiösen Standpunkten zuzuneigen. Das wurde etwa aus seinen Ankündigungen ersichtlich, dass er die Produktion alkoholischer Getränke unterbinden und eine Steuer auf Zigaretten erheben wolle oder dass im Falle seines Wahlsiegs die Scharia nicht nur geistige Grundlage der Gesetzgebung sein, sondern auch praktisch angewendet werden solle. Dennoch scheint dieser Kandidat in den Augen seiner säkularen Anhänger einstweilen das kleinere Übel als der Muslimbruder Morsi oder die Repräsentanten des alten Systems zu sein.
Wie schon bei den Wahlen für den Volksrat instrumentalisieren die Islamisten den Glauben für ihre Sache und erpressen die Wähler in seinem Namen. So verkündete etwa Scheich Ahmad al-Mahlawi, der Imam der Al-Qaed-Ibrahim-Moschee in Alexandria, dass die Stimmbürger bei den Wahlen mitnichten frei entscheiden dürften, sondern quasi per Gesetz dazu verpflichtet seien, Mohammed Morsi zu wählen, wobei er betonte: «Es obliegt dem Volk, den Alten und Weisen zu folgen, die beim Fällen ihrer Entscheide keine Mühe gescheut haben.» So sollen also die Bürger von mündigen Individuen in eine Herde zurückverwandelt werden, die aus schierer Furcht vor Höllenqualen hinter ihren religiösen Führern hertrottet; die Wählerstimme wird eine Art Eintrittskarte zum Paradies – und dem, was an Wahlen und Demokratie wesentlich ist, wird der Todesstoss verpasst.
Al-Mahlawis Verlautbarungen waren nicht die einzigen dieser Art; die Muslimbrüder verstehen es, ihren Kandidaten als einzigen wahren Vertreter des Islams zu portieren, den nicht zu wählen nachgerade einer Abwendung vom Glauben gleichkommt. Ausserdem greifen sie auf ihre bewährte Strategie zurück, mit der Verteilung von Geld und Lebensmitteln auf dem Land und in ärmeren Quartieren auf Stimmenfang zu gehen; auch können sie mit breiter Unterstützung aus der Mittelschicht und den Reihen ihrer Anhänger rechnen. Allerdings wurmt es sie gewaltig, dass ihnen mit Abdel Moneim Abul Fotouhs Kandidatur scharfe Konkurrenz ausgerechnet vonseiten eines vormaligen prominenten Mitglieds ihrer Organisation erwächst, das obendrein bei deren jüngeren Mitgliedern nach wie vor viel Sympathie geniesst.
Wie immer die Präsidentschaftswahlen ausgehen mögen: Wenn sie einigermassen korrekt und transparent verlaufen, bedeuten sie allemal einen wichtigen Schritt auf einem steinigen und langen Weg. Sollte jedoch das Militär der Versuchung nachgeben, die Wahlresultate zu manipulieren oder den gewählten Präsidenten auszumanövrieren, würde das eine neue Welle von Gewalt und Chaos nach sich ziehen.
Mansura Eseddin, 1976 im Nildelta geboren, ist Schriftstellerin und Redaktorin der bekannten Literaturzeitschrift «Akhbar al-Adab». 2011 erschien ihr Roman «Hinter dem Paradies» auf Deutsch beim Unionsverlag. – Aus dem Arabischen von as.
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