Ein Buch wie eine Mine. Wie zwei Minen, eine Goldmine und eine Tretmine. Ein Roman, der tief in die islamisch-arabische Welt vordringt, der die gesamten über vierzehn islamischen Jahrhunderte abschreitet, Personen evoziert und Geschriebenes zitiert, aber auch noch auf ältere Traditionen, auf weniger gut belegte Überlieferung und die Mythologie zurückgreift und dazuhin mit beißender Schärfe neue, heutige Ereignisse und Entwicklungen geißelt. Gleichzeitig ein Roman, der gerade wegen seiner Weite und wegen seines Umgangs mit Vergangenem und Gegenwärtigem in seinem Herkunftsland, Saudi-Arabien, anstößig ist für die herrschende Lehre, die verordnete Moral und das erwartete Denken.
Das Halsband der Tauben ist ein Roman aus und über Mekka, eine Liebeserklärung an und eine Elegie auf die Stadt, die Heimatstadt der Autorin, die darin viel Gegensätzliches findet, dicht nebeneinander: Aufrichtigkeit und Verlogenheit, Reichtum und Armut, Schönheit und Hässlichkeit, das Geflüster der Vergangenheit und das Hereinbrechen der Zukunft.
Mekka ist die Geburtsstadt und langjährige Wirkungsstätte des Propheten Muhammad, der dort um das Jahr 570 n. Chr. das Licht der Welt erblickte und seine Spuren hinterließ. In der Umgebung der Stadt wurde ihm der Koran offenbart, und er hat das schon alte Heiligtum, die Kaaba, zu einem islamischen gemacht, zum Zentrum ritueller Orientierung für heute gegen anderthalb Milliarden Muslime auf der Welt, die sich beim Gebet, sofern sie es verrichten, dorthin orientieren.
Ein Ort, schwer mit religiösen Mythen: Adam, der erste Prophet, er, vor dem die Engel sich verneigten, ist teilweise aus dem Staub der Kaaba geschaffen und gemeinsam mit seiner Frau Eva und einem seiner Söhne, dem nach Abels Tod geborenen Seth, bei Mekka begraben. Abraham, der »Freund Gottes« und eigentlicher Begründer des Monotheismus, den Gott mit dem Befehl, seinen Sohn Ismail zu opfern, prüfen wollte, wirkte in Mekka. Mit diesem Sohn habe er auch, auf einem Fundament von Edelsteinen aus dem Paradies, die Kaaba errichtet. Und der Schauder, den der Heilige Bezirk bei Gläubigen erzeugt, zieht sich als eine Konstante durch historische Berichte und durch den Roman von Raja Alem.
Der Moscheebezirk, den die Stadt beherbergt, ist eine der »beiden heiligen Stätten«; die andere liegt in Medina, dem Zufluchtsort und langjährigen Wohnsitz des Propheten. »Hüter der beiden Heiligtümer« ist bis heute einer der Titel, die der König von Saudi-Arabien trägt.
Jenseits des Mythischen und des Religiösen, aber fest mit diesen verflochten, ist Mekka auch eine reale Stadt, ein politisch-sozialer Ort, in dem Menschen wohnen, viele Menschen: Man spricht von etwa zwei Millionen. Zu diesen kommen, und das ist eine immense logistische Aufgabe, etwa fünfzehn Millionen Personen, die Mekka alljährlich als Pilger aufsuchen, deren Inbrunst kommerzialisiert wird und die die Stadt vor Probleme stellen, die bewältigt werden müssen und aus denen manche Profit schlagen können. Die Stadt befindet sich in einem ungeheuren Entwicklungsprozess, dem vieles zum Opfer fällt, das der Tradition lieb und teuer war. Inwiefern diese Umgestaltung legitim oder sinnvoll sei, ist Gegenstand von Debatten, auch in Raja Alems Roman. Mekka ist also auch eine normale, gar triviale Stadt am Beginn des 21. Jahrhunderts, regiert von Geld und Gier, von Ruhmsucht, Eitelkeit und anderen menschlichen Instinkten und beherrscht von einer repressiven Regierung und ihren Exekutivorganen. Die Stadt steht, wie es im Roman einmal heißt, »am Rande des Jüngsten Gerichts«, ein Fluch liegt in der Luft.
