Liebe Leserin
Lieber Leser
Vielleicht macht eines Tages die Autorin oder der Autor Ihres Herzens auf Lesereise Station in Ihrer Stadt. Sie ergattern ein Ticket und einen Sitzplatz. Vielleicht sind Sie gar der Veranstalter. Wenn alle ihre Sache recht machen, gelingt der Abend, und danach wissen Sie, wie dieser Mensch geartet ist, dessen Bücher Ihnen schon seit Langem unter die Haut gegangen sind. Alles ganz einfach.
Sie ahnen vielleicht nicht, wie kompliziert das alles ist. Seit Monaten wird im Verlag mit optimalen Reiserouten und Terminen jongliert — man darf die Karawane aus Autor, Übersetzer, Reisebegleiter ja nicht im Zickzack durch die Lande jagen. Fahrkarten und Flugtickets müssen organisiert, Hoteladressen beschafft, Lesestellen bestimmt, Lückentage eingeschaltet oder gefüllt werden. Wer macht die Einführung? Braucht es einen Schauspieler? Interviews: von Herzen, mit Schmerzen, ein wenig oder gar nicht? Jeweils lieber am Nachmittag, am Vormittag oder gar als Frühstückstermin? Schätzt der Autor eine Siesta? Eine Ruhestunde vor dem Abend? Zuletzt füllt der Reiseplan pro Tag eine Seite mit sechs Spalten.
Was Ihnen leider entgeht, sind die tausend Geschichten, Erlebnisse und Begegnungen auf dem Weg von einer Station zur anderen. Wie Tschingis Aitmatow in Weimar einen Obolus von seinem Honorar an den nicht mehr copyrightgeschützten Altmeister entrichtet. Wie Salim Alafenisch angesichts der weltweit einzigartigen Kamelsammlung in Gisela Treichlers Travel Book Shop in Verzückung gerät. Wie Juri Rytchëu in einer bayerischen Kleinstadt von etwa 1000 Einwohnern 150 Gäste begrüßt und anschließend vom Buchhändler erfährt, dass er im Lauf der Jahrzehnte an die 800 Exemplare von Traum im Polarnebel verkauft hat. Das Privileg Reinhold Messners, in Galsan Tschinags Familienjurte eine »Privatlesung« zu genießen, ist leider nicht jedem geschenkt.
Es ist wie beim Zirkus: Damit der Trapezkünstler im Rampenlicht das Publikum bezaubern kann, braucht es auch die Zeltarbeiter, die vorher und nachher im Verborgenen ihre Arbeit tun. Ihnen allen sei an dieser Stelle für einmal ausdrücklich gedankt.
Mit vielen Grüßen aus Zürich
Lucien Leitess