»Die Reformen sind auf den richtigen Weg gebracht. Doch Ankara muss auch die Rechte der Kurden achten.«
Yasar Kemal zum Beitritt der Türkei in die EU
Interview mit Marco Ansaldo in »La Repubblica«, 15.12.2002
»Europa hat Recht: Die Türkei ist noch nicht so weit, um der EU beizutreten. Noch gibt es zu viele Unzulänglichkeiten im Bereich der Menschenrechte und bürgerlichen Freiheiten. Aber dieses Land ist auf dem richtigen Weg. Und wichtige Schritt sind bereits unternommen hin zu einer echten Demokratie und nicht in eine Scheindemokratie, was sie heute ist. Seit zweihundert Jahren strebt die Türkei nach Europa und der Moment ihres Beitrittes wird bald kommen.«
Warum will Europa die Türkei nicht?
»Wird wirklich so gesprochen? Ich glaube nicht, dass es sich um einen bösen Willen gegen uns handelt.«
Aber bis gestern sagte Ankara, dass es sich nicht von den europäischen Ländern an der Nase herumführen lässt .
»Aber das glauben nur Recep Tayyip Erdogan [der Vorsitzende der islamisch-konservativen Partei für Entwicklung und Gerechtigkeit AKP, dem Wahlsieger bei den letzten Parlamentswahlen] oder die Religiösen. Ich hingegen denke an die EU als eine Kraft des Friedens. Ich habe die Gründer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gekannt und weiß sehr wohl, dass der Friede eines ihrer Ziele ist, war die Gemeinschaft doch aus zwei Weltkriegen und einem verheerenden Kalten Krieg heraus entstanden.«
Und warum will die Türkei zu Europa?
»Seit zweihundert Jahren, seit den Zeiten des Sultans Mahmud II., wollen wir Europa beitreten. Das war eine fixe Idee des Osmanischen Reiches. Aber viele Gründe haben es verhindert: der Analphabetismus, innere Kriege und die Revolution Atatürks. Dies ist ein konfuses Land und es hat nie dieses Ziel erreicht.«
Einige vertreten die Meinung, dass die Türkei der EU nicht beitreten kann, weil es ein islamisches Land sei mit einer anderen Kultur. Was antworten Sie darauf?
»Die italienische Kultur, oder die Frankreichs oder Spaniens sind nicht im eigentlichen Sinne europäisch, jedes Land hat seine Individualität. Und jede Kultur nährt die andere. Die Welt ist wie ein Garten mit tausend und einer Blume. Pflückt man nur eine Blume, wird die Menschheit dieser einen Blume beraubt.«
Also ist Europa kein Club mehr, der alleine Christen vorbehalten ist?
»Das habe ich nie geglaubt. In Europa leben bereits fünfzehn Millionen Muslime. Hinzu kommen Juden, Buddhisten. Und wenn erst die zehn neuen Staaten beigetreten sind, werden es noch mehr Nicht-Christen sein. Dennoch ist ein Beitritt schwierig. Wenn Sie bei einem englischen Club anklopften, würden Sie nicht aufgenommen. Nicht einmal ein Journalistenverband würde Sie aufnehmen, wenn Sie kein Journalist sind.«
Gewiss. Und die Türkei ist europäisch?
»Die Türkei ist europäisch, wenn sie die von Europa geforderten demokratischen Grundsätze verwirklicht.«
Und hat sie sie Ihnen zufolge verwirklicht?
»Das türkische Volk ist sehr demokratisch eingestellt, aber man hat ihm die Demokratie nie gegeben. Wie kann es in einem Land, in dem sechzig Millionen Menschen leben, wovon zwanzig Millionen Kurden sind, immer problematisch sein, in kurdischer Sprache zu unterrichten, und das obwohl der Staat Türkei ein von beiden Völkern gemeinsam gegründet wurde? Die neuen Reformen haben >Kurse< auf Kurdisch ermöglicht. Aber die Schule ist eine andere Sache.«
Was wollen Sie damit sagen?
»Dass die Demokratie in der Türkei das Kurdenproblem übergeht und man nicht von Demokratie sprechen kann, wenn die Rechte von zwanzig Millionen Menschen nicht respektiert werden.«
Aber die Todesstrafe ist abgeschafft worden. Und was die Menschenrechte betrifft, so werden sie mehrheitlich geachtet, oder?
»Ja, Reformen wurden durchgeführt. Aber noch sterben Menschen in den Gefängnissen. Und es gibt Dutzende Opfer von Hungerstreiks. Ist es möglich, dass nach Gandhi heute noch Menschen auf diese Weise sterben müssen?«
Die bisher von Europa geäußerten Zweifel sind somit gerechtfertigt?
»Vom Gesichtspunkt demokratischer Grundsätze aus betrachtet, ja. Bis zu einem festgesetzten Beitrittstermin hin muss es uns gelingen, unsere Demokratie zu verbessern.«
Sprechen wir über die Befürchtungen in Bezug auf die islamische Partei, die jetzt an der Macht ist: Man fragt sich, ob sie wirklich gemäßigt ist oder eine radikale Seele verbirgt.
»Sie vermag einer modernen Partei zu ähneln, aber ihre Konturen sind noch nicht genau umrissen. Nachdem die Vorläuferparteien der AKP verboten worden sind, muss man abwarten, um zu sehen wie die Reformen umgesetzt werden.«
Und was sagen Sie zu Erdogan, Exbürgermeister von Istanbul, heute umjubelter Führer, obwohl die Militärs ihm eine Kandidatur versperrt haben?
»Ich habe gehört, dass Europa ihn mit großem Pomp aufgenommen hat, so als wäre er schon der Staatschef, obwohl er gar keine offizielle Funktion hat.«
Wie europäisch fühlt sich die Türkei, wenngleich sie noch nicht Teil der Europäischen Union ist?
»Wir müssen uns fragen, warum die europäische Kultur im Mittelmeerraum entstanden ist. Meine Antwort ist, dass Griechenland, Ägypten und Mesopotamien sich im Mittelmeerraum befinden. Die Welt ist eine lange Kette von Emigrationen, und alle Zivilisationen von damals bilden nun in diesem Raum eine Synthese.«
Und was ist mit den Türken?
»Die türkische und anatolische Kultur haben der europäischen viel gegeben: in der Literatur, den Künsten, der Philosophie. Denken Sie an Homer, an Thales von Milet, an die Sieben Weisen. Wie viele große Poeten wie Nazim Hikmet hätten wir haben können, wenn in den letzten hundert Jahren unsere Kultur nicht eingeschränkt worden wäre. Anatolien ist ein Stück Land, das viele Kriege gesehen hat, aber wenn es nie existiert hätte, wäre nicht einmal die Ilias entstanden.«