Thomas Wörtche: Haben Modesty und Willie das Haus, in dem Sie heute in Brighton leben, gebaut?
Peter O’Donnell: Unser Haus in Brighton ist zweihundert Jahre alt, echt Regency also. Der Erbauer war Thomas Kemp, ein berühmter Architekt, nach dem später ein Stadtteil in Brighton benannt worden ist – Kemptown. Ich habe keinen Beweis, dass Modesty und Willie zu der Zeit daran beteiligt waren, aber es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass wir ohne ihre Aktivitäten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts heute darin wohnen würden.
Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Exemplare der Modesty-Blaise-Romane weltweit verkauft worden sind?
Nein, ich kann nur grob schätzen. Die Verkaufszahlen sind nicht überwältigend, aber in den vierzig Jahren waren die Romane immer lieferbar und sind in sechzehn Sprachen übersetzt worden. Ich denke, sie müssen mittlerweile Auflagen von einigen Millionen erreicht haben.
In welchen Ländern hat Modesty Blaise die begeistertsten Fans?
Modesty Blaise und Willie Garvin sind in Skandinavien beliebter als in jedem anderen Land, einschließlich des Vereinigten Königreichs. Ich war zwei Mal auf der Göteborger Buchmesse, um Romane und Comicalben zu signieren, und die Leute haben den ganzen Tag Schlange gestanden. So etwas würde hier nicht passieren, aber ich habe keine Ahnung, warum das so ist.
Haben Sie denn eine Erklärung dafür, dass Modesty Blaise noch heute so beliebt ist?
Ich habe es immer vermieden, mir selbst eine derartige Frage zu stellen, denn wenn ich eine Antwort darauf hätte, könnte es mich in Versuchung führen, diesen bestimmten Bestandteil in jede Geschichte einzubauen, und das würde den natürlichen Fluss der Erzählung und der Dialoge stören. Aber jetzt, da ich nicht mehr schreibe, kann es nicht schaden, über diese Frage nachzudenken, und dabei stelle ich fest, dass es keinen einzigen benennbaren Grund dafür gibt, warum Modesty und Willie noch immer beliebt sind. So wie sich ein Bild aus Hunderten von kleinen Pinselstrichen zusammensetzt, so entsteht eine literarische Figur aus Hunderten kleinen Momenten, aus Dingen, die auf bestimmte Weise getan und gesagt werden, die für sich selbst genommen kaum wahrnehmbar sind, aber sich im Kopf des Lesers zu einem Bild zusammensetzen.
Es ist interessant, dass die Fans in ihren Briefen, die sie mir schicken, kaum über Kampfsportarten und Kampfszenen schreiben. Sie sprechen ausnahmslos vom Charakter, von der Persönlichkeit von Modesty und Willie. Diese Leserinnen und Leser empfinden offensichtlich Zuneigung zu Modesty, weil sie so ist, wie sie ist, und dasselbe gilt für Willie. Als würden die beiden für den Leser lebendig werden, genau wie für mich, wann immer ich über sie schreibe oder nachdenke. Sie sind mein halbes Leben lang meine willkommenen Begleiter gewesen, und vielleicht empfinden einige der Fans dasselbe für sie wie ich.
War Modesty Blaise ein Produkt des Zeitgeistes der Sechzigerjahre – basierend auf einer Analyse ebendieses Zeitgeistes – oder ist sie einfach eine Persönlichkeit in ihrer Zeit?
Als ich mit Modesty Blaise angefangen habe, habe ich keine Rücksicht auf irgendeinen Zeitgeist oder feministische Ideen genommen. Ich wollte einfach Geschichten über eine Heldin schreiben, die es mit jedem männlichen Helden auf seinem Gebiet aufnehmen kann. Das ist alles. Ich bin ein Geschichtenerzähler, ein Unterhalter, kein Philosoph, und ich habe keine Botschaft an die Welt. Ich erzähle keine Geschichten, indem ich wohlbemessene Bestandteile zusammenmixe. Ich erzähle sie einfach so, wie sie zu mir kommen.
