Einleitung
Diese kleine Lehrschrift möchte den Autoren, dem Publikum und nicht zuletzt der Kritik vor Augen führen, wie ein Theaterstück entsteht und welche Verwandlungen es durchlaufen muss, ehe es sich im vollen Glanz und aller Herrlichkeit seiner Premiere präsentieren kann. Wir wollen hier keineswegs den fälschlichen Eindruck erwecken, als verstünden wir das Theater. Fakt ist, dass niemand das Theater versteht, weder die auf den Brettern in Ehren Ergrauten noch der älteste Direktor, ja nicht einmal die Kritiker. Du lieber Gott, wenn der Dramaturg bereits wüsste, ob ein Stück einschlagen wird! Wenn dem Schauspieler schon vorher zugeraunt würde, dass er groß rauskommen wird, dann, ja dann könnte man sich genauso unaufgeregt und solide mit dem Theater befassen, wie man das Tischlerhandwerk oder die Seifensiederei betreibt. Aber das Theater ist eine Kunst wie das Kriegeführen und ein Glücksspiel wie das Roulette; niemand weiß von vornherein, wie es ausgehen wird. Nicht nur bei der Premiere, sondern Abend für Abend ist es das reinste Wunder, dass überhaupt gespielt wird, und wenn dann gespielt wird, dass man bis zum Ende durchspielt. Ein Theaterstück entsteht nämlich nicht durch die einfache Umsetzung eines Plans, sondern durch die ununterbrochene Überwindung unzähliger und unvorhergesehener Hindernisse. Jede Leiste im Bühnenbild und jeder Nerv im spielenden Menschen können jeden Augenblick versagen; das tun sie zwar für gewöhnlich nicht, aber dennoch ist die Situation immer prekär. Sie kann kann gar nicht anders sein.
Es sei hier nicht die Rede von der dramatischen Kunst und ihren Geheimnissen, sondern lediglich vom Theaterhandwerk und seinen Geheimnissen. Gewiss wäre es dankbarer, zu überlegen, wie das Theater idealerweise zu sein hätte und umzusetzen wäre, aber jedes Reden über Ideale täuscht nur über die komplexe und sonderbare Wirklichkeit des Bestehenden hinweg. Wir wollen hier nicht die potenziellen Möglichkeiten des Kollektivdramas oder der konstruktivistischen Bühne erörtern, denn im Theater ist schlichtweg alles möglich, es ist ein Ort der Wunder. Das größte Wunder freilich ist, dass es überhaupt vonstattengeht. Wenn sich abends um acht Uhr der Vorhang hebt, dann sei man sich bewusst, dass dies ein glücklicher Zufall oder geradezu ein Mirakel ist.
Obwohl wir der Versuchung, hier von der Kunst zu sprechen, bislang erfolgreich widerstanden haben, möchten wir der göttlichen Muse doch gern wenigstens in der Einleitung ein Kerzlein anzünden. Niemals werden Sie die Ärmste in vollem Glanz erblicken, Sie werden sie erschöpft sehen von den Proben, erkältet, allerlei Kränkungen ausgesetzt, übler Schinderei und den verdrießlichen Ärgernissen der Kehrseite des Theaters. Steht sie dann bei Festbeleuchtung und geschminkt vor Ihnen auf der Bühne, so seien Sie gewahr, was sie alles zu erdulden hatte – nun, auch dies zeugt von tieferem Verständnis für die dramatische Kunst.
Und dann gibt es da noch die anderen Menschen hinter, auf und unter der Bühne, die gemeinsam den Thespiskarren ziehen und schieben. Obwohl sie ihren Part sehr naturalistisch verkörpern, in Zivilgarderobe oder blauen Kitteln, spielen sie beim Entstehen eines Theaterstücks dennoch eine wichtige Rolle. Auch sie seien daher hier gewürdigt.
Die ersten Anfänge
Seinen ersten keimenden, tapsenden Anfang erlebt das Theaterstück freilich außerhalb des Theaters, auf dem Schreibtisch des ambitionierten Autors. Ins Theater kommt es erst dann, wenn es der Autor für fertig hält. Bald darauf – in einem halben Jahr oder so – erweist sich jedoch, dass es mitnichten fertig ist. Im günstigsten Fall wandert es dann zum Autor zurück mit der Aufforderung, er möge es doch bitte kürzen und außerdem den letzten Akt umschreiben. Aus irgendwelchen geheimnisvollen Gründen ist es immer der letzte Akt, der umgeschrieben werden muss, genau wie es immer der letzte Akt ist, der auf der Bühne garantiert misslingt und in dem die Kritik ausnahmsweise einhellig die Schwäche des Stücks erkennt. Es ist verwunderlich, dass Theaterautoren trotz dieser unumgänglichen Erfahrung bei ihren Stücken jeweils auf einem letzten Akt bestehen. Es sollten einfach gar keine letzten Akte geschrieben werden. Oder aber man schneidet den letzten Akt grundsätzlich weg, wie man bei Bulldoggen den Schwanz kupiert, um ihre Silhouette nicht zu verunstalten. Oder man führt das Stück andersrum auf, beginnt mit dem letzten Akt und setzt den ersten, der immer als der beste gilt, an den Schluss. Kurz und gut, es muss etwas passieren, um die Bühnenautoren ein für alle Mal vom Fluch des letzten Aktes zu befreien.