Dass das Buch trotzdem eine Liebeserklärung an Mekka ist, lässt sich am unmittelbarsten dem Titel entnehmen, der bei jedem literarisch auch nur ein wenig gebildeten Araber ein Aha-Erlebnis auslöst. Aus dem 11. Jahrhundert stammt ein Buch mit dem fast identischen Titel Das Halsband der Taube, ein Buch über die Liebe: ihr Wesen, ihr Entstehen, ihre Charakteristika, ihre Wechselfälle und das Verhalten von Liebenden. Es ist nicht das einzige Werk seiner Art in der älteren arabischen Literatur, aber wohl das bekannteste. Sein Autor, Ibn Hasm (994–1064 n. Chr.), gebürtig aus Cordoba, war ein vielseitiger Gelehrter und Autor historischer, juristisch-theologischer und »belletristischer« Werke. »Durch sein Buch pulsiert das warme Leben«, schreibt der deutsche Übersetzer Max Weisweiler, und der Autor sieht als eines unter zahlreichen Kennzeichen der Liebe »das beständige Anschauen des geliebten Wesens«. Es ist das Buch, das Nora bei ihrem Toledo-Besuch in hebräischer Übersetzung geschenkt bekommt.
Doch das Ibn Hasm’sche Buch ist nicht das einzige aus der älteren arabischen Literatur, das Eingang in Raja Alems Roman gefunden hat. Auch andere »Klassiker« werden herangezogen: Beispielsweise Das geografische Lexikon des Jakut al-Hamawi (1179-1229), eine umfangreiche Enzyklopädie, die nicht nur Basisinformationen über Städte, Provinzen, Regionen usw. vermittelt, sondern diese auch mit großen Mengen an Berichten, Anekdoten und Gedichten anreichert; oder Das Buch der Tiere aus der Feder des frühislamischen »Feuilletonisten« al-Dschahis (776/7–868/9), eine vielbändige Sammlung von Essays mit Informationen, traditionellem Wissen und kritischen Betrachtungen über Tiere und ihr Verhältnis zum Menschen; oder die Mantelode al-Bussiris (1212–ca. 1294), ein Preislied auf den Propheten, verfasst nach einer Wunderheilung durch den im Traum erschienenen Muhammad, der dem Autor einen Mantel umlegte; oder auch Die Inkohärenz der Inkohärenz des Ibn Ruschd aus Cordoba (1126–1198), bekannt als Averroes, den man früher »den Kommentator« nannte, weil durch seine ins Lateinische übersetzten Kommentare viele Werke des Aristoteles in Europa bekannt wurden. Sein Argument, die Philosophie sei der Offenbarung vorzuziehen, das Denken also dem Glauben, hat denn auch im spätmittelalterlichen Europa zu heftigen Kontroversen geführt.
Mekka ist, anders als beispielsweise Kairo und Alexandria, Beirut und Tripoli, Casablanca und Fes, (noch) kein häufig beschriebener Ort in der zeitgenössischen arabischen Literatur. Dazu ist die saudi-arabische Literatur zu neuen Datums. Ausgangspunkt dieses Romans ist eine einfache, ja, schäbige Gasse, die Vielkopfgasse, die bis zu ihrem Ende unter den Bulldozern Erzählerstatus innehat. Pate hierfür hat möglicherweise einer der berühmtesten Romane des ägyptischen Nobelpreisträgers Nagib Machfus (1911–2006), Die Midaq-Gasse, gestanden, auch wenn bei ihm die Gasse nicht das Wort erhält, sondern einfach zentraler Schauplatz, ja, Romanheld ist. Doch bei Nagib Machfus ebenso wie bei Raja Alem steht der trügerischen Gassenidylle eine andere Welt gegenüber. Bei Raja Alem nicht mehr nur ein anderer, moderner Stadtteil wie in der Midaq-Gasse, sondern ein Geflecht von globalisierten Geld-, Unternehmens- und Immobilienimperien. Diese die Vielkopfgasse umgebende Welt ist es, die sie schließlich auch erdrückt, sie steht hinter der gesamten Umgestaltung der Heiligen Stadt.