Modesty Blaise war ein multimediales Phänomen – Comicstrip, Radiohörspiel, Film, Roman, Fernsehen. War das von Anfang an geplant und auch für multimediale Zwecke entworfen, oder ist es einfach passiert?
1962 hat mich ein Redakteur vom Daily Express gebeten, einen Comicstrip zu schreiben. Als ich ihn fragte, was für einen Strip er genau haben wolle, sagte er: »Ich will den Comic, den Sie schreiben wollen.« So hat es mit Modesty Blaise angefangen, und ein paar Monate später habe ich ein detailliertes Exposé für den Strip und ein Skript für die ersten vier Wochen der Geschichte abgeliefert. Es wurde vom Daily Express abgelehnt, kurz darauf jedoch vom Evening Standard übernommen, sehr zu deren späterer Freude, als Modesty Blaise sich als so erfolgreich herausstellte.
Als der Vertrag aufgesetzt wurde, hat mein Anwalt verschiedene Rechte wie Film, Roman und Fernsehen gesichert, aber das war die übliche Praxis, und ich hatte nicht die Erwartung, in ein anderes Medium zu wechseln, bis ein Filmagent auf mich zukam und eine Option kaufte. Das hat die Aufmerksamkeit einiger Verleger erregt. Die meisten von ihnen wollten die Romanrechte kaufen und die Bücher dann von einem »richtigen« Schriftsteller schreiben lassen. Ernest Hecht von Souvenir Press fand jedoch, dass ich die beste Person sei, um über Modesty Blaise zu schreiben, und so wurde er mein Verleger und ist es vierzig Jahre lang geblieben. Ein schlechter Film wurde gedreht, und später gab es zwei gescheiterte Versuche für eine Fernsehserie. Paramount hat einen Pilotfilm produziert, der nicht fortgeführt wurde, und ABC kam nicht über einen ersten Drehbuchentwurf hinaus.
Um es zusammenzufassen: Es gab keinen Masterplan zur Medienerweiterung. Es hat sich alles einfach so ergeben.
Modesty Blaise ist eine starke Person mit einem starken Willen, sie ist sexuell autonom und, wenn es sein muss, gewalttätig. Haben diese Eigenschaften den Beifall von Feministinnen geerntet? Oder sind Sie im Gegenteil beschuldigt worden, Sexist zu sein – und Modesty Blaise ist bloß ein chauvinistischer Traum? Sind Sie ein früher Feminist? Oder mögen Sie einfach starke Frauen?
Ich betrachte mich nicht als Feminist, aber ich glaube, dass den Frauen die gesamte Geschichte hindurch von den Männern ziemlich übel mitgespielt wurde, und ich bin jetzt froh zu sehen, dass sie mehr Gleichberechtigung erlangen. In manchen Kulturen ist das noch immer nicht weit entwickelt, aber zumindest wurde ein Anfang gemacht. Nach dem, was ich gelesen und gehört habe, scheinen Feministinnen Modesty Blaise Beifall zu spenden. Um den letzten Teil Ihrer Frage zu beantworten: Ich mag nicht nur starke Frauen, ich mag Frauen im Allgemeinen und finde sie unendlich faszinierend.
Die Sechzigerjahre wurden vom Kalten Krieg bestimmt – speziell in allen möglichen Thrillern. Aber der Kalte Krieg war nie ein wichtiges Thema für Modesty Blaise, lediglich ein Hintergrundgeräusch. Warum?
Für meinen Zweck erschien mir die Welt der Spionage in ihrem Angebot an unterschiedlichen Plots zu beschränkt, vor allem für ein visuelles Medium wie den Comicstrip. Ich bin immer wieder überrascht, wie oft Modesty für eine Spionin oder Agentin des Britischen Geheimdienstes gehalten wird. Im allerersten Strip erledigte sie einen Sicherheitsjob für Tarrant, weil sie ihm für Willies Leben etwas schuldete. Daraus entstand eine Freundschaft, die mir eine Figur lieferte, die sich meist im Hintergrund hält, und die ich hin und wieder auf eine Weise einsetzen konnte, die wenig mit Spionage zu tun hat. Ich habe fast hundert Comics, elf Romane und zwei Bände mit Kurzgeschichten geschrieben, und Sie werden sich sehr schwer tun, mehr als eine oder zwei Geschichten zu finden, in denen Modesty als Spionin oder Geheimagentin auftritt. In allen anderen Geschichten habe ich für meine Plots die ganze Bandbreite des Verbrechens und der Verbrecher genutzt.