Wenn nun also der letzte Akt zwei- oder dreimal eingestrichen und umgearbeitet und das Stück einmal angenommen worden ist, beginnt für den Autor die Wartezeit. Das ist die Periode, wo der Autor gänzlich aufhört, zu schreiben oder sonst was zu tun, wo er weder in der Lage ist, Zeitung zu lesen oder in den Wolken zu schweben, noch, zu schlafen oder anderswie die Zeit totzuschlagen, denn er lebt im Taumel der Erwartung darauf, dass er gespielt, wie er gespielt und wann er gespielt werden wird und so weiter. Ein Autor, der wartet, ist vollkommen unansprechbar; nur ganz abgefeimte Autoren können ihre Ungeduld im Zaum halten und so tun, als dächten sie hie und da auch an etwas anderes als an ihr angenommenes Stück. Der Theaterautor mag sich vorstellen, bereits bei Niederschrift der letzten Zeilen stehe der Theaterbote nervös hinter ihm und bestelle eilig, der Herr Autor möge doch ums Himmels willen endlich den besagten letzten Akt schicken, übermorgen sei schließlich schon Premiere, und er, der Bote, dürfe keinesfalls ohne den letzten Akt zurückkommen, und so weiter. So ist es natürlich nicht: Wenn das Stück erst mal angenommen ist, muss es zunächst eine gewisse Zeit im Theater ablagern, wodurch es an Reife gewinnt und sozusagen mit Theaterluft durchtränkt wird. Es muss schon deswegen eine Zeit lang liegen bleiben, damit man es dann als »Mit Spannung erwartete Novität« ankündigen kann. Rücksichtslos versuchen manche Autoren, diesen Reifungsprozess mit persönlichen Drohungen zu beschleunigen, zum Glück bleiben sie in der Regel ohne Erfolg. Die Sache muss ihrem natürlichen Verlauf überlassen werden. Wenn das Stück dann einmal genügend abgelagert ist, fängt es irgendwie an zu müffeln, und man muss raus damit, raus auf die Bühne; das heißt, zunächst einmal in den Probesaal.
Die Besetzung
Bevor mit den Proben begonnen werden kann, müssen natürlich erst einmal die Rollen besetzt sein, wobei der Autor die wertvolle Erfahrung macht, dass das gar nicht so einfach ist. Im Stück sind, sagen wir: drei Damen und fünf Herren vorgesehen, und für diese acht Rollen hat er an die acht oder neun Stars des Theaters gedacht und verkündet, genau ihnen seien diese Rollen auf den Leib geschneidert, niemand anderen als sie habe er sich dafür vorgestellt – ein Wunder, dass er nicht noch den seligen Sonnenthal für eine Minirolle aus dem Grab beschwört: eine kleinere Rolle zwar, aber von besonderem Gewicht! Gut, er unterbreitet den Vorschlag dem vorgesehenen Regisseur, und die Sache wandert, wie man so sagt, »nach oben«. Nun aber zeigt sich, dass:
1. Frau A die Hauptrolle nicht spielen kann, weil sie zur gleichen Zeit eine andere Hauptrolle hat,
2. Frau B die Rolle, die ihr der Autor zugedacht hat, unter beleidigtem Protest zurückgibt: Das sei doch wirklich nichts für sie,
3. Fräulein C nicht die Rolle gemäß Autorenwunsch bekommen kann, weil sie schon in der vorigen Woche gespielt hat und jetzt Fräulein D beschäftigt werden muss,
4. Herr E auf die männliche Hauptrolle verzichten soll, weil Herr F sie bekommen muss, den man neulich um die Rolle des Hamlet gebracht hat, um die er sich bemüht hatte, die damals aber Herr G erhielt,
5. Herr E stattdessen die fünfte Rolle haben könne, die er aber leider zurückgibt, tödlich erbost darüber, dass der Autor ihm nicht die vierte Rolle zugeteilt habe, die doch absolut in sein Fach gehöre,
6. Herr H sich schonen muss, weil er infolge eines Konfliktes mit dem Schauspieldirektor erkältet ist,
7. Herr K die Rolle Nummer 7 nicht spielen kann, weil niemand Besseres für die zurückgegebene Rolle Nummer 5 da ist; sie fällt zwar nicht in sein Fach, aber er wirds schon schmeißen,
8. die achte Rolle – ein Telegrafenbote – mit besonderem Entgegenkommen ganz nach Wunsch des Autors besetzt wird.