Der Fluch, der über der Stadt schwebt, wird gleich zu Beginn des Romans konkret: Eine junge Frau liegt tot und mit einem bis zur Unkenntlichkeit verunstalteten Gesicht in der Gasse, eine andere ist verschwunden. Zwei fehlende Frauen, aber nur eine Leiche. Ein Fall für Inspektor Nassir, den angesehenen Ermittler. Er sieht sich aber mit zahlreichen schwer zu überwindenden Wänden konfrontiert: der Wand der Gasse und ihrer Bewohner, der Wand politisch-gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen und der Wand seiner eigenen Komplexe. Als er jedoch Jussufs Artikel über Geschichte und Gegenwart Mekkas und Aischas an einen deutschen Liebhaber gerichtete E-Mails findet, ist er gezwungen, seinen Horizont in mehrere Richtungen zu erweitern. Jussuf präsentiert dem Inspektor die Dimension eines aufrichtigen, geradlinigen, gläubigen Intellektuellen, der tief in der Geschichte seiner Heimatstadt verwurzelt ist. Aischa führt ihn in emotionale Bereiche, die er nie zu betreten gewagt hatte; ihre Briefe sind durchwirkt mit Zitaten aus nicht-arabischer Tradition, aus dem Roman Liebende Frauen (1920), in dem D. H. Lawrence lebensfeindlichen Tendenzen die Suche nach neuen Prinzipien im Verhältnis von Mann und Frau gegenüberstellt und eine bisher unbekannte Art individuellen emotionalen Erlebens vorführt, eine Ideenwelt, die das Vorstellungsvermögen des Inspektors sprengt und ihn in seinen Grundfesten erschüttert. Doch am Schluss kann er sich der Verführung des großen Geldes nicht entziehen.
Das Personenspektrum, das Raja Alem vorführt und dem sich Inspektor Nassir gegenübersieht, ist reich und vielfältig. Da sind die beiden weiblichen Hauptfiguren, die vielleicht nur zwei Hälften einer einzigen Frau sind und verwirrend vor Nassir Gestalt annehmen, zwei Frauen, die Intelligenz und Leidenschaft in die Gasse bringen, aus dieser aber dann verschwinden. Asa, die – in den eng gesteckten Grenzen ihrer Umgebung – Extrovertierte, Abenteuerlustige, Sinnliche, künstlerisch Veranlagte, die sich immer schon über die Grenzen der Gasse hinausgeträumt hat und dann wohl auch hinaus in diese Welt gelangt, von der sie in ihrem Land, geschweige denn in ihrer Gasse, nie etwas erfahren hat: Europa, Andalusien, westliche Kultur. Daneben Aischa, die Lehrerin und Leserin, die introvertierte, schamhafte und doch radikal emotionale Intellektuelle mit ihrem ganz aufs individuelle Erleben beschränkten Kontakt aus der Gasse hinaus: zu jenem Physiotherapeuten, den sie bei der Behandlung der Folgen eines Verkehrsunfalls in Bonn kennengelernt hatte und von dem sie in neue Welten eingeführt worden war.
Dazu werden eine Unzahl weiterer Frauen ins Blickfeld gerückt: Umm Achmad, die Leichenwäscherin, ist gemeinsam mit ihrem Mann, dem Latrinenreiniger, für die Entsorgung menschlicher Überreste verantwortlich. Die türkische Schneiderin möchte weibliche Reize in der Gasse sichtbar und weibliche Fertigkeiten nutzbar machen. Halima, die Teeköchin, darf als Folkloreelement bei den Festen der globalisierten Oberschicht mitwirken. Das zwangsverheiratete und dann vergessene Mädchen Dschamila, oder Umm al-Saad, die jahrelang von ihren Brüdern eingesperrt wurde und ihren Schmuckbesitz in ihrem Unterleib versteckt hielt, bis hin zur männerverschleißenden Atra, der Tante des Inspektors, die sich laut über den Ehrenmord an ihrer Nichte zu empören wagte.