Auch die Oberschurken sind ziemlich bodenständig. Sie wollen natürlich riesige Summen Geld und genießen die Macht – aber sie wollen nie die Welt beherrschen wie so viele andere Gegenspieler der heutigen Superhelden und Helden. Was zu der Frage führt: Sind Modesty und Willie Superhelden oder eher »normale Personen« mit herausragenden Fähigkeiten?
Modesty und Willie sind keine Superhelden, sondern normale Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Lebensgeschichten. Sie wollen die Welt nicht retten, sie geraten einfach in Situationen, in denen sie zum Handeln gezwungen sind, um sich selbst zu retten, oder Freunde oder unschuldige Menschen, die nicht selbst dazu in der Lage sind. Sie sind keine Vigilantentruppe oder Bürgerwehr, die Krieg gegen Verbrecher führt, das überlassen sie den dafür zuständigen staatlichen Organisationen, weshalb meine Plots sie in Situationen bringen müssen, in denen die Staatsmacht nicht in der Nähe ist.
Was ist der Unterschied zwischen dem Entwerfen eines Szenarios für einen Comicstrip und dem Entwerfen eines ganzen Romans?
Ich entwerfe nie eine ganze Geschichte im Voraus. Um ehrlich zu sein, ich kann es nicht. Ich erfinde eine Anfangssituation, fange dann an zu schreiben, um zu sehen, wo es mich hinführt, und mache von da aus weiter. Ein Unterschied zwischen Strip- und Romanplot ist, dass der Strip einen beständigen Fluss visueller Ereignisse benötigt, während der Dialog ohne Bilder, sozusagen pur, funktionieren muss und dabei den Schwung nicht verlieren darf.
Sie haben beides offensichtlich mit großem Erfolg gemacht. Was macht Ihnen bei den beiden Formen jeweils besonders Spaß?
Wenn ich einen Comicstrip schreibe, wünsche ich mir, ich säße an einem Roman und hätte den Raum für Dialoge und die Entwicklung der Figuren. Wenn ich an einem Roman arbeite, wünsche ich mir, ich säße an einem Strip, denn ich beschreibe zwar jedes Panel für den Zeichner, muss mich dabei aber sehr kurzfassen und es ihm überlassen, seine Fähigkeiten zum Einsatz zu bringen.
Ist Schreiben für Sie Vergnügen? Oder harte Arbeit? Die Romane sind so gut lesbar, und nichts ist schwieriger, als den Leser zu unterhalten …
Für mich ist Schreiben harte Arbeit. Ich versuche so zu schreiben, dass der Leser von dieser Anstrengung nichts merkt. Vielleicht finden das andere Schriftsteller leicht, ich nicht. Die Gedanken, die sich in meinem Kopf abspielen, genau auszuformulieren, ist nach meiner Erfahrung die schwierigste aller Aufgaben.
Leisten Sie sich private Späße oder Anspielungen, die Sie in Ihre Texte einbauen?
Ich baue nicht bewusst private Späße in meine Texte ein, aber hin und wieder verwende ich eine Anspielung, die nur für ein paar meiner Leser verständlich ist, ohne sie zu erklären, denn das wäre herablassend.
Einige Ihrer Figuren lesen sich wie Porträts realer Personen – Lucian Fletcher, der Maler in Die Klaue des Drachen zum Beispiel, oder Dr. Giles Pennyfeather in Die Goldfalle … oder liege ich da falsch?
Keine meiner Figuren leitet sich von einer realen Person ab. Sie alle entspringen meiner Fantasie. Es nützt nichts, zu fragen, wie sie dort geboren wurden, denn ich weiß es wirklich nicht. Die beiden, die Sie erwähnt haben, sind gutmütige Kerle, aber nicht sehr fröhlich, vielleicht sind sie sogar Spiegelbilder von mir selbst. Ich sage das ganz im Ernst. Der Humor in den Geschichten kommt aus den Figuren heraus, nicht aus mir.