So kommt es, dass die Sache nicht nur ganz anders ausfällt, als es sich der unerfahrene Autor vorgestellt hat, sondern auch zur allgemeinen Verbitterung aller Mitwirkenden führt, die dem Autor nicht verzeihen können, dass er ihnen nicht von vornherein ihre Rolle zugedacht hat.
Vom Augenblick an, wo die Rollen verteilt sind, entstehen im Theater zwei Meinungen: zum einen, dass es im Stück sehr schöne Rollen gebe, die aber leider schlecht besetzt seien, und zum anderen, dass es darin von schlechten Rollen nur so wimmele, aus denen sich nichts, aber auch gar nichts machen lasse, und wenn man sich auf den Kopf stelle.
Die Regie
Der Regisseur, der mit der Regie des Stücks betraut worden ist, geht von der vernünftigen Annahme aus, dass man dem Stück sozusagen erst einmal auf die Beine helfen muss, das heißt, man muss es natürlich ganz anders aufziehen, als der Autor es sich zusammengereimt hat.
»Wissen Sie«, sagt der Autor, »ich habe mir so ein stilles Kammerspiel vorgestellt.«
»Das wäre verkehrt«, antwortet der Regisseur, »dieser Text muss vollkommen grotesk gespielt werden.«
»Klara, das ist so ein verschüchtertes, passives Wesen«, erklärt der Autor weiter.
»Wo denken Sie hin«, wendet der Regisseur ein, »Klara ist eine ausgesprochene Sadistin. Sehen Sie, hier auf Seite 37 sagt Danesch zu ihr: ›Quäl mich nicht, Klara.‹ – Dabei wird sich Danesch auf dem Boden winden, und sie steht daneben und bekommt einen hysterischen Anfall, nicht wahr?«
»Aber so habe ich das nicht gemeint«, wehrt sich der Autor.
»Das ist die beste Szene«, konstatiert der Regisseur trocken, »sonst hätte der erste Akt doch gar keinen Schluss.«
»Das Bühnenbild ist ein schlichtes, bürgerliches Wohnzimmer«, erklärt der Autor weiter.
»Aber es muss auf jeden Fall irgendeine Treppe oder ein Podest hin«, sagt der Regisseur.
»Wozu ein Podest?«
»Damit Klara drauf stehen kann, wenn sie ›Niemals!‹ ruft, den Moment muss man hervorheben, verstehen Sie? Ein Podest, mindestens drei Meter hoch, und im dritten Akt springt dann Bienert da herunter.«
»Wieso sollte er dort herunterspringen?«
»Weil hier in Ihrer Regieanweisung steht: ›Stürzt ins Zimmer.‹ Das ist überhaupt eine der stärksten Stellen. Wissen Sie, dieses Stück kann ein bisschen mehr Lebendigkeit vertragen. Sie haben doch sicher nicht an irgend so eine konventionelle Dutzendkomödie gedacht?«
»Natürlich nicht«, sagt der Autor rasch.
»Na bitte …«
Um hier schon mal Einblick in die tieferen Geheimnisse der dramatischen Kunst zu geben: Ein schöpferischer Autor ist jemand, der sich nicht durch die Bühne festlegen lässt, und ein schöpferischer Regisseur ist jemand, der sich nicht vom Text festnageln lässt. Was den schöpferischen Schauspieler angeht, so bleibt dem armen Teufel keine andere Wahl, als sich entweder an sich selbst zu halten, was natürlich eine »völlig falsche Auffassung von Regie« wäre, oder an den Regisseur, was wiederum eine völlig falsche Auffassung von der Rolle des Schauspielers wäre.
Tritt durch besondere Umstände der außergewöhnliche Fall ein, dass bei der Premiere niemand im Dialog stecken bleibt, dass keine schlecht angeschraubte Kulisse umfällt, kein Scheinwerfer durchbrennt und auch sonst kein Unglück passiert, dann wird dem Regisseur von der Kritik lobend »eine sorgfältige Regie« bescheinigt. Was reinster Zufall ist. Bevor wir allerdings zur Premiere schreiten, müssen wir noch das Martyrium der Proben durchstehen.