Ebenso reich ist das Angebot an Männern, mit denen sich Inspektor Nassir auseinandersetzen muss: Von Jussuf, dem Journalisten, der in Asa und in Mekka verliebt ist und am Verlust beider leidet, über Muschabbab, der mekkanischen »Aristokratie« zugehörig, der in einer Art Museum wohnt, das jedoch den Abbruchbulldozern schließlich auch nicht widerstehen kann, bis zu Muadh, dem Sohn des Imams, der den religiös verpönten Beruf des Fotografen erlernt; von Asas Vater Musahim, dem religiösen Saubermann, der von einstigen Heldentaten träumt, jeden Anflug von Schande vertuscht und gleichzeitig seine Tochter verhökert und ein sehr junges Mädchen ehelicht, über Chalil, den einstigen Flieger, der, vom Krebs zerfressen und impotent geworden, die Gasse »ein einziges Netz von Legenden« nennt und diesen amerikanische Actionfilme entgegensetzt, bis zum Bock der Moscheediener, dem heimatlosen Findelkind und jungen Mann, den seine Frustration erst zum Umgang mit Schaufensterpuppen, dann mit religiösen Extremisten treibt.
Und schließlich Chalid al-Sibaichan, der Inbegriff des rücksichtslosen Geschäftsmanns, der sich mit seinem Geld alles kaufen kann – auch den Kommissar und zuvor Nora, die aus der Vielkopfgasse stammt und ihm als Mätresse dient, die er zur Verbesserung des Geschäftsklimas auch einmal ausleiht. Trotzdem ist er auf der Suche nach dem Türen öffnenden und vielleicht auch Existenz legitimierenden, einst in Toledo angefertigten Schlüssel. War der Auftraggeber Jussufs Vater?
Die Suche führt al-Sibaichan nach Südspanien, Andalusien, eine Region, in der Araber und Islam von 711 bis 1492 präsent und lange Zeit dominant waren. Bis heute wird die Nostalgie nach dieser als besonders reich empfundenen Epoche spürbar und immer wieder literarisch verarbeitet. Zu dieser außergewöhnlichen Kultur haben Muslime, Juden und Christen beigetragen. Persönlichkeiten wie der erwähnte Ibn Hasm oder sein von ihm mehrfach geschmähter Zeitgenosse, der jüdische Gelehrte Samuel Ben Nagrila (993–1056), ein Mann, der in der arabischen und der hebräischen Sprache und Kultur gleichermaßen zu Hause war, haben die Form des Schlüssels, den Code, zu ergründen versucht, der verschiedene Türen öffnet. Als Muslim und Jude reichten ihre Verbindungen bis nach Südarabien, wo wiederum einst Salomo Bilkis freite, die Königin von Saba, und Spuren seines Wirkens hinterließ. Auch nach Medina reicht die »jüdische Spur«: von dort vertrieb einst der Prophet Muhammad die jüdischen Bewohner, doch Sarah entkommt, und ihr Sohn Marid wird von einem arabischen Stamm aufgenommen.
Die Suche nach dem »Schlüssel« ist also die Suche nach einer Abstammung aus einer Epoche der Vielfalt, der Aufklärung, der Toleranz zwischen den Gläubigen verschiedener Religionen. Es ist die Suche nach einem Mekka, das über die Gegenwart hinausweist, nach einer Lebensform, die den Glauben mit dem individuellen Glück, auch dem körperlich-sinnlichen Glücksgefühl, vereinigt. Die Suche nach diesem Schlüssel, der alle Türen öffnet, durchzieht und beschwört Raja Alems Roman.
Hartmut Fähndrich