Es gibt immer sehr viel ironischen Humor in den Modesty-Blaise-Romanen. Wie ernst – oder besser: realistisch – nehmen Sie die Abenteuer von Modesty und Willie?
Ich schreibe nie ironisch. In den Modesty-Geschichten bewege ich mich oft an der Grenze des Möglichen, aber ich überschreite diese Grenze nie. Das einzige unmögliche Element ist, dass zwei Menschen in ihrem Leben mehr als hundert solcher Abenteuer erleben. Aber das ist schriftstellerische Freiheit. Jedes Abenteuer für sich genommen ist möglich.
In einem früheren Interview erwähnen Sie, dass alle Ihre großartigen Schurkengestalten möglicherweise aus den Tiefen Ihres Unterbewusstseins gestiegen sind, aber – wenn das so sei – Sie darüber lieber nicht mehr wissen möchten. Nun, ich möchte nicht in Ihrer Seele, Ihrem Geist und Ihrem Herzen herumstochern. Dennoch: Woher haben Sie all diese sehr schrulligen Damen und Herren genommen? Aus der Realität? Von Leuten, die Sie kannten und nicht mochten? Oder aus der bloßen Fantasie?
Ich kann mich nur wiederholen. Meine Schurken kommen aus meiner Fantasie. Vielen Kritikern hat die Vielfältigkeit meiner Schurken gefallen, deshalb glaube ich, dass ich eine bizarre Gabe habe, sie mir auszudenken. Vielleicht ist es ein besonderes Geschick, Ideen zu verbinden. Ich sehe vielleicht in der Zeitung etwas über Siamesische Zwillinge und male mir aus, wie es zwei voll ausgewachsenen Siamesischen Zwillingen in einem Kampf ergehen würde. Dann plötzlich kommt die einzigartige Idee, dass sie getrennt worden sind und dass sie sich hassen, sie aber verrückt werden, wenn sie nicht verbunden sind, sodass sie einen Lederriemen tragen müssen, der sie an der Schulter zusammenhält. Daraus entstehen die schrecklichen Zwillinge Lok und Chu in Operation Säbelzahn. Ich sage aber nicht, dass es wirklich so passiert ist. Ich habe keine Ahnung.
Wo ist Peter O’Donnell seinen Figuren und Geschichten am nächsten? In ihren Vorstellungen von Freundschaft und Loyalität?
Ich führe diese Themen nicht bewusst ein, aber Freundschaft und Loyalität und Mut in der Not sind Qualitäten, die ich sehr schätze, und ich denke, das geht aus dem, was ich schreibe, hervor.
Über den Joseph-Losey-Film und die arme Monica Vitti müssen wir wohl nicht reden – aber die Filmmusik von John Dankworth war doch klasse, oder? Tempi passati – aber hat der Film dem Comicstrip und den Romanen geschadet?
Ich glaube nicht, dass der Film den Romanen sehr geschadet hat. Er hat aber auch nichts Gutes bewirkt. Bei der Dankworth-Filmmusik stimme ich Ihnen zu. Die war sehr gut.
Haben Sie den neuen Modesty-Blaise-Film gesehen, sozusagen die Vorgeschichte, und wenn ja, hat er Ihnen gefallen?
Ja, ich habe die DVD von My Name is Modesty. Ich wusste nichts von diesem Projekt, bis es abgeschlossen war, aber angesichts dessen, dass es in drei oder vier Wochen zusammengeschustert worden ist, denke ich, dass alle Beteiligten sehr gute Arbeit geleistet haben.
Sie haben vor Kurzem Ihren fünfundachtzigsten Geburtstag gefeiert, und Sie schreiben seit den Dreißigerjahren – haben Sie wirklich aufgehört zu schreiben? Oder nur mit Modesty Blaise?
Ich habe meine erste Geschichte verkauft, als ich sechzehn war und noch zur Schule ging. Meinen letzten Roman habe ich 1996 geschrieben, und 2001 habe ich ganz aufgehört zu schreiben. Die letzte Episode der letzten Geschichte erschien zufällig an meinem Geburtstag in jenem Jahr.